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Alice Zeniter: "Die Kunst zu verlieren"
Migration als unendliche Odyssee

Im Roman "Die Kunst zu verlieren" erzählt die französische Autorin Alice Zeniter von den Verlusten einer algerischen Familie, die 1962 nach Frankreich fliehen musste. Ihre Drei-Generationen-Saga ist ein unaufdringliches Plädoyer für ein selbstbestimmtes, vom Erbe der Kolonialzeit befreites Leben.

Von Sigrid Brinkmann |
Buchcover: Alice Zeniter: „Die Kunst zu verlieren“
Alice Zeniers Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen (imago stock&people Francesco Gattoni)
Alice Zeniter ist die Enkelin eines Harki. Die Harkis dienten vor der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 als Hilfskräfte in der französischen Armee. In den Tagen vor und nach der Ausrufung der staatlichen Souveränität flohen etwa 60.000 Harkis übers Mittelmeer, denn in Algerien wurden sie als Kollaborateure verfolgt, verschleppt und oft auch gelyncht. Wer geflohen war, konnte jahrzehntelang nicht mehr zurück ins Land. In Frankreich waren Harkis und ihre Familien zwar sicher, aber die meisten lebten am Rand der Gesellschaft. Dass die Scham darüber verinnerlicht und kaschiert wurde, nahm Alice Zeniter als Kind zwar wahr, nur verstehen konnte sie es natürlich nicht.
"Mein Vater hat mir erzählt, dass seine Familie nach der Ankunft (in Frankreich) einige Zeit im Süden verbracht hatte. Aber das hieß gar nichts. Ich stellte mir eine Ferienkolonie vor, schönes Wetter, Picknick im Grünen. Erst sehr viel später habe ich erfahren, dass es Auffanglager gab, von denen aus die Ankömmlinge über das Land verteilt wurden. Ich war schon über zwanzig, als ich begriff, dass 'einige Zeit im Süden' eine Umschreibung für die Lager war."
Am Rande der Gesellschaft
Die Schweigsamkeit der Harkis bildet den thematischen Kern des Romans. Als Kind las Alice Zeniter Wikipedia-Artikel. Erst später griff sie nach soziologischen Studien und wagte es, bestürzendes historisches Bildmaterial zu betrachten.
"Vor sechs, sieben Jahren fing ich an, mir zu sagen, eines Tages muss ich darüber schreiben. Es gab eine Reihe von Zeichen, die ständig auf die Migrationsbewegungen zwischen Frankreich und Algerien verwiesen. Den endgültigen Ausschlag gab dann das Buch "Sauve qui peut la vie" - Rette wer kann das Leben" - von Nicole Lapierre. Sie beschreibt die Migration als nicht endendes Abenteuer. Man glaubt, die Reise sei kurz, aber sie dauert viele Jahre. Man braucht Intelligenz, Mut, und man muss Mangel aushalten können. Ich betreibe in meinem Roman keine Familienforschung und ich schreibe keine Autobiographie. Es sollte eine Odyssee sein."
Alice Zeniter zeichnet die komplexen Lebenswege von drei Generationen nach. Ali, sein Sohn Hamid und dessen Tochter Naïma sind die treibenden Kräfte.
Ungemein vielschichtig und lebendig erzählt die 1986 geborene Autorin von den Verlusten und kleinen Freuden, den Verleugnungen und Kompromissen einer Familie, die eine kleine gesellschaftliche Minderheit repräsentiert und die sich schlussendlich - fast möchte man sagen, ohne es zu merken - mit einem Leben in der europäischen Fremde angefreundet oder zuverlässig arrangiert hat. Zeniter hat gut daran getan, den Roman in drei Teile zu gliedern und die Chronologie der Kriegsereignisse - der Verständlichkeit halber - zu wahren. Die Makrostruktur ist simpel, die Binnenstruktur hoch verdichtet. Mit einem untrüglichen Blick für das Wesentliche fokussiert Zeniter aus der Perspektive der allwissenden Erzählerin auf die geheimen Antriebskräfte, die Ausflüchte und Eigensinnigkeiten ihrer Protagonisten. Die offizielle Geschichte mit ihren Peripetien ist als Folie immer präsent. Recherche, so Zeniter, verbindet sich mit Fiktion.
"Denn sie sind alles was bleibt, um das Schweigen zu überbrücken, das in den Lücken zwischen den Bildchen von einer Generation an die andere weitergegeben wird."
Auf eine unfreiwillige Odyssee geht der Grundbesitzer Ali mit Frau und Kindern. Er war den Franzosen zu Diensten und muss fliehen. Seine Irrfahrt endet in der Normandie: in einer mit Möbeln zugestopften Sozialbauwohnung, deren Umgebung zusehends verkommt. Aber davon weiß er noch nichts, als er im Hafen von Algier auf das Signal des ablegenden Schiffes wartet.
"Mit aller Kraft möchte er das Bild (der Stadt) in sich aufnehmen, aber er findet in dem, was er sieht, keinen Zusammenhalt, keinen Sinn. (...) Er nimmt nichts mit, er behält nichts von dieser Landschaft, die er betrachtet. Er fängt sogar an zu glauben, dass er in dem Bemühen, dies hier festzuhalten, andere Erinnerungen auslöscht. Vielleicht verschwinden die Bilder von seiner Mutter, die Bilder des Feigenbaums, von Italien oder von einer seiner Hochzeiten - werden noch nicht einmal von Algier ausgelöscht, sondern von nichts."
Krieg der Erinnerungen
Hinter sich gelassen hat Ali jene acht Jahre, in denen die Nationale Befreiungsfront FLN die waffenstarrende französische Berufsarmee angriff, Brücken sprengte und ganze Dörfer der Kollaboration bezichtigte und auslöschte. Die Franzosen bombardierten großflächig, sie folterten in Gefängnissen und durchkämmten Straßen und Häuser, um alte Menschen vor den Augen von Kindern zu erschießen.
"Ich fand es - über die Schilderung der Grausamkeiten hinaus - extrem schwer, feststellen zu müssen, dass es in den Berichten so etwas wie einen Krieg der Erinnerungen gab. Die Brutalitäten der einen Seite wurden gegen die der anderen ausgespielt - und das, obwohl Historiker die Fakten recherchiert hatten und Studien veröffentlichten, die kaum zu widerlegen sind. Über Grausamkeiten der französischen Armee zu sprechen, führte sofort zu einem: Ja, aber was ist mit den Gewaltakten der FLN, was mit der Gewalt gegen die so genannten Algerienfranzosen, die Pieds-Noirs, was mit der gegen die Harkis? Es war wirklich ein trübes Wasser, in dem ich herumfischte."
In Frankreich zuhause und nirgendwo sonst
Ein Jahrzehnt nach der Ankunft in Frankreich wird Alis ältester Sohn Hamid die Autorität des Vaters in Frage stellen. Zu Hause geriert Ali sich als Patriarch, in der Fabrik bleibt er ein devoter Untertan - unerträglich für den Marx lesenden Hamid. Er wehrt sich erfolgreich gegen rassistische Lehrer, macht Abitur, verliebt sich in eine Französin und gründet eine Familie. In den Neunzigerjahren, als rund 200.000 Menschen durch den Terror der islamistischen Heilsfront FIS und die Gegenwehr der Regierung umkamen, beschließt Hamid, nie wieder algerischen Boden zu betreten.
Er ist in Frankreich zuhause, nirgendwo sonst. Ganz so wie seine Tochter Naïma. Sie ist Ende zwanzig, Kunstwissenschaftlerin, in einer Pariser Galerie angestellt, ungebunden. Sie ist ein sensibler Charakter, der bohrende Fragen stellt und im Auftrag der Galerie erstmalig nach Algerien aufbricht. Den Aufenthalt nutzt sie, um in den Bergdörfern der Kabylei Verwandte mit einem Besuch zu überraschen.
"Meiner Figur Naïma habe ich die Frage eingepflanzt, die mich selber bei meinen zwei Reisen gequält hat: Spielt sich hier etwas wirklich Wichtiges ab oder hat alles nur anekdotischen Wert? Dass ich mich permanent mit diesen Fragen herumschlug, hinderte mich daran, die Gegenwart meiner Reise voll auszuschöpfen. Ich war immer damit beschäftigt, nach Antworten und einem Sinn zu suchen für das, was ich dort erlebte."
Die Frage, ob unerwartete familiäre Wiedervereinigungen letztlich nur die Gelegenheit für ein Familienfoto bieten, damit anschließend jeder wieder sein gewohntes Leben aufnehmen kann, ist für Naïma, die suchende Kraft in diesem Roman, schnell beantwortet. Ihre Odyssee ist ein bewegter, aber letztlich unsentimentaler Selbstfindungsprozess, der sie sicher nach Paris zurückführt. Vor ihrer Rückreise zitierte ein resoluter, junger Algerier Elizabeth Bishops Gedicht "Die Kunst zu verlieren" und gab Naïma damit zu verstehen, dass man aus einem Land kommen kann, ohne ihm anzugehören und dass einem etwas fehlen kann, ohne dass dies ein Unglück sein muss. Alice Zeniter ist es auf wunderbar kluge Weise gelungen, ihre bewegende Drei-Generationen-Saga zu einem unaufdringlichen Plädoyer für ein selbstbestimmtes, von den Stricken des Erbes befreites Leben zu verdichten. Ihr Alter Ego Naïma muss niemandem mehr etwas beweisen.
Alice Zeniter: "Die Kunst zu verlieren"
Aus dem Französischen von Hainer Kober
Berlin Verlag, München. 560 Seiten, 25 Euro.