Vierzig Jahre hat es gedauert, bis der damalige französische Staatspräsident Jacques Chirac 2002 am Pariser Quai Branly das erste offizielle Denkmal zum Algerienkrieg einweihte. Mehr als sonderbar für einen der blutigsten Kolonialkonflikte des 20. Jahrhunderts, der die französische Gesellschaft bis heute entzweit und gerade zu Wahlkampfzeiten von der Politik immer wieder gerne instrumentalisiert wird. Trotz seiner äußersten Brutalität, seiner Menschrechtsverletzungen und Hundertausenden Opfer wurde der algerische Unabhängigkeitskrieg von 1954-1962 von einem Großteil der französischen Bevölkerung geradezu ignoriert. Im Frankreich der Fünfzigerjahre hatte man anderes zu tun: der Sieg gegen die Deutschen, die Vorstellung von Frankreich als Weltmacht, der industrielle Aufschwung, die Mär von der geeinten Résistance - da passte der dreckige Krieg in Nordafrika nicht ins Bild. Einer, der ihn bereits 1957 ins Bild rückte, war der Pariser Journalist und Autor Daniel Anselme. Mit "Adieu Paris" schleuderte er seinen Landsleuten die Wahrheit ins Gesicht, sowohl den Nationalisten, die die Algerier bedingungslos unterwerfen wollten, als auch den Kommunisten, die den Krieg vor allem für die eigenen innenpolitischen Zwecke instrumentalisierten, und nicht zuletzt der großen, schweigenden Mehrheit. "Adieu Paris" erzählt von drei Algerienkämpfern, die einige Tage auf Fronturlaub in Paris verbringen. Lachaume, der Intellektuelle, Valette, der Kommunist, und Lasteyrie, der Frauenheld. Nach 21 Monaten an der Front erreichen sie die französische Hauptstadt, die auf sie wirkt wie ein "bizarres Universum." Scheinheilig, trist, feindlich und absurd – das sind die Vokabeln, die Daniel Anselme seinen drei Protagonisten in den Mund legt. Den Frontrückkehrer Lachaume hat seine Freundin wegen der "schwierigen Lage" verlassen. Jetzt sitzt er alleine in der gemeinsamen Wohnung. Als er seinen Jugendfreund Thévenin im Café trifft, wird Lachaume klar: Der lästige Kolonialkrieg in Nord-Afrika spaltet die französische Gesellschaft.
"'Los, erzähl schon!', befahl er, den Mund voll mit Hering aus Scheveningen. 'Was erzählen?', brummte Lachaume. Panik erfasste ihn beim Gedanken daran, über den Algerienkrieg berichten zu müssen, hier, inmitten all dieser Leute, die in der Hoffnung, das Gespräch am Nachbartisch sei interessanter als ihr eigenes, so gut wie schweigend dasaßen. Nein, er hatte ihnen nichts zu sagen, diesen Leuten, für die er weder Sympathie noch Verachtung empfand."
Wie sieht’s danach im Kopf aus?
Weder Sympathie noch Verachtung – es ist eher eine versteckte Wut, die der Soldat und ehemalige Englischlehrer Lachaume empfindet. Wut über die Ahnungslosigkeit seiner Landsleute und darüber, dass er in Algerien seinen Kopf für sie hinhalten soll. Auf der Straße verspottet man ihn, weil er nicht bei den Fallschirmspringern, sondern nur beim Fußvolk kämpft. Im Café bezeichnet man ihn gar als "dreckigen Deutschen", weil er aussieht wie ein müder, besiegter Soldat. Auch die Kommunistische Partei Frankreichs, zur Zeit des Algerienkriegs zweitstärkste politische Macht und erklärte Kriegsgegnerin, kommt in Daniel Anselmes Roman alles andere als gut weg. Als sein Held Lachaume zum Abendessen bei der Familie seines Frontkollegen Valette eingeladen ist, betritt das "Gespenst des Krieges das Zimmer" – die zentrale Szene des Romans. Ein Freund der Familie, ein linientreuer Kommunist, erklärt: Je mehr Soldaten in Algerien im Einsatz seien, umso mehr werde die pazifistische Position der Partei im Mutterland gestärkt. Man solle gleich eine Partei-Petition gegen den Krieg unterzeichnen, fordert er. Dem Soldaten Lachaume platzt der Kragen.
"Bist du nicht der Meinung, es müssten mal ein paar neue Einfälle her? (...) Wo sorgen deiner Meinung nach fünfhunderttausend junge Männer für mehr Aufruhr, hier in den Familien oder da unten? Unsere Jugend ist nämlich dahin, kapiert? Und zwar komplett! Unsere Jugend und unser gesamtes Leben (...) Was haben wir davon, vorausgesetzt, es geht überhaupt weiter? Einen Motorroller vielleicht, von dem Prämiengeld (...) Aber was sonst? Wie sieht’s danach im Kopf aus? Und in der Seele?"
"Dieser Roman wird niemandem gefallen"
Daniel Anselmes drei Algerienkämpfer irren orientierungslos und zumeist betrunken zwischen Bars und Hotel durch düstere, feindliche Pariser Straßen, stets im Bewusstsein, dass ihre Rückkehr an die Front in Algerien unausweichlich näher rückt. Anselme gibt dieser Kulisse zwischen Wut und Melancholie in seinen reportagehaften Szenen- und Stadtbeschreibungen und mit seiner handfesten Alltagssprache umso mehr Wirkungskraft. "Dieser Roman wird niemandem gefallen" prophezeite eine der wenigen Kritiken zu Daniel Anselms Buch bei dessen Erscheinen 1957. Der Kritiker sollte recht behalten, denn der Originaltitel "La permission", ist vom französischen Buchmarkt wie von Geisterhand verschwunden. Erst ein Verleger aus New York entdeckte Daniel Anselmes Roman vor wenigen Jahren neu. Julia Schoch hat das Buch jetzt kongenial ins Deutsche übertragen und mit einem äußerst lehrreichen Nachwort zu den Zeitumständen seines Erscheinens versehen.
"Adieu Paris" ist ein eindringliches Plädoyer nicht nur gegen den Algerienkrieg, sondern gegen den Krieg und die verheerenden Konsequenzen, die er bis ins Innerste der Gesellschaft und des Einzelnen trägt.
Daniel Anselme: "Adieu Paris", Roman, Arche Literatur Verlag, Zürich 2015, aus dem Französischen von Julia Schoch, 206 Seiten