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60 Jahre nach der Unabhängigkeit
Frankreich und Algerien - Scheidung unmöglich

Auch 60 Jahre nach der algerischen Unabhängigkeit sind die Verbindungen zu Frankreich noch immer eng. Doch die politische Situation in Algerien ist instabil. Und das könnte über kurz oder lang auch in Frankreich wieder zu einem Politikum werden.

Von Birgit Kaspar und Dunja Sadaqi  |
Algerier gedenken den Opfern vom Massaker von Paris von 1961. Die Pariser Polizei ging damals brutal gegen eine nicht genehmigte, aber friedliche Demonstration mehrerer zehntausend Algerier vor.
Algerier gedenken den Opfern vom Massaker von Paris von 1961. Die Pariser Polizei ging damals brutal gegen eine nicht genehmigte, aber friedliche Demonstration mehrerer zehntausend Algerier vor. Die Wunden zwischen beiden Ländern von damals sind noch lange nicht geheilt. (imago images / Hans Lucas)
"Oh Frankreich, die Zeit der Unterdrückung ist vorüber. Wir schlossen sie wie ein Buch. Oh Frankreich, die Zeit der Abrechnung ist gekommen."
So klingt bis heute Algeriens Hymne. 60 Jahre ist es nun her, dass Algerien nicht mehr Teil Frankreichs ist, dass Paris seinen Widerstand gegen die Unabhängigkeit aufgab - nach acht Jahren Krieg, nach Jahren der Folter, der Zwangsumsiedlungen und brutaler Militäraktionen.

Der Krieg hallt bis heute nach

Ein Krieg, der auch in Frankreich selbst geführt wurde. Hier verübten die algerische Nationale Befreiungsfront FLN und die OAS Attentate, jene Terrororganisation, die bis zum Schluss für den Erhalt der Algérie française kämpfte.
Bis heute hallt die Zeit nach. Algerien und Frankreich – eng verknüpft und doch getrennt.
Im Jahr 1962 ziehen Menschenmassen durch die Straßen Algiers: Frauen, Männer, Kinder. Sie jubeln, klatschen, tanzen und schwenken die neue grün-weiße Fahne mit dem roten Halbmond.
Jahrelang fand hier, in den engen Gassen der Kasbah, der Altstadt, ein blutiger Krieg statt. In diesem Krieg kämpften Franzosen gegen Algerier, Algerier gegen Algerier, Franzosen gegen Franzosen. Gut 130 Jahre war Algerien ein Teil Frankreichs - mit dem Jahr 1962 war das dann offiziell vorbei. Die Gefühle am Unabhängigkeitstag? Gemischt, erinnert sich auch Soziologie-Proffessor Nacer Djabi.
„Es war eine Mischung aus Stolz, Freude, Glück. Aber gleichzeitig waren es auch die Familiendramen, Todesfälle, vor allem Attentate. Natürlich haben wir alles getan, damit die Franzosen gehen. Wir haben viel durchgemacht, Massaker, Bombenangriffe, viele Tote. Es gibt keine algerische Familie, die nicht einen Sohn, einen Vater verloren hat.” 
So wie Nacer Djabi selbst. Wenige Monate vor der Unabhängigkeit wird sein Vater getötet. Nach französischen Angaben sterben bis zu eine halben Million Algerier. Algerien spricht von mehr als 1,5 Millionen Toten. Was der Unabhängigkeit folgen sollte, hat viele enttäuscht. Algerien wird nicht zur erhofften Demokratie werden, sondern schleichend zur Militärdiktatur. 

In Frankreich waren sie nicht willkommen

Die Stimmung ist bedrückt am 5. Juli 2021 an der Mauer der Verschwundenen in Perpignan, im Südwesten Frankreichs. Rund 50 Pieds-noirs sind hier zusammengekommen. Franzosen, die vor der algerischen Unabhängigkeit jenseits des Mittelmeers lebten.
In der einzigen Kolonie Frankreichs, die von 1848 bis 1962 integraler Bestandteil der Nation war. Suzy Simon-Nicaise, Präsidentin des Cercle Algérianiste, ein Verein von Pieds-noirs.
"Jedes Jahr treffen wir uns vor diesem Ehrengrabmal, um all der Franzosen zu gedenken, die während des Algerienkrieges spurlos verschwunden sind, insbesondere derer, die am 5. Juli 1962 in Oran getötet wurden."
Bei dem Massaker an Pieds-noirs im algerischen Oran wurden zwischen 365 und mehr als 1000 Menschen getötet. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute unbekannt und die Verantwortung dafür bleibt politisch umstritten.
Der Tag der algerischen Unabhängigkeit 1962 war für die Mehrheit der Pieds-noirs ebenso wie für die Harkis – Algerier, die die französische Armee während des Algerienkrieges unterstützten -  ein schwarzer Tag.
Diejenigen, die bis dahin Algerien noch nicht verlassen hatten, bemühten sich um eine baldige Flucht. In Frankreich waren sie allerdings nicht willkommen. Viele Pieds-noirs landeten zunächst in Notunterkünften, die meisten Harkis wurden oft jahrelang in Lager gepfercht.

De Gaulle hoffte auf enge Zusammenarbeit

Die meisten Franzosen waren hingegen erleichtert über das Ende des Krieges. Man wollte nach vorne blicken. Nur einige hochrangige Militärs waren verbittert. Ebenso wie die Anhänger der OAS.
Präsident Charles de Gaulle war überzeugt, in der Algerienfrage das Notwendige getan zu haben.
De Gaulle hatte sich eine langfristige, enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten vorgestellt. Sie wurde auch zunächst umgesetzt, betont Xavier Driencourt, ehemaliger französischer Botschafter in Algier:
"Es hat sie gegeben, diese enge Kooperation nach 1962. Frankreich hat sehr umfangreiche finanzielle Hilfen zur Verfügung gestellt, es hat eine große Welle der von Frankreich entsandten Entwicklungshelfer gegeben, die im algerischen Wirtschaftsleben, in der Politik und im sozialen Bereich eine wichtige Rolle gespielt haben."
Von besonderem Interesse für Paris waren dabei die Ausbeutung des von den Franzosen 1956 entdeckten Erdöls und die Fortsetzung der französischen Nukleartests in der Sahara. 
Von 1960 bis 1966 testeten die Franzosen in der algerischen Wüste Atombomben und katapultierten sich damit in die Liga der Atommächte. Mit den Verträgen von Evian hatte Algerien diesen Tests zugestimmt.

Algerier leiden noch heute an nuklearer Strahlung

Bis heute leiden die Bevölkerung in der Testregion und Soldaten an den Spätfolgen der nuklearen Strahlung, erklärt der über 50-jährige Brahim. Er kommt aus Guezzam im Süden Algeriens an der Grenze zu Niger. Rund 600 Kilometer von dem Ort entfernt, wo die Franzosen in den 1960er-Jahren Atomtests durchführten. 
"Es gibt Leute, die bis heute unter Behinderungen leiden, es gibt Menschen, deren Kinder unter den Folgen der Explosionen leiden. Die Krankheiten sind zahlreich, vor allem Krebs."
Bis zu 30.000 Menschen sollen Opfer der französischen Atomversuche geworden sein, Algerier, französische Zivilisten und Soldaten. Konkret ermittelte Zahlen gibt es nicht. Bis heute soll an einigen Orten der Gegend die Radioaktivität mehr als 20 Mal höher sein als internationale Grenzwerte zulassen.
Eine Einheit der Harkas, von den Franzosen rekrutierte Muslime für den Kampf gegen die algerischen Rebellen, marschiert 1957 durch eine Straße in Algier.
Eine Einheit der Harkas, von den Franzosen rekrutierte Muslime für den Kampf gegen die algerischen Rebellen, marschiert 1957 durch eine Straße in Algier. (dpa / picture-alliance / AFP)
Patrice Bouveret ist Direktor des Rüstungs-Observatoriums und Mitglied der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen. Er setzt sich als Nuklearexperte dafür ein, dass Frankreich und Algerien eng zusammenarbeiten, um verstrahlte Gebiete zu sanieren.
"Frankreich ließ seinen gesamten Abfall an Ort und Stelle zurück, vergraben im Sand - Flugzeuge, Motoren, viele Dinge, radioaktive Materialien. Das wurde zurückgelassen und hat die Umwelt und die Bevölkerungen weiter verseucht, weit über die französische Präsenz in der Sahara hinaus."

Die Strahlenopfer warten weiterhin auf Unterstützung

Seit 2010 regelt das französische Gesetz Morin die Wiedergutmachung für Algerier, die von Krankheiten infolge einer Verstrahlung in den atomaren Testregionen betroffen sind. Bisher hat aber nur ein algerischer Armeeangehöriger von einer solchen Zahlung profitiert. Insgesamt 52 Anträge wurden gestellt. Das ist wenig. Aber weder die französische noch die algerische Regierung zeigten sich den Betroffenen gegenüber besonders hilfreich. Algier favorisiert eine pauschale Entschädigung des französischen Staates an die Adresse der algerischen Regierung, Paris hält jedoch an einer individuellen Entschädigung fest.  Und während das diplomatische Tauziehen fortgesetzt wird, warten die Strahlenopfer weiterhin auf Unterstützung.
Auch nach 60 Jahren ist keine Normalisierung der Beziehungen in Sicht. Frankreich sei auf die ein oder andere Weise in Algerien geblieben– und Algerien in Frankreich, sagt Christian Chesnot, Experte für die arabische Welt bei Radio France und Buchautor:
"Das Problem ist, Algerien und Frankreich sind vergleichbar mit einem alten Ehepaar, das sich nicht scheiden lassen kann. Also muss man unter dem gemeinsamen Dach bleiben. Da sind die historischen Beziehungen, die geographischen Beziehungen – Marseille ist 800 Kilometer von Algier entfernt – die menschlichen Beziehungen, denn man spricht von rund zehn Prozent der französischen Bevölkerung, die eine Verbindung zu Algerien hat. Hinzu kommen Zusammenarbeit in der Wirtschaft und in Sicherheitsfragen. Diese Bande lassen sich nicht einfach durchtrennen."
Algerien ist heute, nicht nur für Frankreich, interessanter denn je. Wegen seiner Energievorkommen. Vor allem dem Erdgas aus der Wüste.  
"Algerien hat ein sehr großes Potential, vor allem bei dem nicht konventionellen Erdgas - beim Fracking. Da verfügen wir mit 20.000 Milliarden Kubikmeter über die drittgrößte Reserve weltweit."
Das sagt der algerische Energieexperte Mourad Preure. Afrikas größter Flächenstaat ist der zehntgrößte Gasproduzent der Welt, das Staatsunternehmen Sonatrach, das in Algerien Öl fördert, Afrikas reichstes Unternehmen. Gerade durch die europäische Energiekrise rückt der nordafrikanische Staat besonders in den Fokus. Das französische Mineralölunternehmen Total hat Milliarden-Verträge mit Sonatrach.

Algerien und seine Rohstoffe

Die riesigen Erdöl- und Erdgas-Vorkommen spülten jahrzehntelang Milliarden in die Staatskasse. Wohin das Geld geflossen ist, weiß niemand so recht. Experten sagen, in die Taschen der korrupten politischen Elite im Land. Das Problem: Wenn der Ölpreis fällt, erlahmt auch die Wirtschaft. Das bekommen dann alle zu spüren - und es führt zu Protesten.
Das algerische Regime steht seit Jahren am Pranger - die Massenprotestbewegung Hirak ging in den vergangenen Jahren gegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen auf die Straße, das Regime antwortete mit Repressionen und Verhaftungen. Wegen des Kriegs in der Ukraine steigen zwar die Rohstoffpreise - die Energiekrise spült gleichzeitig aber auch dem Regime mehr Geld in die Kassen.
Aber: Algeriens Führung unter Präsident Abdelmadjid Tebboune steht unter Druck, insbesondere wegen der hohen Arbeitslosigkeit und enttäuschter Hoffnungen auf einen politischen Wandel. Ein Wandel, den man auch in Paris gerne gesehen hätte, allerdings nicht um jeden Preis. Viele junge Menschen sind ohne Arbeit. Und das hat oft noch nicht einmal damit zu tun, dass sie schlecht oder gar nicht ausgebildet sind, erzählt auch dieser junge Algerier.
„Ich hab vier Jahre lang studiert und heute mache ich was ganz Anderes. Ich hab an einer Hotelrezeption gearbeitet und in einer Konditorei. Ich hab in meiner Branche mal was gefunden, aber es war schlecht bezahlt. Vielen meiner Freunde geht es genauso.“ 
Hogra, Verachtung, - davor fliehen die jungen Algerier. Oftmals in überfüllten, unsicheren Flüchtlingsbooten Richtung Europa. Ihr naheliegendes Ziel: Frankreich.
Daran hat sich seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 nicht viel geändert. Damals hatte man in Frankreich erwartet, dass viele der rund 500.000 im Hexagon lebenden Algerier nun in ihre Heimat zurückkehren würden. Doch stattdessen strömten immer mehr Algerier nach Frankreich. Bis Paris 1965 die Reisefreiheit erschwerte. 

"Das Leben in Algerien ist eine Misere"

Heute leben offiziell rund zwei Millionen algerische Immigranten in Frankreich. Plus diejenigen, die inzwischen oder seit ihrer Geburt Franzosen sind. Viele von ihnen sind vollständig integriert, andere haben gemischte Gefühle den Franzosen gegenüber. Ein gewisses gegenseitiges Misstrauen prägt das Zusammenleben. Hinzu kommen all jene, die sich illegal in Frankreich aufhalten.
Charles de Gaulle 1962 auf Truppenbesuch in Algerien.
Charles de Gaulle 1962 auf Truppenbesuch in Algerien. (dpa / picture alliance / Keystone Pictures USA)
Magyd Cherfi, Musiker und Schriftsteller algerischer Abstammung, ist nicht überrascht, dass immer noch Algerier nach Frankreich kommen wollen, obwohl sie wissen, dass sie hier eher nicht willkommen sind.
„Heute mehr denn je, denn das Leben in Algerien ist eine Misere. All die jungen Leute, sie suchen Freiheit und Reichtum. Selbst wenn das nicht die Realität ist. Man sagt ihnen, dass es hier keine Jobs gibt. Aber arbeitslos in Frankreich ist paradiesisch verglichen damit, im Alter von 20 Jahren in Algerien festzusitzen. Sie haben keine Hoffnung, dort ein interessantes Leben zu führen. In Frankreich gibt es immerhin Möglichkeiten.“
Die französische Regierung versucht, vornehmlich aus innenpolitischen Gründen, diesen Zustrom zu verringern. Das Kontingent für Einreisevisa wurde drastisch gekürzt. Ein schwieriges Thema zwischen beiden Staaten. Denn die Regierung in Algier sehe Visa als Überdruckventil, um die algerische Misere zu entschärfen, so Experte und Buchautor Christian Chesnot. Sogenannte Rücküberweisungen der Diaspora seien ein echter Wirtschaftsfaktor. 
"Visa-Beschränkungen treffen einen ganz besonders empfindlichen Nerv. Einerseits sind da die ganz normalen Algerier, die nach Frankreich wollen. Aber da ist auch die algerische Nomenklatura, die Führungsschicht des Regimes, die sich in französischen Krankenhäusern behandeln lässt, deren Kinder in Frankreich studieren, die hier Immobilien kaufen oder besitzen."

Immigration aus Algerien ist ein großes Streitthema

Praktisch bedeuten Visabeschränkungen allerdings nicht, dass tatsächlich weniger Algerier und Algerierinnen nach Frankreich kommen, erklärt Ex-Botschafter Xavier Driencourt. Es gebe legale Umwege:
"Und die illegale Immigration, die sogenannten Harragas, Leute die in Booten das Mittelmeer nach Spanien überqueren, um nach Frankreich zu gelangen."
Immigration - insbesondere aus dem Maghreb und vor allem aus Algerien – ist eines der großen politischen Streitthemen in Frankreich. Argumentativ oft direkt verbunden mit den Problemen Islamismus und Terrorismus. Auch deshalb sorgt sich Paris um Stabilität in Algerien. Denn wenn dort Chaos herrschte, dann wäre Frankreich unmittelbar von einer starken Fluchtbewegung betroffen. Christian Chesnot:
"Ein gefürchtetes Szenario in Paris. Deshalb hat Präsident Macron 2017 in Algier deutlich gemacht, dass die sozioökonomischen Probleme in Algerien ihn direkt beträfen. Denn solange die Jugendlichen dort unglücklich seien und keine Arbeit fänden, wollten sie nach Frankreich. Wenn die algerische Regierung diese Probleme nicht bei sich löse, dann habe Macron sie in den französischen Vorstädten."
Bei einem Bad in der Menge im Zentrum von Algier fordert ein junger Algerier den französischen Präsidenten heraus: Frankreich solle endlich zur Geschichte der Kolonialzeit stehen. Das sei doch längst geschehen, erwidert der französische Präsident:
„Wer vermeidet hier etwas? Vermeide ich vielleicht auszusprechen, was geschehen ist? Diese Geschichte zwischen uns existiert, aber ich bin nicht ihr Gefangener. Sie persönlich haben die Kolonialzeit gar nicht gekannt. Warum wollen sie mich jetzt damit belästigen? Ihre Generation sollte in die Zukunft blicken.“
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf einer Pressekonferenz in Algerien.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 auf einer Pressekonferenz in Algerien. (imago / ZUMA Press)

Die Gräben sind noch tief

In ähnlich offener Weise sprach Macron mit den algerischen Entscheidungsträgern, denn er wollte die Zusammenarbeit auf eine neue Grundlage stellen. Das kam in Algier nicht gut an. Schon vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten hatte Macron die Kolonialisierung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Mit zahlreichen symbolträchtigen Gesten versuchte er den Weg zu einem Freundschaftsvertrag zu ebnen. Gesten, die in Frankreich von der politischen Rechten verurteilt wurden. Auch aus Algerien erhielt Macron keine Unterstützung. Christian Chesnot:
„Da war eine Mauer. Der tiefe Staat in Algerien, das Regime, wollte keine Dynamik der Versöhnung mit gegenseitigen Gesten. Aus algerischer Sicht kann man den Kolonialherren und die Kolonisierten nicht auf eine Ebene stellen. Niemals. Frankreich müsste sich offiziell entschuldigen, Reue zeigen bis hin zur Zahlung von Wiedergutmachung.“
Frankreich hingegen stelle die Anerkennung der historischen Fakten in den Vordergrund, eine Art mea culpa, aber eine offizielle Entschuldigung komme nicht in Frage, sagt Ex-Botschafter Driencourt: 
„Algerien, das waren französische Departements, das war keine normale Kolonie. Das war 132 Jahre lang die Verlängerung Frankreichs auf der anderen Seite des Mittelmeers. Reue für französische Departements?“
Er glaube nicht, dass irgendeine französische Regierung soweit würde gehen wollen.
„Algerien, das ist auch französische Innenpolitik, und Sie sehen all die Debatten in Frankreich, die Bedeutung der Pieds-noirs insbesondere im Süden. Algerien ist selbst 60 Jahre nach der Unabhängigkeit ein sehr sensibles Thema in Frankreich.“
"Hau ab, FLN," riefen Demonstranten bei den Massenprotesten 2019 laut. Eine Forderung, die auch in der algerischen Diaspora in Frankreich lautstark unterstützt wird. Dabei waren das Militär und die Nationale Befreiungsfront FLN diejenigen, die Algeriens Unabhängigkeit einst erkämpft hatten. Das Vertrauenskapital bei der Bevölkerung ist schon lange aufgebraucht. 

Bouteflika ist weg, mehr Demokratie gibt es nicht

Die algerische Führung: Ein korruptes Netzwerk von Geschäftsleuten, Militärs und Polizei, produziert selbst tausende einheimische Migranten Richtung Europa, weil es massiv Regimekritiker und Meinungsfreiheit unterdrückt. So sehen das zumindest vor allem Regimekritiker.
Zwar hat die Protestbewegung es geschafft, eine fünfte Amtszeit des inzwischen verstorbenen Langzeitpräsidenten Abdelaziz Bouteflika durch Massenproteste zu verhindern - mehr Demokratie gibt es aber nicht.
Algeriens neuer Präsident Abdelmadjid Tebboune versprach bei Amtsantritt Ende 2019 zwar Besserung, Dialogbereitschaft und Reformen. Davon hat er bislang aber wenig eingelöst, im Gegenteil. Politikwissenschaftlerin Louisa Dris-Aït Hamadouch warnt: Das repressive algerische Regime sei für den europäischen Partner Frankreich kein Garant für Stabilität, solange in Algerien Menschenrechte unterdrückt würden.
„Diese Länder denken, dass Stabilität sicherer ist als Demokratie. Regime beibehalten, die nur schwach legitimiert sind, produziert Krisen - denn das ist es, was diese Regime hervorrufen. Sie führen mittel- und langfristig zu zwei Dingen: Zur Instabilität dieser Länder. Zweitens wird diese Instabilität nach Europa exportiert.”
Genau das will die Regierung in Paris verhindern. Doch hat sie in den vergangenen Jahren deutlich an Einfluss verloren. Christian Chesnot, Experte bei Radio France für die arabische Welt und Buchautor:
„Wegen all der Querelen, weil die historischen Probleme nie ausgeräumt wurden. Aber auch weil es neue Konkurrenten gibt: die Russen, die Chinesen, die Türken und sogar die Italiener und Spanier. Sie drängen auf den Markt und nehmen den Franzosen Anteile weg. Frankreich wird also nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch zurückgedrängt.“
Wegen der erhöhten Gaspreise wird sich Algeriens Regime seinen sozialen Frieden womöglich eine Zeit lang wieder erkaufen können. Aber es bleibt eine Frage der Zeit, ob und wann Algeriens explosives Gemisch aus Unterdrückung und Wirtschaftskrise auch in Frankreich wieder zum Politikum wird.