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Alice Cherki: Frantz Fanon. Portrait.

"Ich bin nicht der Sklave der Versklavung, die meine Väter entmenschlicht hat. Für viele farbige Intellektuelle hat die europäische Kultur einen äußerlichen Charakter. Außerdem kann sich der Schwarze in den menschlichen Beziehungen der westlichen Welt fremd fühlen. Wird er, da er die Rolle des armen Verwandten, des Adoptivsohns, des Bastards nicht spielen will, fieberhaft versuchen, eine Neger-Zivilisation zu entdecken? Man verstehe uns recht! Wir sind überzeugt, dass es von großem Nutzen wäre, mit einer Neger-Literatur oder einer Neger-Architektur aus dem 3. Jahrhundert vor Christus in Berührung zu kommen. Wir wären überglücklich, wenn wir erfahren würden, dass es zwischen diesem oder jenem Neger-Philosophen und Platon eine Entsprechung gegeben hat. Aber wir können uns absolut nicht vorstellen, dass diese Tatsache irgend etwas an der Lage der achtjährigen Kinder ändern könnte, die heute auf den Zuckerrohr-Plantagen von Martinique oder Guadaloupe arbeiten.

Lothar Baier |
    Man darf den Menschen nicht festnageln wollen, denn es ist seine Bestimmung, losgelassen zu werden. Die Dichte der Geschichte bestimmt keine einzige meiner Handlungen. Ich bin meine eigene Grundlage.Und nun, indem ich die historische, instrumentale Gegebenheit überschreite, eröffne ich den Zyklus meiner Freiheit. Das Unglück des Farbigen besteht darin, dass er Sklave gewesen ist. Das Unglück und die Unmenschlichkeit des Weißen bestehen darin, dass er irgendwo den Menschen getötet hat."

    Diese Sätze schrieb Frantz Fanon 1952 in seinem ersten Buch ‘Schwarze Haut, weiße Masken’. Es gab der Revolte der Kolonisierten gegen ihre europäischen Unterdrücker eine Stimme, die man in den sog. Mutterländern mit einigem Befremden, wenn nicht Erschrecken zur Kenntnis nahm. Homi K. Bhabha hat Fanon übrigens in seiner ‘Verortung der Kultur’ ein ganzes Kapitel gewidmet.

    Fanon, in Martinique geboren, war Arzt und Psychiater. In Frankreich ausgebildet, nahm er an der algerischen Revolution teil. Seine Sicht auf den in Europa allgegenwärtigen Rassismus, seine Einsicht, dass Befreiung aus der Sklaverei nicht ohne Gewalt gegen andere und sich selbst möglich ist, machten ihn zum bedeutenden Theoretiker des Kampfes um Unabhängigkeit. Er wurde zur Symbolfigur eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins, der ‘Negritude’ und zum Hassobjekt der kolonialen Profiteure.

    Mit seinem letzten und wichtigsten Buch ‘Die Verdammten dieser Erde’, zu dem Jean Paul Sartre das Vorwort schrieb, lieferte Fanon die theoretische Grundlage eines radikalen antikolonialen Befreiungskampfes. Doch er hat sich nicht lange mit der Kritik am weißen Herrenmenschentum und seinen komplexen Auswirkungen aufgehalten, Fanon hat früh erkannt, dass mit dem Abzug kolonialer Armeen und der formalen Unabhängigkeit noch keine Freiheit gewonnen sein würde. 40 Jahre nach der Ermordung Patrice Lumumbas zeigen die Ereignisse um Laurent Kabila im Kongo, dass die schlimmsten Befürchtungen Fanons Realität geworden sind. In Frankreich ist gerade eine neue Biographie über Frantz Fanon erschienen. Was diese Arbeit besonders lesenswert macht, ist der Umstand, dass die Autorin Alice Cherki nicht nur eine Kollegin von Fanon ist, sondern dass sie den schwarzen Theoretiker der Befreiung, der mit nur 36 Jahren 1961 an Leukämie starb, noch selbst gekannt hat. Lothar Baier hat das Fanon-Porträt gelesen
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    Es gibt offenbar durch reine Willensanstrengung kaum zu verkürzende Fristen, die verstreichen müssen, ehe ein Land reif geworden ist, mit seinem kollektiven Selbstbild schwer vereinbare Episoden seiner jüngeren Geschichte als Daten der nationalen Geschichte anzuerkennen. In Frankreich beispielsweise mussten rund vierzig Jahre vergehen, ehe der von 1954 bis 1962 geführte Algerienkrieg ohne die übliche Beschönigung in Augenschein genommen werden konnte.

    Nachdem eine Reihe Bücher erschienen waren, die sich kritisch mit dem Krieg auseinandergesetzt hatten, räumten Ende 2000 auf einmal pensionierte Armeegeneräle ein, dass bei der Bekämpfung des algerischen Aufstands in der Tat gefoltert, gemordet und zur Abschreckung auch wahllos massakriert wurde, und zwar auf allerhöchsten Befehl, und dass Generäle zuweilen auch selbst mit Hand angelegt hatten. Mit dem veränderten Zeitklima hängt auch zusammen, dass nun einem der bedeutendsten Köpfe der algerischen Revolution, dem schwarzen Denker Frantz Fanon, nach langen Jahren posthumer Verleumdung und geistiger Exkommunikation endlich Gerechtigkeit widerfahren kann.

    Unternommen wird das in einem jüngst bei Le Seuil in Paris erschienenen Buch, das die französische Psychoanalytikerin und Psychiaterin Alice Cherki verfaßt hat. Die Arbeit versteht sich nicht einfach als konventionelle Biographie. Die in der jüdischen Minorität des französischen Algerien aufgewachsene Autorin hat den auf Martinique geborenen Fanon gut gekannt, sie waren Arztkollegen in der psychiatrischen Anstalt des algerischen Blida; doch sie wartet nicht mit Anekdoten aus seinem Leben auf, es kommt ihr vielmehr darauf an, die Entwicklung seines Denkens von den gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen her zu erläutern, die darin verarbeitet sind. Das ist ihr hervorragend gelungen.

    Der 1925 als Sohn eines schwarzen Zollinspektors und einer mulattischen Kleinhändlerin in Fort-de-France, der Hauptstadt Martiniques, geborene Frantz Fanon wuchs in einer französischen Kolonialgesellschaft auf, die sich ihm erst dann als fremdbestimmte Ordnung eigener Art zu erkennen gab, als er im Zweiten Weltkrieg mit der Welt jenseits der Antillen in Berührung kam. Noch vor dem Schulabschluss meldete sich Fanon freiwillig bei de Gaulles «Forces Françaises Libres», wurde zur Ausbildung nach Nordafrika geschickt und dann als Soldat der gegen die deutsche Wehrmacht kämpfenden 1. Kolonialarmee eingesetzt. Die Befreiung des Elsaß von der Nazibesetzung, die er im Frühjahr 1945 miterlebte, empfand Fanon nicht als ungetrübten Triumph der Freiheit. In Briefen an seine Eltern zeigte er sich bitter enttäuscht von den Verhältnissen in der antifaschistischen Armee, in der er auf Schritt und Tritt weißem Rassismus begegnete. Bei den Siegesfeiern im Mai 1945 wurden die schwarzen Soldaten, die stets als erste den Kopf hatten hinhalten müssen, nach Möglichkeit versteckt. In Fanons erstem, 1952 veröffentlichten Buch «Schwarze Haut, weiße Masken» sind Erfahrungen dieser Art reflektierend verarbeitet.

    In Lyon nahm Fanon danach das Medizinstudium mit Fachrichtung Psychiatrie auf, hörte Vorlesungen des Philosophen Merleau-Ponty, las Sartres Zeitschrift «Les Temps Modernes», beschäftigte sich mit Freud und mit Hegel. Nach Promotion und Approbation als Facharzt für Psychiatrie wurde der 29-jährige Fanon auf den Posten des Chefarzts der psychiatrischen Klinik in Blida südlich von Algier berufen. Von dem bald danach ausgebrochenen Aufstand blieb das Klinikleben nicht lange unberührt. Es wurden Patienten gebracht, die von dem Erlebnis der Gewalt traumatisiert waren, darunter ebenso Gefolterte wie Folterer; einige dieser Fälle hat Fanon später in seinem Buch «Die Verdammten dieser Erde» dokumentiert. Über christliche Hilfsorganisationen, die sich um erkrankte algerische Aufständische kümmerten, kam der Arzt Fanon mit der politischen Unabhängigkeitsbewegung selbst in Kontakt. Angesichts der sturen Weigerung der Pariser Regierung, den algerischen Aufstand anders als mit militärischer und polizeilicher Gewalt zu beantworten, legte Fanon den Chefarztposten nieder und siedelte mit Frau und Kind nach Tunis, dem Sitz der provisorischen algerischen Regierung, über.

    Während er zunächst noch als Psychiater weiter arbeitete, beteiligte er sich dort mehr und mehr publizistisch und politisch am Kampf der Algerier um die Unabhängigkeit. 1959 brachte er bei dem debütierenden Pariser Verleger François Maspero sein zweites Buch heraus, «L'an V. de la révolution algérienne», zu deutsch 'Das Jahr 5 der algerischen Revolution'. Das Buch kritisiert die französische Kolonialpolitik und skizziert ein künftiges freies Algerien, in dem Araber, Kabylen, Juden und christliche Europäer gleichberechtigt nebeneinander würden leben können. Bald nach Erscheinen wurde das Buch in Frankreich verboten.

    Das Verbot machte den Namen Frantz Fanon erst recht bekannt, vor allem in Afrika und dem Teil der Welt, den die französischen Ethnologen Albert Sauvy und Georges Balandier um diese Zeit als «Tiers-Monde», Dritte Welt, definierten. Der französische Staat setzte unterdessen alles daran, Auftritte Fanons auf internationalen Kongressen zu verhindern, notfalls auch mit Hilfe von Attentaten. Wer auch immer Fanon nach dem Leben trachtete, er musste sich fortan nicht mehr allzu sehr bemühen, denn Ende 1960 wurde bei Fanon eine besonders bösartige Form von Leukämie diagnostiziert. Der Arzt Fanon wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.

    Nach Verabredung mit seinem Verleger Maspero nahm Fanon die Arbeit an einem neuen Buch auf, dessen Untersuchungsgegenstand der gesamte Entkolonisierungsprozess sein sollte. Im Wettlauf mit der Zeit diktierte er in Tunis Seite um Seite. Jean-Paul Sartre sagte zu, ein Vorwort zu verfassen. Nach Abschluss des Manuskripts reiste Fanon im Herbst 1961 auf Drängen von Freunden zur Behandlung seiner Krankheit in die USA. In einer Klinik bei Washington nahm er am 3. Dezember das druckfrische Exemplar seines Buches, dessen Titel «Die Verdammten dieser Erde» er selbst bestimmt hatte, in Empfang. Drei Tage später, am 6. Dezember 1961, starb Fanon im Alter von 36 Jahren.

    Welche Botschaften hat Frantz Fanon mit diesem Buch hinterlassen und für wen? Über das flammende Vorwort des zornbebenden Sartre, dem Fanatiker des französischen Algerien damals zweimal die Wohnung in Paris zerbombt hatten, sind viele offenbar nicht weit hinaus gekommen, sonst wäre ihnen aufgefallen, dass der Autor Fanon sich nicht lange damit aufhält, die Kolonialmächte wortreich zum Teufel zu wünschen. Das Kolonialzeitalter war für ihn im Jahr der Niederschrift 1961 unwiderruflich zu Ende; ihm ging es darum, die in den Gesellschaften der unabhängig gewordenen Staaten der Dritten Welt weiterwirkenden Hinterlassenschaften sowohl des Kolonialismus als auch der eigenen Stammesgeschichten namhaft zu machen und zu ihrer Überwindung beizutragen.

    «Missgeschicke des nationalen Bewusstseins» ist ein zentrales Kapitel überschrieben, das die Bewohner der Dritten Welt mit allem Nachdruck dazu auffordert, in ihren neugeschaffenen Staaten die Bildung politisch bewusster, produktiver Bourgeoisien voranzutreiben. Gelingt dies nicht, warnte Fanon, dann bleibt die Gesellschaft beim Bewusstsein unpolitischer kleiner Zwischenhändler stehen, und die Befreiungsbewegung verkommt zur Einheitspartei, der, wie Fanon schrieb, modernen «Form der bürgerlichen Diktatur ohne Maske, ohne Schminke, skrupellos und zynisch.» Mangels nationaler Perspektive ist der Weg zur «Stammesdiktatur», wie er schreibt, dann nicht mehr weit, die ethnische und religiöse Spannungen anheizt und am Ende den jungen Staat zerfallen lässt.

    Schon als vielerorts in der Dritten Welt noch die neugewonnene fahnengeschmückte Unabhängigkeit euphorisch gefeiert wurde, hat Fanon aufgrund einer unbestechlichen Gesellschaftsanalyse die Gefahren benannt, die die postkolonialen Länder von innen bedrohten. Was später in Algerien unter und nach Boumedienne, aber auch in Nigeria, in der Kongo-Region, im Sudan, in Ruanda und anderswo geschehen ist, hat Fanon als fatale Möglichkeit bereits vor 40 Jahren vorausgesehen. Wäre «Die Verdammten dieser Erde» tatsächlich und vollständig gelesen worden, hätte man sich in Europa viel wortreiches und sprachloses Entsetzen über die jüngsten afrikanischen Katastrophen sparen und mehr von ihren Ursachen begreifen können. Fanon hatte freilich gehofft, dass es so weit nicht käme. Vorzuwerfen wäre ihm post festum allenfalls das Festhalten an dieser Hoffnung.

    Als schwarzer Rassist und Gewaltprediger ist Frantz Fanon in den achtziger Jahren von auch in Deutschland beachteten «neuphilosophischen» Pariser Essayisten abgekanzelt worden, die sich schreibend der kränkenden Erinnerung an die eigene einstmals überbordende Drittweltbegeisterung zu entledigen anstrengten. Alice Cherkis informatives Fanon-Porträt bringt nun das desolate Ausmaß an Ignoranz und rassistischem Ressentiment zum Vorschein, das in diesen unter irreführenden Vorzeichen veranstalteten Abrechnungen steckt. Zur Korrektur solcher Verzerrungen auch im deutschen Sprachbereich böte sich an, Alice Cherkis ausgezeichnete Arbeit ins Deutsche zu übersetzen.

    Lothar Baier besprach: ‘Frantz Fanon, Portrait’ von Alice Cherki, erschienen in der Editions du Seuil in Paris. Das Buch hat 313 Seiten und kostet 130 Francs.