Die Brauerei Bischofshof in Regensburg hat sich an einem Vormittag im Juli herausgeputzt für hohen Besuch aus Berlin. Auf dem Platz vor dem Sudhaus schwitzen Herren in dunklen Anzügen, junge Frauen zupfen Schärpen mit dem Brauerei-Logo über ihren Dirndln zurecht, eine Blasmusikkapelle spielt sich warm. Brauereidirektor Hermann Goß will, dass alles perfekt ist. Schließlich kommt Christian Schmidt, der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft.
"Er will eine fortschrittliche Brauerei sehen, die sich in der Welt tummelt, die da erfolgreich ist. Dass die Wahl auf uns gefallen ist, da kann ich nur sagen, sind wir sehr stolz."
Eine schlichte "Wahl" ist es nicht, die den CSU-Minister nach Regensburg führt. Aber dazu später. Hermann Goß trägt Trachtenjacke, grauen Schnauzbart und ein Lächeln im runden Gesicht. Der Hausherr hat handfeste Forderungen an seinen Gast. Schon in der Presse-Einladung steht: Die Politik solle die Marktmacht der Konkurrenten aus Holland und Belgien eindämmen, die, so wörtlich, "zunehmend auch in Bayern wildern". Hermann Goß ist zuversichtlich.
Deutsche trinken mehr als weltweiter Durchschnitt
"Das Kulturgut Bier ist ja nach wie vor überall gerne gesehen und wir treffen uns beim Bier bei vielen, vielen Veranstaltungen mit den Politikern, wo wir immer wieder die Möglichkeit haben, unsere Sorgen, unsere Nöte loszuwerden und werden schon wahrgenommen und ernst genommen."
Nicht nur das "Kulturgut" Bier, Alkohol insgesamt hat in Deutschland einen guten Stand. 96 Prozent der Erwachsenen trinken. 9,6 Liter reinen Alkohol pro Jahr. Viel mehr als der weltweite Durchschnitt. Die Folgen: Millionen Süchtige, schwer geschädigte Kinder, Zehntausende Tote.
Und die Politik? Während sie Tabak bekämpft, bleibt Alkohol unangetastet. Keine Steuererhöhungen. Kaum Werbebeschränkungen.
Kurz vor elf Uhr: Der Minister ist da. Christian Schmidt schüttelt Hände und lächelt in die Kameras. Der Brauereidirektor führt über das Gelände und Christian Schmidt soll selbst Bier zapfen. Brauerei und Fotografen überlassen dabei nichts dem Zufall: "Das müssen wir jetzt organisieren, vom Bild her.
Das ist ungünstig – Herr Minister sie müssen nochmal auf die Seiten wo der Herr Resch steht. Genau. Leo. Auf die Seiten. Prost auf unser Reinheitsgebot..."
Der Bundes-Ernährungsminister als "Botschafter des Bieres"
Der Bundesernährungsminister posiert werbewirksam neben dem Bierfass. Christian Schmidt weiß, wie man Bier ins rechte Licht rückt. Im Jahr 2015 war er das Gesicht einer Lobbyorganisation. Für den Deutschen Brauerbund gab er den "Botschafter des Bieres". Mit diesem Amt zeichnen die Brauer Menschen aus, die sich "energisch" für das deutsche Bier einsetzen. So steht es auf der Internetseite der Lobbyisten. Schmidt ist stolz darauf.
"Es ist ja ein Super-Ehrenamt. Man ist damit auch der, der das Bier nach außen hin vertritt und ich kann das, hat sich bei mir deswegen wunderbar getroffen, weil ich als der Zuständige auch für die Qualität und die Einhaltung des Lebensmittelrechtes sagen kann, jawoll, das deutsche Bier ist gut und in Ordnung."
Als Bundesminister ist seine Aufgabe auch der Schutz der Verbraucher. Alkohol fordert jährlich bis zu 74.000 Tote in Deutschland. 60 mal so viele wie alle illegalen Drogen zusammen. Außerdem wird Alkohol mit vielen Krankheiten in Verbindung gebracht, darunter Speiseröhren-, Leber- und Brustkrebs. Handlungsbedarf sieht der Politiker nicht.
"Wenn ich Verbraucherschutzminister so verstehen würde, als ob ich die Speisekarte jedem einzelnen vorschreiben würde, dann wäre ich zu den Grünen gegangen, hätte den Veggi-Day gefordert, das habe ich nicht getan."
Zur Gesprächsrunde spendiert Gastgeber Goß eine Brotzeit – und die nächste Runde Bier. Die Branche ist gut vernetzt. Der Bundesminister erzählt, wer ihn nach Regensburg auf das Brauerei-Areal gelockt hat: ein CSU-Partei-Kollege "Graf von und zu Lerchenfeld, der in der Tat den Besuch eingefädelt hat. Und der mich auch nochmal gestern darauf hingewiesen hat, wie wichtig ihm das ist."
Deutschland hat ein massives Alkoholproblem
Philipp Graf von und zu Lerchenfeld sitzt für Regensburg im Bundestag. Im Nebenjob ist er Aufsichtsratsmitglied der Krones AG. Die beliefert wiederum die Bierindustrie mit Brauanlagen. Der Kreis schließt sich.
Eine halbe Stunde lang hört sich der Bundesernährungsminister die Sorgen der Brauer an. Brauereidirektor Hermann Goß verabschiedet sich mit warmen Worten.
"Ich weiß, dass ich einen Kämpfer an der Seite hab, der für das Kulturgut Bier einsteht. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken."
Deutschland hat ein massives Alkoholproblem: In zehn Jahren ist die Zahl der Alkoholvergiftungen in den Notaufnahmen um ein Drittel gestiegen – auf fast 120.000 pro Jahr. 1,8 Millionen Menschen sind alkoholsüchtig. Tendenz auch hier: steigend.
"Ich begrüße euch recht herzlich zur heutigen Gruppenstunde. Ich habe mir mal ein Thema überlegt..."
Bernd Zschiesche, ein sanft lächelnder Mann mit Brille, moderiert den Abend. Ein kleiner Raum mitten in München. Treffen einer Alkohol-Selbsthilfegruppe vom "Blauen Kreuz". Die Handvoll Teilnehmer sitzt um einen runden Tisch. Ganz links: Norbert. Wir bleiben bei Vornamen. Er hat dunkle, längere Haare, schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Schuhe. Norbert rutschte in die Alkoholsucht ab, als seine Marketing-Agentur pleiteging. Heute kann er ruhig darüber sprechen.
"Ich hab nur gemerkt, dass ich jeden Tag, wenn ich aufstehe schon an Alkohol denke. Und eigentlich mir die Tage so einteile, dass ich an genügend Alkohol rankomme."
Alkoholsucht bestimmt das Familienleben
Neben ihm: Margarethe. Eine Rentnerin. Braune Dauerwelle, Brille. Sie war nie Alkoholikerin – aber ihr Mann. Ihre zwei Kinder und sie durchlebten schwere Zeiten:
"Eine Alkoholkrankheit ist eine Familienkrankheit und das macht wirklich die Familie mit kaputt. Also nicht nur den Betroffenen. Mein Mann hat bestimmt es ehrlich gemeint und hat auch zwischendrin aufhören wollen und hat versprochen, ich trinke morgen nicht. Aber er konnte gar nicht anders, das weiß ich heute."
Petra und Horst, die beiden übrigen Gruppenteilnehmer, fingen als Jugendliche mit dem Trinken an. Aus dem gelegentlichen Genuss entwickelte sich schleichend die Alkoholkrankheit.
"Ich habe dann weitergetrunken bis zu meinem 40. Lebensjahr und bis dann meine Frau sich scheiden lassen wollte und der Bub gesagt hat, ich rede lauter Schmarrn und ich stinke so aus dem Mund. Das war für mich der lichte Moment, wo ich zum Hausarzt bin."
Norbert, Petra und Horst sind seit Jahren trocken. Auch Margarethes Mann trinkt nicht mehr. Die kleine Runde heute ist nicht die übliche Selbsthilfegruppe. Sie sind die, die sich ans Mikrofon trauen, um zu zeigen, wie die Sucht jeden treffen kann. Die vier sagen: Die Selbsthilfegruppe hat sie vor Rückfällen bewahrt und ihnen so das Leben gerettet. Deshalb engagieren sie sich mittlerweile ehrenamtlich beim Blauen Kreuz.
Im Raum München hat der Verein 60 Gruppen, alle unentgeltlich geleitet von trockenen Alkoholikern. Sie sind für die Gruppenteilnehmer rund um die Uhr erreichbar, fahren sie zur Entgiftung ins Krankenhaus oder in Suchtkliniken in ganz Deutschland. Viel Geld hat der Verein aber nicht, sagt Bernd Zschiesche. Er ist Vorstand beim Blauen Kreuz.
"Wenn die Selbsthilfegruppe nicht existiert, dann gibt es die sogenannten Drehtürpatienten. Das heißt, dieser Alkoholkranke kommt ins Krankenhaus zur Entgiftung. Wird entgiftet, kommt raus, fängt das trinken an und geht wieder rein ins Krankenhaus zur Entgiftung. Deshalb nennen wir das Drehtür-Patienten. Kostet eine Unmenge Geld. Und das sparen wir den Krankenkassen."
"Alkohol ist das teuerste Rauschmittel"
Tobias Effertz steht vor einer großen Leinwand. Der Beamer projiziert ein Schaubild mit bunten Kurven auf die weiße Fläche. Überschrieben ist die Grafik mit: "Arbeitslosigkeitsrisiko":
"Alkohol ist sicherlich das teuerste Rauschmittel oder der teuerste riskante Lebensstil, den wir haben in Deutschland."
Tobias Effertz erforscht an der Universität Hamburg die gesellschaftlichen Kosten des Alkoholkonsums. 58 Milliarden Euro. So viel zahlt die deutsche Gesellschaft laut den neuesten Berechnungen des Wissenschaftlers jährlich für ihre Lust am Trinken. Die Bundesregierung geht in ihrem aktuellen Drogenbericht von weniger als der Hälfte aus.
"Viele Kostenkomponenten wurden in früheren Schätzungen nicht erhoben. Beispielsweise die Pflegekosten, die häufig vernachlässigt worden sind."
So setzen sich die 58 Milliarden Euro zusammen: Über neun Milliarden pro Jahr betragen die "direkten Kosten". Dazu gehören die Ausgaben für Ärzte oder Medikamente. Hinzu kommt der größte Brocken, die "indirekten Kosten", über 30 Milliarden. Darunter summiert Tobias Effertz zum einen entgangene Einkünfte, weil Menschen aufgrund ihres Alkoholkonsums nicht arbeiten können. Zum anderen gehören dazu Ausgaben für Arbeitslosengeld oder Frührente. Schließlich veranschlagt der Experte noch rund 18 Milliarden Euro für "Schmerz und Leid" der Betroffenen. Auf diesen Wert kam er durch einen Kniff: Er hat überlegt, wie hoch die Schmerzensgelder ausfallen würden, wenn die Alkoholindustrie für die Schäden durch ihre Produkte zahlen müsste. Dieser "fiktive" Geldstrom ist unter seinen Fachkollegen nicht unumstritten. Doch Tobias Effertz will der Politik eine möglichst umfassende Entscheidungsgrundlage liefern. Er leitet aus seiner Forschung klare Forderungen ab.
Große Lobbyanstrengungen der Alkoholindustrie
"Das Gesamtbild sagt, dass wir eine Zunahme riskanter Alkoholkonsummuster sehen in Deutschland in den letzten 15 Jahren - und denen muss entgegengewirkt werden. Diesen wirkt man am besten entgegen, indem man die Alkoholsteuern deutlich erhöht und als weitere Maßnahme würde ich mir wünschen, dass das Marketing der Alkoholindustrie dort eingeschränkt wird, wo besonders viele Kinder und Jugendliche zugegen sind." Steuererhöhung und Werbeverbote. Viele Fans in Berlin finden seine Vorschläge nicht:
"Die Bundespolitik ist überhaupt nicht daran interessiert momentan, die Steuern zu erhöhen. Aber die Lobbyanstrengungen der Alkoholindustrie sind auch sehr, sehr stark. Aber wir kommen nicht daran vorbei. Wenn wir das Problem des schädlichen Alkoholkonsums in Deutschland zurückführen möchten, bedeutet das auch, dass weniger Alkohol konsumiert wird. Und das geht natürlich auch gegen den Umsatz der Alkoholindustrie. Damit muss sie leider leben. Denn die Kosten, die schädlicher Alkoholkonsum verursacht, sind sehr viel höher als ihr Umsatz."
Ein Abend im August. Im städtischen Jugendamt von Trier beraten sich Sozialpädagogen, Polizei und Sabine Bätzing-Lichtenthäler von der SPD, die Gesundheitsministerin von Rheinland-Pfalz. Die Politikerin wird gleich einen Testkauf begleiten. Dabei versuchen 16-Jährige in Geschäften der Stadt Schnaps zu kaufen. Das ist erst ab 18 erlaubt.
"Bei den Testkäufen machen wir es so, dass wir nachher mit den Menschen ins Gespräch kommen, Hilfestellung und Unterstützung anbieten. Aber auch darauf hinweisen: Hey, das war so nicht in Ordnung!"
Von 2005 bis 2009 war sie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Mit gerade einmal 30 Jahren übernahm sie das Amt – und erwarb sich durch ihren Kampf gegen Alkohol und Zigaretten den zweifelhaften Ruf einer "Volkserzieherin". Danach wechselte sie in die Landespolitik.
Erste Test-Station: ein Kaufland-Supermarkt. Als Testkäuferin ist die Polizei-Auszubildende Luisa dabei, die gerade 16 geworden ist. Sie soll hineingehen, Wodka holen und zur Kasse bringen. Die Verkaufsquote ist hoch, sagt Polizist Christoph Schuh.
"Leider muss man sagen, dass unsere bisherigen Testkäufe zu fast 50 Prozent die letzten Jahre immer negativ verlaufen sind, heißt, man hat trotz klarer Erkennbarkeit, dass die Testkäuferin minderjährig ist, Alkoholika oder Zigaretten verkauft."
Im ersten Supermarkt läuft aber alles gut. Luisa wird sofort als zu jung erkannt. Die zweite Station: eine Filiale von Real. Dort passiert es: die Kassiererin fragt nicht nach ihrem Alter. Der Polizist schreitet ein. Die Verkäuferin muss ein Bußgeld von 50 Euro zahlen. Sabine Bätzing-Lichtenthäler hat die ganze Zeit die Aktion aus dem Hintergrund beobachtet:
"Der heutige Abend hat nochmal gezeigt, dass die Testkäufe ein wichtiges Mittel sind für die Einhaltung des Jugendschutzes für die Kontrolle und dass man sie weiter durchführen muss."
Als Drogenbeauftragte entwarf Sabine Bätzing-Lichtenthäler ein strenges "Nationales Aktionsprogramm" gegen Alkohol: Sie wollte Werbebeschränkungen, eine Senkung der Promillegrenze für Autofahrer - und die Wirkung von höheren Steuern zumindest prüfen lassen.
Steuererhöhungen und Werbeverbote wie beim Tabak?
Ihr Plan fand damals zunächst Zustimmung in der Bundesregierung. Dann jedoch intervenierte die Alkohollobby. Erst die Industrie – über das Wirtschaftsministerium. Dann übten auch Sportverbände wie der Deutsche Fußball Bund Druck auf sie aus. Sie hatten Angst um Sponsorengelder. Mehrfach wurde der Plan nachjustiert und gelockert. Dennoch gab es in den Medien das Gerücht, Sabine Bätzing-LIchtenthäler wolle die Alkoholsteuer erhöhen. Der Todesstoß. Ihr Nationales Aktionsprogramm zur Alkoholprävention verlor den Rückhalt in der Regierung – rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2009.
"Als Drogenbeauftragte fand ich diese Forderungen absolut richtig zu erheben – aber sie haben sich nicht durchsetzen lassen in der Demokratie, wir haben da keine Mehrheit erhalten, weil sicherlich auch andere Forderungen mit hineinspielen und da muss man eben die kleineren Schritte machen und nach und nach versuchen das Ziel dennoch zu erreichen. Ich glaube, das wird uns gelingen, aber es braucht eine längere Zeit."
Im größten Festzelt auf dem Gillamoos, dem Volksfest im niederbayerischen Abensberg. Das Dach ist mit blauen und weißen Stoffbahnen geschmückt. Auf den langen Tischen – mit weiß-blauen Decken – liegen CSU-Flyer und Kugelschreiber zwischen den Maßkrügen. Zum Teil sind die schon fast leer. Es ist 10 Uhr morgens.
Breit lächelnd marschiert der heutige Festredner beim "Politischen Gillamoos der CSU" ein. Winkend bahnt sich der gewichtige Kanzleramtschef aus Berlin seinen Weg durchs gut gefüllte Zelt. Peter Altmaier, CDU, die rechte Hand der Bundeskanzlerin. Kaum hat er an seinem Tisch platzgenommen, steht ein voller Bierkrug vor ihm. Er nimmt ein paar Schluck und hört sich die Grußworte der lokalen CSU-Prominenz an. Als er ans Rednerpult tritt, wird sofort ein frischer Krug nachgereicht.
"Mir ist gesagt worden, dass manche Gäste – vor allen Dingen wenn sie von außerhalb kommen – dann ist in den schönen Bierkrügen Kamillentee, ist Mineralwasser. Ich kann Ihnen versprechen, ich würde diesen Bierkrug nicht in die Hand nehmen, wenn irgendwas anderes drin ist als Bier und das wird immer so sein, wenn ich hier bei Ihnen bin."
Peter Altmaier und das Bier. Eine wohlwollende Beziehung – nicht nur auf dem Gillamoos. Wie sein Kabinettskollege Christian Schmidt ließ sich auch der CDU-Politiker vom Deutschen Brauerbund zum "Botschafter des Bieres" küren. Das war 2013. Zu seinen Vorgängern gehörten Horst Seehofer, CSU, und Frank-Walter Steinmeier, SPD. Ein weiterer Bier-Botschafter war der Grünen-Chef Cem Özdemir. Der aktuelle Würdenträger ist Norbert Lammert, CDU, der Präsidenten des Deutschen Bundestags.
Wir kontaktieren alle Fraktionen im Bundestag. Unsere Frage: Was halten sie von Steuererhöhungen oder Werbeverboten, um den riskanten Konsum einzudämmen? Beim Tabak wurde beides ja bereits umgesetzt.
Keine Antwort kommt von der CDU/CSU-Fraktion. Zitat aus der Pressestelle: "Leider kann ich niemanden finden, der sich mit dem Thema befasst und auch Zeit hätte." Die drogen- und suchtpolitischen Sprecher der übrigen Fraktionen – also von SPD, Grünen und Linken – sprechen sich im Grundsatz dafür aus, die Werbung für Alkohol einzuschränken oder zu verbieten. Beim Thema Steuererhöhungen herrscht dagegen Zurückhaltung. Am deutlichsten wird der Suchtexperte der Grünen. Aus seiner Sicht könne man "darüber nachdenken, inwiefern steuerpolitische Maßnahmen helfen würden". Wie denkt die Grünen-Spitze darüber?
Alle posieren gerne mit Bier und Wein
Wieder auf dem Gillamoos, in einem kleineren Festzelt: Die Bundesvorsitzende der Grünen, Simone Peter, zieht mit ihrem Gefolge ein. In der Hand hält sie einen steinernen Bierkrug. Die Grünen finden hier im Hopfenland weniger Anhänger. Viele Tische sind nicht besetzt, aber wer da ist, trinkt Bier. Simone Peter setzt sich mit ihren Kollegen erstmal an einen Tisch neben dem Rednerpult und bestellt. Ein Weißbier. Alkoholfrei. Für die Kameras heben die Grünen ihre Biergläser. Auch Simone Peter. Vor eineinhalb Jahren forderte sie noch die 0,2 Promille-Grenze für Autofahrer, scheiterte aber schon in der eigenen Partei. Aus dem Landesverband Bayern hieß es, das sei eine "bekloppte Debatte". Bier-Botschafter Cem Özdemir gab der Idee mit seinem Veto den Rest. Nun steht Simone Peter neben dekorativen Hopfendolden hinter dem Rednerpult genau wie Bier-Fan Peter Altmaier und, ein Zelt weiter, SPD-Mann Olaf Scholz. Die Grüne-Spitzenfrau spricht über Antibiotikaeinsatz und das miese Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern. Am Ende der Rede gibt es noch ein Gruppenfoto mit Weißbiergläsern. Was ist mit den Werbeeinschränkungen und der Steuererhöhung, über die der drogenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion zumindest nachdenkt? Davon will die Parteichefin nichts wissen.
"Nein ich halte nichts davon den Alkoholkonsum durch Verbote zu steuern, sondern es geht darum eine gesamtgesellschaftliche Debatte zu haben, was tut uns gut, wie können wir das Leben so gestalten, dass die Menschen nicht zum Alkohol greifen müssen. Wir sind ja nicht industriefeindlich."
Am Ende bleibt die Frage, warum sich die Parteien und ihre Spitzen-Persönlichkeiten dafür hergeben, mit Bier und Wein zu posieren. Geht es nur darum, keine Wählerstimmen zu riskieren? Schließlich trinken die Deutschen gerne. Oder steckt doch die Alkohol-Lobby dahinter? Ihr Netzwerk reicht weit in die Politik hinein – übrigens auch bei der EU in Brüssel. Und vergessen sollte man auch nicht: Viele Bundesländer besitzen Weingüter oder Brauereien. Sie mischen mit in der Branche, die von laxen Regeln seit Jahrzehnten profitiert.