57 Jahre nach der umjubelten Unabhängigkeit ist das politische Kapital des algerischen Regimes offenbar vollkommen aufgebraucht. Nicht aber sein Machtwille, nicht seine wirtschaftlichen Interessen. Das Gesicht dieses Regimes ist der 82-jährige Abdelaziz Bouteflika, seit 20 Jahren Präsident Algeriens. Aber Bouteflika konnte sich nur aus einem Grund so lange an der Macht halten, meint Louise Hamadouche, Politologin an der Universität Algier. Weil er es nie wagte, die Position der Armee zu gefährden:
"Es scheint also, als gehe die Allianz zwischen Armeespitze und Präsident so lange weiter, wie das Regime Bouteflika nicht das System an sich gefährdet."
Dieses System hat vor allem ein Fundament: Es ist die Armee. Ihre Kämpfer haben 1962 die Kolonialmacht Frankreich bezwungen. Für dieses historische Verdienst hat sich das Militär selbst einen Heiligenschein verliehen.
"Das ist ein Mafia-System"
Aber nicht nur das Militär: Die Partei FLN, die Nationale Befreiungsfront, ebenfalls. Bouteflika ist ihr Ehrenvorsitzender. Auch die FLN begründet ihren Machtanspruch mit ihrer Rolle im Unabhängigkeitskampf.
Die Frage ist: Was haben Militär und FLN daraus gemacht? Die Antwort vieler Demonstranten fällt so aus:
"Das ist ein Mafia-System, das das Land und die Hoffnungen der algerischen Jugend ruiniert hat."
In den Augen der Protestbewegung hat sich dieses System vor allem an den Reichtümern aus dem Erdöl- und Erdgas-Export bereichert. Obendrein habe das Regime Meinungsfreiheit, persönliche Entfaltungschancen und Zukunftsperspektiven zerstört. Der Frust über all das habe sich lange aufgestaut, sagt Said Saadi, Oppositionspolitiker und jetzt eine der Führungsfiguren der Proteste.
"Das sind nicht einfach Demonstrationen. Wir erleben die Wiedergeburt einer Nation."
Reformprozess ohne Vertreter der jetzigen Machthaber
Aber wie soll diese "Wiedergeburt" konkret vonstatten gehen. Gestern haben verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft ein Konzept vorgelegt. Darin wird die Gründung eines "Hohen Komitees für den Übergang" vorgeschlagen. Darin sollen Persönlichkeiten mit hoher moralischer Autorität und öffentlicher Akzeptanz vertreten sein. Die Aufgabe des Komitees: Es soll den Übergang zu einer zweiten algerischen Republik organisieren.
Im Namen des amtierenden Präsidenten Bouteflika wiederholte dagegen das Regime ebenfalls gestern seine bereits bekannten Vorschläge: Bildung einer Übergangsregierung und einer "nationalen Konferenz". Die soll über weitgehende Reformen und eine neue Verfassung beraten.
Der Unterschied zwichen beiden Konzepten ist: Die Zivilgesellschaft will den Reformprozess ohne Vertreter der jetzigen Machthaber anpacken. Das Regime möchte diesen Prozess hingegen unter seiner Kontrolle behalten.
Der Schlüssel liegt beim Militär
Der Schlüssel liegt wahrscheinlich beim Militär. Armeechef Gaid Salah ließ gestern verbreiten, angesichts der - so wörtlich - "heiligen Allianz von algerischem Volk und der Armee" gebe es für alle Probleme eine Lösung - und zwar ohne Einmischungen aus dem Ausland.
Für Louise Hamadouche, Politologin an der Universität Algier, steht nur eines fest:
"Schwer vorstellbar, dass in naher Zukunft Entscheidungen über eine wie auch immer geartete Übergangsphase ohne das Militär getroffen werden."
Das Problem ist allerdings: Die Armee ist der zentrale Pfeiler des alten Regimes. Wie sie sich mit der Protestbewegung verständigen und gleichzeitig ihren Führungsanspruch verteidigen könnte - darin liegt Algeriens Dilemma.