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"Alle diese Diktatoren sind Diktatoren auf Abruf"

Er ist aus dem Exil zurückgekehrt, jetzt will der Oppositionspolitiker der Demokratie in Tunesien Vorschub leisten: Moncef Marzouki prophezeit zudem das Ende der Staatslenker in Ägypten, Algerien und Syrien und einen "Frühling der Demokratie".

    Christoph Heinemann: Nach tagelangen Protesten haben die meisten Gefolgsleute der alten Garde die tunesische Übergangsregierung verlassen. Die seit Langem erwartete Kabinettsumbildung wurde gestern Abend in Tunis verkündet. Demnach bleibt Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi an der Spitze der Übergangsregierung, vor allem aber in den Schlüsselressorts wie Verteidigung, Inneres, Äußeres und Finanzen gab es Neubesetzungen. – Wir haben vor dieser Sendung mit dem Oppositionspolitiker Moncef Marzouki gesprochen. Der 65 Jahre alte Gründer der unter Ben Ali verbotenen linksgerichteten Partei "Kongress für die Republik" (CPR) kehrte vor gut einer Woche aus seinem langjährigen Exil in Frankreich zurück und will bei der anstehenden tunesischen Präsidentschaftswahl antreten. Er ist ehemaliger Vorsitzender der tunesischen Liga für Menschenrechte. Ich habe ihn angesichts der Zustände in Ägypten zunächst gefragt, inwieweit sich die Lage am Nil mit der in Tunesien vergleichen lässt.

    Moncef Marzouki: Die politischen Systeme unterscheiden sich: In Ägypten besteht zwar eine absolute Herrschaft eines Mannes, die Omnipräsenz einer Partei, das gleiche Geheimdienstsystem. Aber Präsident Mubarak war wenigstens so klug, den normalen Bürgern kleine Freiheiten zu gestatten: Es gibt politische Parteien, in engen Grenzen eine gewisse Pressefreiheit. Tunesien war ein reiner Polizeistaat, ohne irgendwelche Freiheiten, und dieses System ist schließlich explodiert.

    Heinemann: Wird Präsident Mubarak in absehbarer Zeit die Macht abgeben müssen?

    Marzouki: Ich bin sicher, dass es zu keiner erneuten Kandidatur oder einer Machtübergabe an seinen Sohn kommen wird. Ägypten wird im kommenden Jahr einen neuen Präsidenten haben, und dieser wird weder Mubarak noch sein Sohn sein. Die Lehre der tunesischen Revolution für alle diese Diktatoren lautet: sie können nicht so weitermachen, als wäre nichts geschehen.

    Heinemann: Gilt das zum Beispiel auch für die Machthaber in Algerien oder Libyen?

    Marzouki: Ja, absolut. Alle arabischen Regime gleichen sich: Die Alleinherrschaft eines Mannes, deren Familien plündern das Land, Vorspiegelung einer Demokratie, die Herrschaft der politischen Polizei, der Ausschluss der Eliten und die Einbeziehung aller Opportunisten. Das ist ein System, das den Staat zerstört. Alle diese Diktatoren sind Diktatoren auf Abruf. Ben Ali ist weg, Mubarak wird fallen und ich glaube auch, dass die algerische Diktatur fallen wird. Die syrische Diktatur befindet sich meiner Meinung nach in großen Schwierigkeiten. Nach dem Niedergang der kommunistischen Diktaturen fallen nun die nationalistischen arabischen Diktaturen, eine nach der anderen.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit Moncef Marzouki, dem Vorsitzenden der tunesischen Oppositionspartei "Kongress für die Republik". - Wird die Regierungsumbildung in Tunesien die Demonstranten beruhigen?

    Marzouki: Da bin ich nicht sicher, denn es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber allem, was mit dem alten Regime zu tun hat. Außerdem sind die alten Bonzen des Systems Ben Ali heute die Gestalter des Übergangs.

    Heinemann: Wie kann man die Polizei und die Geheimdienste des alten Regimes integrieren?

    Marzouki: Das ist eines der großen Probleme der Übergangszeit. Man muss unterscheiden: einerseits die Polizei, die verabscheut wird, weil sie so korrupt ist. Aber ein Land benötigt eben eine Polizei. Andererseits: Was die politische Polizei und die Geheimdienste betriff, so fordern alle Demokraten deren Auflösung.

    Heinemann: Wie lässt sich eine islamistische Radikalisierung in Tunesien verhindern?

    Marzouki: Die Leute im Westen sind von der Angst vor dem Islamismus besessen. Das ging so weit, dass sie für die Realität blind waren. Aus Angst vor Islamismus haben sie mit einem Mann wie Ben Ali zusammengearbeitet. Die tunesische Revolution hat gezeigt, dass dies ein Hirngespinst ist. Man hat keinen einzigen Islamisten auf der Straße gesehen. Die Parolen waren sämtlich demokratische. Diese Sorge, Revolution bedeutet automatische islamistische Revolution, ist restlos falsch.

    Heinemann: Frankreich hat dem Regime Ben Ali seine Unterstützung angeboten. Präsident Sarkozy hat in dieser Woche eingeräumt, man habe das in Paris falsch eingeschätzt. Wie beurteilen Sie Frankreichs Haltung?

    Marzouki: Was jetzt zählt, ist die Zukunft. Unser Platz ist der euro-mediterrane Raum. Für den Westen ist es einfacher, mit Demokraten zu kooperieren. Wenigstens befinden sie sich dann nicht in dem Widerspruch, öffentlich für bestimmte Werte einzutreten und gleichzeitig mit Diktatoren zusammenzuarbeiten.

    Heinemann: Welche Rolle spielen in der tunesischen Revolution die sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter und so weiter?

    Marzouki: Das war die erste Revolution, die in Facebook organisiert wurde. Das ist schon einzigartig. Diktaturen haben es immer schwerer. Ein Diktator muss die Gedanken und die Informationen kontrollieren und die Leute daran hindern, dass sie sich gegen ihn organisieren können. Mit den sozialen Netzwerken kann man die Information, die Gedanken und die Herzen aber nicht mehr kontrollieren, und die Menschen organisieren sich im virtuellen Raum, ohne dass man dies verhindern könnte. Das Überleben der totalitären Regime wird zunehmend schwieriger.

    Heinemann: Heißt das, dass wir auch dank der sozialen Netzwerke gerade einen arabischen Frühling erleben?

    Marzouki: Ja, absolut. Ein Frühling der Demokratie. Und das straft alle diejenigen in Europa Lügen, die immer behauptet haben, die Demokratie, das sei nichts für die Araber. Das habe ich in Frankreich oft gehört: Die Araber können nur in korrupten Diktaturen oder unter islamistischen Regimen leben. In der tunesischen Revolution hat man ein ausgesprochen reifes und politisiertes Volk gesehen. Die Menschen waren in der Lage, eine friedliche und demokratische Revolution zu organisieren und sich der modernsten Mittel zu bedienen. Ich träume davon, nun an dem mitzuwirken, was ich die Republik der Bürger nennen möchte: Bislang lebten wir in einer Monarchie der Untertanen. Wir waren alle Untertanen von Ben Ali, der über uns verfügte. Ich möchte zu einer wirklichen Republik der Bürger beitragen. Deshalb habe ich meine Partei Kongress für die Republik benannt.

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