Wie schon den Vorgängerroman "Winter" eröffnet Ali Smith auch ihr neues Buch mit einer im Stakkato vorgetragenen Tirade. War es in "Winter" ein Abgesang auf das soziale und kulturelle Leben, auf Religion, Poesie und Kommunikation, so verschärft Smith in "Frühling" den Tonfall noch einmal. Die Erzählstimme, die hier anhebt, schreit uns an, in Groß-und Kleinschreibung, mit Aggressivität und Wut. Es ist das Tosen der sozialen Medien und populistisch aufgeheizten Einpeitscher, das Smith zum Auftakt collagiert:
"Wir wollen Mächtige, die sagen, sie wollen andere Mächtige kleingehackt in Tüten in meinem Eisschrank, wir wollen Muslimas in Kolumnen verhöhnt, wir wollen Gelächter, der Klang des Gelächters soll ihnen auf Schritt und Tritt folgen. Wir wollen, dass die, die wir Fremde nennen, sich auch fremd fühlen, wir müssen klarstellen, dass sie erst Rechte haben, wenn wir sie ihnen zugestehen."
Das einstmals große England
Das an allen Ecken und Enden zerbröselnde, sich moralisch und ökonomisch in Schieflage befindliche, einstmals große England ist das eigentliche Thema von Smiths Jahreszeiten-Tetralogie. Den Zustand des Landes, "Frühling" spielt überwiegend im Jahr 2018, führt Smith immer wieder geschickt über in die depravierte Psyche ihrer Figuren. In "Frühling" ist es ein Trauernder, dessen Gefühlsleben Ali Smith in ihrer gewohnt geschmeidigen, immer wieder überraschend anschaulichen und zugleich hochliterarischen Sprache abbildet.
Richard Lease, ein halbwegs bekannter Film- und TV-Regisseur hat vor zwei Monaten seinen Lebensmenschen verloren. Paddy war 17 Jahre älter als Richard und ist nun im Alter von 85 Jahren gestorben. Sie war nicht nur Richards Drehbuchschreiberin, sondern auch Ratgeberin, zwischenzeitlich Geliebte und stets künstlerisches Vorbild. In seiner Trauer setzt Richard sich in einen Zug Richtung Nordschottland, landet in einem Kaff namens Kingussie und fasst dort einen Entschluss:
"Wenn der nächste Zug an diesem Bahnhof durchkommt und anhält, wird er sich in einen Spalt zwischen einem Wagen und dem Bahnsteig herablassen und sich vor den Rädern über die sauberen, gepflegten Schienen legen."
Katherine Mansfield trifft Rainer Maria Rilke
Ali Smith ist eine Schriftstellerin, deren staunenswerte Qualität vor allem darin besteht, Motive, intertextuelle Ebenen und Handlungsstränge zusammenzubringen, die auf den ersten Blick nur wenig miteinander zu tun haben, und daraus sogar Komik zu ziehen.
In "Frühling" ist es die Begegnung zwischen Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke, die Richard nach einer Romanvorlage in ein schmalziges Drehbuch verwandeln soll. Darin wiederum spiegeln sich immer wieder Richards eigene amouröse Erinnerungen. Daneben streut Smith großzügig Shakespeare- und Dickens-Anspielungen in den Text. Kritiker werfen ihr vor, ihr intertextuelles Spiel allzu souverän und oft ohne Notwendigkeit zu betreiben. Das mag sein: Manchmal zerfranst auch "Frühling" ein wenig in der assoziativen Logik von Smiths Erzählen. Doch hat sie ein genaues Gespür dafür, wann sie die Zügel straff ziehen und Gegenwart in den Roman bringen muss.
Die 12-jährige Florence
Das geschieht in Form der zweiten Handlungsebene: Brittany Hall arbeitet für einen privaten Sicherheitsdienst in einer Einrichtung, in der der Staat geflüchtete Menschen unterbringt – unter widrigen Umständen und oft auch gegen alle Gesetze. Unter den Angestellten des Aufnahmezentrums geht das Gerücht um von einem kleinen Mädchen, das hier hereinmarschiert sei und durch die bloße Kraft ihrer Überzeugung dafür gesorgt habe, das die verschmutzten sanitären Anlagen gereinigt würden. Dieses zwölf Jahre alte Mädchen, Florence heißt sie, passt Brittany eines Tages beim Schichtwechsel ab und überredet sie, gemeinsam mit dem Zug nach Schottland zu fahren. Der Zweck der Reise wird bis kurz vor Ende des Romans offen bleiben. Zu ihrer eigenen Überraschung willigt Brittany ein:
"Sie sitzt mit einem Kind, das sie nichts angeht, in einem Zug und fährt Gott weiß warum Gott weiß wohin. Sie ist nicht auf der Arbeit, wo sie für ein Gehalt Menschen überwacht, die für unbestimmte Zeit interniert sind."
Smiths literarisches Programm
Dass der Zug, in dem die beiden sitzen, jener ist, auf den Richard am Bahnsteig wartet, war zu ahnen. Florence wird von Ali Smith zu einer weltlichen Heiligenfigur aufgebaut; zu einem jungen Menschen mit einer versehrten Biografie, der die Fähigkeit hat, das Gute in die Welt zu bringen und das Schlechte zur Umkehr zu bewegen. Dass die Darstellung des Mädchens nichts Kitschiges an sich hat, spricht für Ali Smiths Fähigkeiten. Die Art und Weise, wie Florence charakterisiert wird, lässt sich sinnbildlich für Smiths literarisches Programm lesen:
"Das Mädchen ist wie jemand oder wie etwas aus einer Legende oder einer Geschichte, der Art Geschichte, die zwar nicht aus dem Leben gegriffen ist, aber die einzige Möglichkeit, das Leben jemals richtig zu begreifen."
Es sind die Grenzgebiete von Literatur, Legende und ernüchternder Gegenwart, in die Ali Smith mit ihren Romanen vordringt. Das macht ihre Bücher so einzigartig: Smith demonstriert, wie Literatur mit ihren weitverzweigten Möglichkeiten Schönheit und Relevanz zugleich entfalten kann. Das heißt nicht, dass daraus automatisch ein glückliches Ende entspringen müsste. Im Gegenteil. Doch immerhin: Die kalten und scheußlichen Tage, so heißt es am Ende, könnten sich dem Ende zuneigen. Es wird Frühling.
Ali Smith: "Frühling"
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand Literaturverlag, München. 316 Seiten, 22 Euro.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand Literaturverlag, München. 316 Seiten, 22 Euro.