Doris Schäfer-Noske: Alfred Rosenberg galt als Chefideologe der Nazis und war ein enger Vertrauter von Hitler. Zahlreiche rassenideologische Schriften hat er verfasst. Im Zweiten Weltkrieg unternahm er mit seinem Einsatzstab Beutezüge in ganz Europa – vor allem zum Raub von Kulturgütern. Und als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete war er maßgeblich am Holocaust beteiligt.
Seine Tagebücher aus den Jahren 1934 bis 1944 dienten bei den Nürnberger Prozessen als Beweismittel. Rosenberg wurde als ein Hauptschuldiger zum Tode verurteilt und hingerichtet. Danach hat Ankläger Robert Kempner die Tagebücher in die USA geschmuggelt und sie galten als verschollen. Doch vor zwei Jahren tauchten sie wieder auf und nun haben Historiker eine kritische Gesamtausgabe der Tagebücher erarbeitet, die sie heute Abend vorstellen.
Einer dieser Historiker ist Frank Bajohr vom Zentrum für Holocaust-Studien in München. Frage an ihn: Herr Bajohr, was erfährt man denn aus den Tagebüchern Neues über Rosenberg?
Frank Bajohr: Normalerweise kennt man ja auch in der Forschung Alfred Rosenberg vor allen Dingen als Chefideologen - das hatten Sie ja schon erwähnt -, der mit der Fusion von Antisemitismus und Antibolschewismus ganz wichtige weltanschauliche Grundlagen für den Nationalsozialismus, insbesondere für den Vernichtungskrieg gegen den Osten gelegt hat. Hier im Tagebuch wird viel stärker der Politiker Alfred Rosenberg kenntlich, der politische Praktiker, der nicht zuletzt in der antijüdischen Politik des Dritten Reiches wichtige Funktionen hatte.
Sie hatten den Raub von Kunst- und Kulturgütern schon vermerkt, den er mit nahezu kindlicher Freude in seinem Tagebuch erwähnt. Man kann auch sehen seine außenpolitischen Aktivitäten, mit denen Rosenberg versuchte, eine antisemitische Internationale zu formen, also eine enge Zusammenarbeit von Rechtsradikalen und Nationalisten und Antisemiten in Europa, und diese Internationale sollte eine Art Gegenentwurf zum Gedanken der Vereinten Nationen sein. Und schließlich als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete - auch das wird im Tagebuch deutlich - hat er vor allem im Frühjahr 1941 den Blick der NS-Führung auf diesen Ostraum gelegt als zentralen Schauplatz der sogenannten Endlösung.
"Man erfährt etwas über Techniken der Macht"
Schäfer-Noske: Er war ja ein enger Vertrauter Hitlers. Was erfährt man denn in seinen Tagebüchern über den Kreis um Hitler?
Bajohr: Man erfährt einerseits sehr viel über die Rivalitäten und Streitigkeiten innerhalb dieser Führung und die Kompetenzrivalitäten vor allem, die im Tagebuch ihren Ausdruck in zahllosen Verbalinjurien finden, die Rosenberg auf Konkurrenten anwendet. Doch zugleich wird die alles überragende Stellung Hitlers deutlich, der, wie man dem Tagebuch gut entnehmen kann, sehr erfolgreich darin war, eine besondere persönliche, auch emotionale Bindung zu seinen Satrappen aufzubauen, indem er sie seiner besonderen Wertschätzung versicherte, zusätzlich sich noch abwertend über deren Konkurrenten äußerte, also zum Beispiel gegenüber Rosenberg abwertend gegenüber Joseph Goebbels äußerte, was umgekehrt auch bei Goebbels der Fall war, bei dem er sich abwertend über Rosenberg äußerte.
Man erfährt also etwas über Techniken der Macht und auch die Art und Weise, in der Hitler Bindungen aufbaute, personaler Art, und doch seine Satrappen sehr kunstvoll gegeneinander ausspielte.
"Vieles wird eher verschlüsselt angedeutet"
Schäfer-Noske: Inwieweit erfährt man denn, wie stark Rosenberg am Holocaust beteiligt war?
Bajohr: Das wird aus zahlreichen kleineren Bezügen klar und an zahlreichen Äußerungen. Allerdings wird auch klar, für wie selbstverständlich und alltäglich Rosenberg das hielt, was sich da vollzog. Häufig taucht es eher nebenbei auf. Ein Zitat: "Jetzt, wo Juden und Kommunisten ausgemerzt sind, lebt das Volk auf", schreibt er über die Verhältnisse in Lettland im September 1941.
Vieles wird aber sozusagen eher verschlüsselt angedeutet. Als er von Hitler bestallt wird als Reichsminister, Anfang April 1941, gibt es da erste wichtige Besprechungen im Vorfeld. Da schreibt er darüber, dass "Millionen einst der Durchsetzung dieses Auftrages", den er da bekommen hat, "fluchen werden."
Und man kann sich ungefähr vorstellen, was sich dahinter verbirgt, mit den Millionen, die darüber fluchen werden, dass er jetzt diese Aufgabe bekommen hat. Da ist ganz zweifelsohne auch über Details des Massenmordes oder des geplanten Vernichtungskrieges gesprochen worden. Im Tagebuch bildet sich das aber vielfach in Form dieser eher verschlüsselten Bemerkungen ab.
Schäfer-Noske: Welche Bedeutung haben denn nun diese Tagebücher für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus? Gibt es da Teile der Geschichte, die nun neu geschrieben werden müssen?
Bajohr: Das würde ich nicht sagen. Die Bedeutung des Tagebuchs liegt vor allem darin, dass sie eine sehr persönliche und subjektive Perspektive eines führenden Nationalsozialisten auf alle Felder von Herrschaft und Politik abbilden, und das ist ja relativ selten, weil sich die führenden Nationalsozialisten als "Männer der Tat" begriffen und nicht zu innehaltendem Nachdenken oder gar Reflexion neigten.
Außer dem Rosenberg-Tagebuch haben wir ja nur noch die Tagebücher von Joseph Goebbels, und da sich Rosenberg und Goebbels in inniger Abneigung verbunden fühlten, bieten sich jetzt zum Beispiel sehr reizvolle vergleichende Möglichkeiten und wir finden zahlreiche Dinge, in denen zum Beispiel beide denselben Sachverhalt beschreiben, aber in diametral gegensätzlicher Form.
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