Andreas Main: Frau Schwarzer, Sie sind in einer atheistischen Familie in Wuppertal aufgewachsen, haben sich mit zwölf Jahren taufen lassen. Was steckt Ihnen mehr in den Knochen: Der Atheismus oder die Mitgliedschaft in einer Kirche?
Alice Schwarzer: Ja, wissen Sie, ich bin in einer ziemlich untypischen Familie aufgewachsen, zum einen bei den Großeltern, und dann gab es eine gewisse Rollenumkehr. Die Großmutter war sehr politisch, sehr Anti-Nazi und war der Kopf der Familie und der Großvater war der Fürsorgliche und Sanfte und so.
Dann waren wir - Sie werden gleich sehen, warum ich so weit aushole - evakuiert, als Wuppertaler, in Franken in einem Dorf. Da galten wir als die "Saupreußen". Ich war schon einmal in einer komischen Situation als uneheliches Kind bei den Großeltern. Die Großeltern waren auch ein bisschen komisch. Als Saupreußen wird man dann in einem fränkischen Dorf auch als ziemlich komisch empfunden, sodass bei mir doch das Bedürfnis aufkam, nicht mehr immer "die Andere" zu sein, sondern dazuzugehören - was dazu führte, dass ich mit äußerstem Eifer als kleine Drei-, Vier-, Fünfjährige in die katholische Kirche rannte, so eifrig da betete, dass ich meine Schuhe vergaß und auch schon mal zu Hause auf die Knie fiel und betete: "Maria, du Gebenedeite" - was von meiner Großmutter mit einem freundlichen Lächeln begleitet wurde.
"Neugierig und aufgeschlossen"
Also, ich hatte nicht das Gefühl, das darf ich nicht. Ich komme aus einer sehr, sehr toleranten Familie und auch bei den Prozessionen ging ich ganz vorne an und warf die Blumen. Jetzt reden wir erst einmal vom Katholizismus. Dann kam ich zurück nach Wuppertal und irgendwie bekam ich mit, dass in meinem Beritt ein besonders interessanter Pfarrer war, Pastor Hanusch. Der war in der bekennenden Kirche gewesen, also auch Anti-Nazi, so wie meine Familie. Wir waren ja nach dem Krieg, wir Anti-Nazis, durchaus in der Minderheit. Das war nicht selbstverständlich, da hielt man ein bisschen zusammen, und das interessierte mich.
Außerdem reichte es mir, dass ich wieder die Einzige war, die nicht konfirmiert werden sollte. Also erklärte ich: Ich lasse mich jetzt taufen, denn ich will konfirmiert werden. Meine Großmutter ließ kurz die Zeitung sinken, guckte etwas erstaunt, aber lächelte freundlich. Mein Großvater lächelte sowieso freundlich. Also bin ich getauft worden, bin ich konfirmiert worden, war ich da ein paar Jahre im Diskussionskreis. Hanusch war übrigens der Ersatzvater von Johannes Rau. So ist das, also ich bin keine Abtrünnige von nichts. Ich bin es gewohnt, einfach neugierig und aufgeschlossen durch alles zu schreiten.
"Noch gelassener als früher"
Main: Nun betonen Sie immer wieder, dass Religion Privatsache ist, und wir in dieser Sendung bei "Tag für Tag" locken aus den Menschen auch im Normalfall keine Bekenntnisse heraus.
Schwarzer: Nein, gut so.
Main: Dennoch stelle ich die Frage: Bei vielen Menschen ist es so, dass sie im Alter eher zur Religion finden. Also wenn ich die Frage stellen darf: Wie ist das bei Ihnen?
Schwarzer: Ich bin im Alter eigentlich eher noch gelassener als früher. Was meine Werte angeht: Die sind einfach in mir verankert. Es ist keine Frage von Glauben.
Main: Ich gehe davon aus, dass Ihre Skepsis gegenüber Religionsgemeinschaften auch zu tun haben dürfte mit der Männerdominanz, vor allem in der katholischen Kirche und dem Islam, aber auch trotz aller Reformansätze im Judentum, im Buddhismus und in der evangelischen Kirche. Liege ich da richtig?
Schwarzer: Ja, natürlich, aber da gibt es ja eben in allen großen Religionen seit Jahrzehnten Feministinnen, die das tapfer angehen und das geht ja bis zur Ausrufung der Göttin und so weiter. Wie gesagt, durch mein Leben, das ich eben kurz skizziert habe, bin ich in Bezug auf Religion von einer großen Gelassenheit. Also ich habe natürlich auch in meiner Nähe Menschen, die entweder gläubig sind oder ex-gläubig und die können ja nicht verzeihen. Die sind dann völlig krawallig auf die Kirche und so. Alles nicht mein Fall. In Köln ist ja auch bekannt - und das hat etwas Erstaunen hervorgerufen - dass mich mit Kardinal Meisner ein freundschaftlicher Kontakt verbunden hat. Einfach: Wir haben uns gegenseitig toleriert und fanden uns gegenseitig interessant. Das ist die Ebene, auf der ich Gläubigen begegne.
Main: Deklinieren wir das mal an einigen Beispielen durch, weil Sie sprachen eben davon, dass es durchaus Ansätze gibt in den Religionsgemeinschaften, die Männerdominanz zu durchbrechen. Wo sehen Sie die interessantesten Ansätze im Judentum?
Schwarzer: Ja, da tut man sich natürlich in der Diaspora leichter. In Israel ist der Druck sehr groß, aber auch da berichten wir in "Emma" regelmäßig: Wir stellen Rabbinerinnen vor. Wir berichten über den Protest, über das demonstrative Beten an der Klagemauer. Also die Frauen mühen sich redlich. Und ich glaube, sie bringen auch in allen drei monotheistischen Religionen ihre Herren durchaus in Bedrängnis. Und das ist gut und wichtig, weil Religion ist ja mehr als Glaube.
Ich meine, ich bin natürlich christlich geprägt und lebe in einem christlich geprägten Land und jüdisch geprägten Land, in das jetzt die neuen Einflüsse mit dem Islam kommen und so weiter – und von daher ist es ganz wichtig, dass wir diesen Teil auch gründlich aufarbeiten.
"Die Jungs wollen unter sich bleiben"
Main: Die Männerbastion in der katholischen Kirche, die scheint aber zu halten.
Schwarzer: Ja, ich finde es ja ziemlich komisch. Die Jungs wollen einfach unter sich bleiben. Man kann es ja auch verstehen. Ich sehe das ja auch bei mir auf dem Dorf so am Wochenende. Dann hocken sich die Jungs zusammen und trinken ihr Bier und wenn eine Frau dazukommt: Ih, das stört aber so richtig. Also, die Frauen an den Spitzen, in den oberen Etagen der katholischen Kirche, stören so richtig. Ich wünsche ihnen viel Glück und ich sehe das aber noch nicht kippen.
"Mit dem Blick einer Frau auf die ganze Welt schauen"
Main: Jetzt fragen sich natürlich die meisten Hörer vermutlich, warum fragt der Andreas Main die Frau Schwarzer Dinge, die Sie eigentlich gar nicht so richtig angehen. Die Frage an Sie: Sie mischen sich trotzdem ein, auch mit "Emma". Warum?
Schwarzer: Ja, wissen Sie, ich mache ja ein politisches Magazin für Menschen. Vor allem von Frauen gelesen, aber auch von einigen Männern. Und ein politisches Magazin richtet seinen Blick auf die ganze Welt. Also, feministische Journalistin sein heißt für mich, nicht über irgendwelche Nischenthemen nur berichten oder die verdächtigen Themen, Abtreibungsverbot und so weiter, sondern mit dem bewussten Blick einer Frau auf die ganze Welt schauen.
Da ist es doch völlig selbstverständlich, einmal ganz davon abgesehen, dass natürlich viele unserer Leserinnen gläubige Christinnen sind, Protestantin oder eben Katholikin, auch Jüdin, auch Muslimin und so weiter. Also, dem allen hat sich ein politisches Magazin, das sich einmischt in die Welt, zu stellen. Von daher bin ich natürlich als "Emma"-Macherin über all diese Dinge besser auf dem Laufenden, als ich es nur als Privatperson wäre, weil ich muss mich mit alldem permanent und immer wieder neu und immer wieder aktuell beschäftigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen