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Ali Smith: „Herbst“
Der Brexit, die Zeit und die Liebe zur Kunst

Daniel hat einst die Liebe zur Kunst in der kleinen Elisabeth geweckt. Jetzt ist er ein Jahrhundert alt, sie ist dreißig, und das ganze Land ist verrückt geworden. Die Autorin Ali Smith erzählt in „Herbst“ vom Brexit und dem Hass in Großbritannien, aber auch von der Schönheit und ihrem Überdauern.

Von Julia Schröder |
Buchcover: Ali Smith: „Herbst“
Ali Smiths aufregender Roman „Herbst“ (Buchcover: Luchterhand Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Lernen Sie Elisabeth Demand kennen, eine aufgeweckte Achtjährige, und Daniel Gluck, ihren Nachbarn – einen ziemlich alten Mann, der Anfang der neunziger Jahre irgendwo in Schottland neben Elisabeth auf dem Sofa ihrer alleinerziehenden Mutter sitzt, in Gesellschaft einer Katze namens Barbra. Wo sich während einer kurzen Abwesenheit der Mutter zeigt, dass Daniel nicht nur über gute Manieren, Bildung und, wie Mrs Demand es ausdrückt, einen Haufen "hochgestochener Kunst" verfügt, sondern auch über verblüffende Taschenspielertricks:
"Er sah Elisabeth an und riss die Augen weit auf, schob die Hand in die Tasche, zog eine Zwanzigpencemünze hervor und hielt sie vor Barbra der Katze in die Luft. Dann machte er irgendetwas mit seiner anderen Hand – und die Münze war weg! Er hatte sie zum Verschwinden gebracht! (…) Barbra die Katze schaute immer noch ungläubig auf Daniels leere Hand und schob die Nase hinein, suchte nach der fehlenden Münze. Ihr Katzengesicht war voller Staunen. Du siehst, es steckt tief in unserer animalischen Natur, sagte Daniel. Nicht zu sehen, was vor unseren Augen geschieht."
Da liegt ein bisschen Lolita in der Luft, aber Elisabeth ist kein Nymphchen, und Daniel Gluck ist kein Humbert Humbert. Der Eros, der ihn mit Elisabeth verbindet, ist – seinerseits – allenfalls ein pädagogischer; wenn er das Mädchen zu irgendetwas verführt, dann zu etwas, worum sein Trick mit der Münze (wie jeder Zaubertrick) sich dreht: zum Sehen.
Bücher werden aus Büchern gemacht. Und manche aus dem Brexit
Die schottische Schriftstellerin Ali Smith, Jahrgang 1962, lässt zwar, wie Nabokov, mehr als nur durchschimmern, dass Literatur aus Literatur und Roman-Welt aus Sprache gemacht wird, aber sie hat sich entschieden, in ihrem Roman "Herbst", dem ersten von vier geplanten, den Jahreszeiten gewidmeten Romanen, ganz andere Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, in der Lüge, Kontrolle, Gewalt, Manipulation und Hass sich konsequent außerhalb der zentralen Figurenkonstellation abspielen. Das allerdings zur Genüge. Denn die Geschichte von Elisabeth und Daniel entwickelt sich bis zur Gegenwart der Entstehungszeit des Romans: bis zu den ersten Wochen und Monaten nach dem fatalen Brexit-Referendum im Sommer 2016.
Über ein Vierteljahrhundert erstreckt sich das Doppelporträt zweier denkbar unterschiedlicher Gesprächspartner, und eigentlich reicht es noch viel weiter zurück, in die frühen Dreißiger, als sich in Deutschland, wo Daniels jüngere Schwester beim Vater lebt, etwas zusammenbraut, in die Vierziger, als diese Schwester in Südfrankreich gerade eben der Deportation durch die Nazis entkommt, die sie am Ende doch umbringen, in die Sechziger, als Daniel Gluck, seinerzeit ein aufstrebender Songtexter, die Liebe seines Lebens kennen lernt, eine Malerin. Aus der Erinnerung imaginiert der alte Daniel die Bilder dieser Malerin und legt damit den Samen der Liebe zur Kunst in der jungen Elisabeth.
Ein liebevolles Denkmal für die Künstlerin Pauline Boty
Die von Daniel vor ihrer beider innerer Augen gerufenen Bilder sind ebenso wenig fiktional wie ihre Urheberin. Es handelt sich um Pauline Boty, die einzige und bis heute kaum bekannte Frau in der britischen Pop-Art, nebenbei Schauspielerin, blond, attraktiv, furchtlos und witzig, eine Künstlerin, die auf ihren farbenfrohen Collagen Materialien wie Spitze mit abgemalten Fotos verband, mit ikonischen Zeitdokumenten vom erschossenen Kennedy bis zu Marylin Monroe. Botys Arbeiten wurden erst Jahrzehnte nach ihrem frühen Krebstod in einer Scheune wiedergefunden. Eines davon, betitelt "Scandal 63", ist bis heute verschollen. Es zeigte Christine Keeler, eine Prostituierte, deren Name sich für immer mit dem größten Spionageskandal in der britischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts verbindet, aber es zeigte eben auch die Frau im Verhältnis zu der ihr in der Männerwelt zugedachten Rolle. Ali Smith setzt Pauline Boty und ihrer lebensfrohen Spielart des Feminismus in diesem Roman ein Denkmal, wie es liebevoller kaum vorstellbar ist.
Als Elisabeth, unterdessen Studentin der Kunstgeschichte kurz vor dem Abschluss, den über 90-jährigen Daniel besucht, bringt sie ihm einen Katalog der wieder aufgetauchten Boty-Bilder mit - eine folgenreiche Gabe:
"Er blätterte den ganzen Katalog durch, Seite um Seite. Dann klappte er das Buch zu und schob es auf dem Tisch zurück. Sah zu Elisabeth auf. Es hat sehr viele Männer und Frauen in meinem Leben gegeben, auf deren Liebe ich gehofft, deren Liebe ich gewollt habe. Selber habe ich aber nur einmal so geliebt. Und es war kein Mensch, in den ich mich verliebt habe. (…) Es ist möglich, nicht einen bestimmten Menschen zu lieben, sondern dessen Sichtweise. Ich meine die Art, wie Augen, die nicht die eigenen sind, einem zeigen, wo man ist und wer man ist. Elisabeth nickte, als verstünde sie ihn."
Der Herbst vor einem langen Winter des Missvergnügens
Zeigen, "wo man ist und wer man ist", darum scheint es auch Ali Smith in diesem Roman zu gehen. Der titelgebende "Herbst" nach dem Brexit-Referendum erscheint als der Beginn eines Zeitalters, daran lässt das Buch keinen Zweifel, in dem das Land unheilbar gespalten ist, seine Bewohner gegeneinander und noch mehr gegen alles aufgebracht sind, was neuerdings als fremd, zugezogen, eingewandert und damit bedrohlich gilt. Während sich die Politik in aktionistischer Paralyse um sich selbst dreht, hat die Privatisierung, das Allheilmittel von Thatcherismus wie New Labour, erfolgreich jede Infrastruktur allgemeiner Daseinsvorsorge ruiniert.
So bei der Post, bei der Elisabeth einen neuen Pass beantragen kann beziehungsweise muss, mit Prüfung des Antrags durch einen Postbediensteten, was angeblich das Verfahren beschleunigt. Bevor sie mit dem Mann am Schalter in einen zusehends absurder werdenden Dialog über die Schreibweise ihres Namens – Elisabeth mit "s" - und die falsche Größe ihres Gesichts auf dem Passfoto eintritt, versucht sie es, noch optimistisch, mit einem nicht ausschließlich scherzhaft gemeinten Verbesserungsvorschlag:
"Ich habe fast ein ganzes Buch ausgelesen, während ich heute Vormittag hier gewartet habe, sagt Elisabeth. Und dabei ist mir eingefallen, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, hier Bücher vorrätig zu haben, damit die Leute, die lange warten müssen, in der Zeit ein bisschen lesen können, wenn sie wollen. Haben Sie schon einmal daran gedacht, eine kleine Bibliothek aufzustellen oder einzurichten? Komisch, dass Sie das sagen, sagt der Mann. Die meisten Kunden kommen gar nicht wegen Postdienstleistungen. Seit die Bücherei geschlossen wurde, kommen sie hierher, wenn es regnet oder überhaupt sehr ungemütlich ist."
Selbstredend ist nicht nur die Bücherei geschlossen, wie so viele öffentliche Bibliotheken im Vereinigten Königreich. Auch das herrschaftliche Gebäude, das ehedem das Hauptpostamt war, beherbergt nun eine Shopping Mall.
"Die Liebe meines Lebens" bedeutet für jeden etwas anderes
Elisabeth Demand ist inzwischen 32 und lehrt Kunstgeschichte in einem prekären Beschäftigungsverhältnis an einer Londoner Universität. Erst seit kurzem ist sie wieder in Kontakt mit Daniel Gluck, den sie zehn Jahre lang nicht gesehen hat. Nachdem sie auf der Post mit ihrem Passverlängerungsantrag keinen Erfolg gehabt hat, sitzt sie lesend an Daniels Bett in einem Pflegeheim und teilt den Raum mit seinem Schlaf. Das Krankenblatt am Fußende besagt, Daniel sei 101 Jahr alt. Warum Elisabeth, den alten Nachbarn so lange gemieden hat, der doch ihren Blick auf die Welt entscheidend geprägt hatte, enthüllt Ali Smith erst nach mehr als der Hälfte des Romans – in just der Szene, als Daniel sich an Pauline Botys Art zu sehen erinnert und Elisabeth plötzlich etwas klar wird: Ihre bis ins Erwachsenenalter bewahrte kindliche Liebe zu dem Mann, dem der Roman immer wieder etwas Puckhaftes, Tänzerisches zuschreibt, wurde so nicht erwidert. Dass die "Liebe meines Lebens" für jeden etwas anderes bedeutet, ist ein Motiv, das auch den folgenden Jahreszeiten-Romanen Momente von bittersüßer Ironie beschert.
Bei Ali Smith wird die Zeit selbst zum Thema
Die Korrektur der Vergangenheit durch die Gegenwart und umgekehrt ist ein Charakteristikum des Erzählens dieser Autorin, die virtuos über das Mittel des Zeitsprungs verfügt. Dies geht einher mit dem Umstand, dass die Zeit selbst zum Thema wird; so wirft Daniel bei einem der sokratischen Spaziergänge mit der kleinen Elisabeth – nach dem Motto "time flies" – seine Armbanduhr im hohen Bogen in den Kanal. Der Zeit hat Ali Smith auch die erste Ihrer Oxforder Poetik-Vorlesungen gewidmet. Dort sagt sie:
"(…)ob ein Roman von einem Porträt handelt, das in einem Versteck liegt und statt seines Besitzers altert, oder von einem kleinen Kuchen, der Erinnerungen auslöst, (…) oder von Gespenstern aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die einen Geizhals zum großzügigen Menschen machen, ob von einer Magd aus der Zukunft oder von einem Cromwell früherer Zeiten: er bezieht sich stets auf die Gegenwart, in der er geschrieben, und die Gegenwart, in der er gelesen wird."
Auf "Herbst" trifft die These der fundamentalen Gegenwartsbezogenheit des Romans – eine These, für die Smith hier so unterschiedliche Kollegen wie Oscar Wilde, Proust, Dickens, Margaret Atwood und Hilary Mantel als Kronzeugen aufruft - in besonderem Maße zu. Zwischen Schreibentschluss, Fertigstellung und Drucklegung des Buchs lag nämlich rekordverdächtig wenig Zeit. So ist es auch bei den noch folgenden drei Teilen dieser geplanten Tetralogie, deren letzte im kommenden Sommer im englischen Original erscheinen soll. In der britischen Zeitung "The Guardian" hat die Autorin geschildert, wie es dazu kam, dass sie ihrem Verleger ein seit langem angedachtes, vierteiliges Romanprojekt über die Jahreszeiten als, wie sie schreibt, "eine Art zeitempfindliches Experiment" vorschlug:
"Vier Bücher, geschrieben ganz kurz vor ihrer Veröffentlichung (in der alten viktorianischen Art, herausgebracht praktisch sobald sie geschrieben waren), so dass sie nicht nur von ihrer eigenen Zeit handeln würden, sondern von dem Ort, wo die Zeit und der Roman sich treffen. (…) Aber ich schüttele noch immer den Kopf, wenn ich mich daran erinnere, was ich damals dachte – in der Zeit vor dem Referendum: dass diese Bücher vermutlich pastorale Beschwörungen werden würden, eher traditionelle Geschichten über den Reichtum der Jahreszeiten, die Arbeit der Zeit in unserem Leben usw. Das habe ich wirklich gedacht."
Nicht erst die Entscheidung für den Brexit, schon die Propagandaschlacht davor änderte – nun, nicht alles, aber vieles: Der Plot des ersten dieser Bücher sah bereits Themen wie Gentrifizierung, Fremdenangst, Klimakrise, Ökonomisierung und Digitalisierung, Erosion der Küste wie des gesellschaftlichen Zusammenhalts, kurz: all die Phänomene vor, die es Angehörigen der Generation "Leihbücherei, Aufstieg durch Bildung und lineares Fernsehen" zunehmend schwer machen, sich in der Welt zurechtzufinden. Aber die Folgen der Brexit-Kampagne, der davon befeuerte Hass auf die jeweils andere Seite, schärften den Blick auf das, was sich vor aller Augen vollzog und bis heute vollzieht. Tatsächlich findet Ali Smith in den drei bisher vorliegenden Romanen suggestive Bilder für den Verlust all der Tugenden, die lange Zeit als typisch britisch galten: der Toleranz gegenüber denen, die anders sind als man selbst, der Höflichkeit im Umgang, des lässigen Selbstbewusstseins von Mitgliedern eines glimpflich abgewickelten Weltreichs.
Mit-Antiquitäten-Werfen als Akt zivilen Ungehorsams
Elisabeths Mutter etwa, die sich von der leichtlebigen Kulturbanausin zu einer Antiquitätenexpertin mit später lesbischer Liebe entwickelt, lebt als ältere Frau in einem Dorf an der bröckelnden Küste. Als dort plötzlich Gemeindeland mit einem doppelten Elektrozaun samt Stacheldraht eingehegt wird und zugleich in den Radionachrichten zu hören ist, dass Asyl suchende Kinder in Hochsicherheitseinrichtungen untergebracht werden sollen, greift sie zu Maßnahmen des zivilen Ungehorsams, die an etwas erinnern, das im nächsten Teil des Romanzyklus, "Winter", eine Rolle spielen wird: den Protest britischer Frauen Anfang der Achtziger, die sich am geplanten Standort amerikanischer Cruise Missiles anketteten und jede Nacht Löcher in dessen Zaun schnitten:
"Du glaubst nicht, was deine Mutter angestellt hat, sagt Zoe. (…) Sie hat es fertiggebracht, sich verhaften zu lassen. Sie hat ein Barometer an den Zaun geworfen. (…) Es gab ein lautes Zischen, Funken sprühten, und die Männer drehten durch, weil deine Mutter einen Kurzschluss in ihrem Zaun ausgelöst hatte. Ich konnte nicht anders, ich schrie auch los. Gib’s ihnen, Wendy!, schrie ich. Weiter so! Zoe berichtet Elisabeth, ihre Mutter sei eine Stunde festgehalten und dann auf Kaution freigelassen worden. Im Moment sei sie in dem Trödelladen (…) und suche noch mehr Sachen zusammen, die sie an den Zaun werfen will. Ihre Mutter plane jetzt, (…) diesen Zaun mit den Lebensgeschichten von Menschen und mit den Artefakten aus Zeiten zu bombardieren, in denen es nicht so herzlos, sondern menschenfreundlich zuging."
Die Erinnerung an menschenfreundlichere Zeiten schimmert durch den ganzen Roman, wie durch den ganzen Jahreszeitenzyklus, in dem doch die Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder ins Leben der Figuren eingreift und bis in unsere Gegenwart mitnichten abgeschlossen scheint. Schließlich seien, schrieb Smith weiter in besagtem Zeitungsartikel für den "Guardian", gesellschaftliche Spaltungen wie die gegenwärtigen gar nicht solch neue Erscheinungen, die habe es in der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben.
"Es ist alles in den klassischen Mythen, im Gilgamesch-Epos, bei Homer; in Dickens‘ ‚Hard Times‘, wo er bedenkt, was geschieht, wenn die Bevölkerung eines Landes zu bloßem Futter der jüngsten industriellen Technologie und derer, die sie kontrollieren, wird; Shakespeares ,Cymbeline‘, wo sich alles um den ,fallout‘ von Fake News dreht, wie in seinem ‚Perikles‘ um den ,fallout‘ von schlechtem Regieren."
Dieses Wissen - und das Schreiben aus diesem Wissen heraus, das in der Literatur ja alles schon einmal da war - bewahrt Ali Smiths "Herbst" davor, sich in der tagespolitischen Abrechnung zu erschöpfen.
Die schlechteste aller Zeiten
Die Tatsache, dass Literatur aus Literatur gemacht wird, legt das Buch von allem Anfang an offen. Es beginnt mit einem von Daniels Träumen im Pflegebett, der ihn wie den schiffbrüchigen Odysseus kurz vor dem Ende seiner Irrfahrten an ein Gestade mit tanzenden Mädchen spült. Der erste Satz in "Herbst" aber zitiert den berühmten ersten Satz von Charles Dickens‘ Roman aus der Zeit der revolutionären Umwälzungen Ende des 18. Jahrhunderts, "A Tale of Two Cities". Er lautet bekanntlich "It was the worst of times, it was the best of times", auf Deutsch, "es war die schlechteste, es war die beste aller Zeiten". Hier allerdings wird er sarkastisch abgewandelt:
"Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten."
Das Dickens-Zitat bleibt nicht allein; "A Tale of Two Cities" liest Elisabeth im Sessel neben Daniels Bett, mit dem Schlafenden gerät sie darüber in stumme Zwiesprache wie über Aldous Huxleys "Brave New World" und Shakespeares "Sturm", aus dem Huxley seinen Romantitel bezog, die Referenzen reichen bis zu Ovids Metamorphosen und den Gedichten des "Wortspielers" John Keats.
Apropos Wortspieler: Freunde des witzigen Wortspiels, des "pun", sind Ali Smiths Figuren allesamt - das Wortspiel ist dieser Autorin, gut shakespearianisch, durchaus ein Mittel der Aufklärung. Viele dieser puns sind allerdings nicht leicht bis unmöglich in eine andere Sprache zu bringen. Die Übersetzerin Silvia Morawetz bleibt nah am Original, auch wenn sie bei Elisabeths Alter aus unerfindlichen Gründen vermeintliche Korrekturen vornimmt, sie findet oft gelungene Äquivalente, an manchen Stellen aber streckt sie die Waffen und muss einen Absatz ersatzlos streichen.
Sehen, was vor Augen ist - und was nicht vor Augen ist
Man darf gespannt sein, was Morawetz aus der folgenden hübschen Szene in "Winter", der nächsten Folge der geplanten Tetralogie, machen wird, in der es um einen von einer Vision geplagten jungen Mann namens Art geht und um das, was die Kunst, englisch "art", ausmacht:
"I said, Art is seeing things. And your aunt said, that’s a great description of what art is."
Ja, nicht nur der junge Art, auch die Kunst "sieht Dinge", und darum geht’s doch. Arts Tante zeigt sich überzeugt:
"Wo kämen wir hin ohne unsere Befähigung, hinter das zu sehen, was wir sehen ‚sollen‘."
Zu sehen, was vor Augen ist, und zu sehen, was nicht vor Augen ist, beides gehört zum Menschsein, das illustriert Ali Smiths Roman "Herbst" – und ein Drittes gehört dazu, nämlich die tiefe Sehnsucht, gesehen, wirklich gesehen zu werden. Wie der sterbende Daniel zu seiner Besucherin Elisabeth sagt:
"Wir müssen die Hoffnung haben, sagte er, dass die Menschen, die uns lieben und ein wenig kennen, uns letztlich wirklich so gesehen haben, wie wir sind. Auf viel mehr kommt es letztlich nicht an."
Wortspiele, Zeitsprünge, Intertextualität, Politik – so viel literarische Ambition klingt anstrengend. Aber so liest "Herbst" sich ganz und gar nicht. Vielmehr gelingt Ali Smith ein Kunststück, in dem Gegenwart und Roman sich tatsächlich treffen: ein Buch, das ganz nah an seiner Zeit mit all ihren Hässlichkeiten entlang erzählt und dabei eine Schönheit schafft, die die Zeiten überdauern wird. Deutsche Leser dürfen sich freuen auf die noch folgenden Teile des Jahreszeiten-Zyklus. Vor allem diejenigen Leser, denen der Jahrhundertmann Daniel Gluck und die vaterlos aufgewachsene Elisabeth Demand ans Herz gewachsen sind. Im literarischen Nachleben, das ist das Tröstende an Büchern, ist möglich, worauf man diesseits der Buchdeckel noch weniger zu hoffen wagt als auf das Wirklich-Gesehen-Werden: ein Wiedersehen.
Ali Smith: "Herbst"
aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand Verlag, München. 272 Seiten, 22 Euro.