Berliner Abgeordnetenhaus, Raum 117. 8,9 Prozent hatten die Berliner Piraten bei der Landtagswahl eingefahren, 130.000 Stimmen. Morgen konstituiert sich das Landesparlament, der politische Alltag beginnt. Auch um sich dafür fit zu machen, hatte die Piratenfraktion eine Delegation nach Island geschickt. Im Mai hatte die Staatsanwaltschaft Darmstadt nämlich Server der Piratenpartei beschlagnahmt. Die Ermittlungen richteten sich nicht gegen die Partei, sondern gegen andere Nutzer, die bestimmte Daten auf dem Server der Piratenpartei abgelegt hatten. Deswegen will die Fraktion nun Server in Island aufstellen, sagt der Piraten-Abgeordnete Alexander Morlang, denn Island entwickele sehr fortschrittliche Gesetze:
"Und wenn sich die Staatsanwaltschaft Darmstadt sich dann an die isländische Regierung wendet, dann dauert das sicher etwas länger und führt mit Sicherheit auch nicht zur Beschlagnahme irgendwelcher Server."
Es wird sich einiges ändern in Deutschland. Erstmals zieht die Piratenpartei in ein deutsches Landesparlament ein. Damit bekommt die digitale Revolution ihren parlamentarischen Arm. Die Piraten werden neue Themen in die Diskussion einbringen, und eine neue Art, Politik zu machen. Welch große Hoffnungen auf den Piraten lasten, machten Anhänger gleich bei der Wahlparty deutlich:
"Die Wahl ist der Durchbruch der Piraten in Deutschland. In Zukunft wird keine Wahl mehr ohne den Piratenbalken auskommen." "Ich habe die Piraten gewählt, einfach, damit wir mal die Chance haben, dass sich etwas ändert. Kann sein, dass in fünf Jahren alles Mist ist, aber ich dachte, das muss man mal ausprobieren."
Die Piraten schreiben Geschichte: 30 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik wurden die Grünen geboren, mischten das politische System ihrer Väter auf. Gut eine weitere Generation später, 30 Jahre nach Geburt der Ökopartei, betreten die unzufriedenen Kinder der digitalen Revolution die Bühne - und wollen das politische System ihrer 68er-Eltern modernisieren: mehr Sachverstand, mehr Transparenz, mehr Demokratie. Wieder mal eine Frischzellen-Kur für deutschen Parlamentarismus - diesmal mit der Effizienz digitaler Technik.
Die erste Piratenpartei der Welt wurde 2006 in Schweden gegründet. Urknall war die Beschlagnahme der Server von "The Pirate Bay", einer illegalen Tauschbörse vor allem für Filme und Musik. Piratenpartei - der Name ist ironisch, gemeint als Kritik an der Film- und Musikindustrie, die alle als Piraten bezeichnet, die urheberrechtlich geschützte Werke im Internet tauschen. Für Piraten ist Kopieren kein "Diebstahl geistigen Eigentums", sondern der zentrale Mehrwert einer neuen, vernetzten Welt: Digitale Güter sind beliebig kopierbar, werden durch Tausch nicht weniger, sondern mehr. Interessen einer überkommenen Industrie, so das Piraten-Credo, müssen zurückstehen: Wissen für alle ist wichtiger.
In Schweden wurde eine internationale Bewegung geboren, die heute 26 Piratenparteien zählt. Die Piratenpartei Deutschland wurde 2006 im Berliner Hacker-Treff cbase gegründet. Wie in Schweden seien die Mitglieder durch Eingriffe des Staates in das Internet politisiert worden, sagt Martin Häusler, Autor eines Buchs über die Piratenpartei: Netzsperren, Vorratsdatenspeicherung, Hacker-Paragrafen.
"Das waren staatliche Eingriffe in eine noch recht neue Welt, von der es hieß, es gibt unbegrenzte Freiheit, Millionen von Menschen wurden vom Internet und im Internet sozialisiert, haben ihre Berufe mit und in dem Internet ausgeübt und plötzlich kommen dann Staaten, Regierungen, Institutionen daher und greifen ein."
Fünf Jahre nach der Gründung zählt die Piratenpartei Deutschland knapp 16.000 Mitglieder und versteht sich nicht mehr als eine Ein-Thema-Partei:
"Netzpolitik wird häufig verstanden als eine Politik, die sich ausschließlich auf das Spielzeug Internet konzentriert."
Sebastian Nerz, der Bundesvorsitzende der Piratenpartei.
"Dabei verändert das Internet unsere Gesellschaft so grundlegend wie der Buchdruck und die Industrialisierung. Damit ist Netzpolitik zu einer Grundrechtspolitik geworden. Und eine Partei, die sich als Grundrechtspartei versteht, muss selbstverständlich auch Netzpolitik abdecken. Das bedeutet aber nicht, dass wir eine Netzpartei sind. Wir sind eine Grundrechtspartei."
Die Piraten setzen sich für eine Reform des Urheberrechts ein, das die digitale Realität anerkennt und die Interessen der Nutzer stärkt. Sie verlangen den freien Fluss und die maximale Verbreitung von Wissen. Dazu gehört, dass alle Bürger das Recht auf Zugang zum Internet haben, dass Daten-Netze einfach Bits transportieren und nicht nur Inhalte, die den Netzbetreibern ins Geschäft passen. Freies Wissen bedeutet nach Auffassung der Piraten, dass staatlich bezahlte Wissenschaftler ihr Wissen auch der Allgemeinheit zur Verfügung stellen müssen; dass der Staat vom Bürger finanzierte Daten veröffentlicht - und private Daten schützt; dass Kinder Schulbücher aus dem Netz laden, statt neue kaufen zu müssen, weil sich ein Absatz geändert hat. Um das Wissen auch vom Staat möglichst frei zum Bürger fließen zu lassen, setzt der Berliner Fraktionschef ein Thema ganz oben auf seine Agenda:
"Transparenz. Wir wollen dafür sorgen, dass erstmal der Grundsatz herrscht: Alles ist öffentlich. Und dann muss gefragt werden: Warum und aus welchen Gründen muss etwas hinter verschlossenen Türen stattfinden. Politik, die vom Bürger in Berlin bezahlt wird, sollte auch für ihn zugänglich sein."
Dies ist nicht die Agenda einer Ein-Thema-Partei, sagt der Soziologe Michael Plaetau. Er sieht die Piratenpartei als Ausdruck eines fundamentalen gesellschaftlichen Konflikts: Wie beim Streit zwischen Kommunisten und Kapitalisten geht es um die Frage: Wem gehören die Produktionsmittel? Wie ist das mit der Ware? Nur sind Produktionsmittel und Waren inzwischen nicht mehr allein aus Stahl und Kohlenstoff, sondern digital und kopierbar:
"Wissen wird zur Ware. Es ist nicht passiert, dass man allen Menschen den Zugang zum Weltwissen ermöglicht. Sondern man hat gesagt: Nun, meine Herren, bereichert Euch! Das Netz ist okkupiert worden von Interessen, die mit dem Internet Geld verdienen wollen. Und das ist ein Widerspruch. Und dieser Widerspruch ist für mich der entscheidende Auslöser für die Entstehung der ganzen Protestbewegung und ihres politischen Arms der Piratenpartei."
Wirtschaftspolitik, Außenpolitik, Finanzpolitik - da haben die Piraten nicht viel zu bieten. Datenschutz im Internet? Griechenlandkrise? Stets ist der Tenor des Piratenchefs Sebastian Nerz:
"Wie man diese Krise löst, kann keine Partei beantworten, auch nicht die Piratenpartei."
Neben dem Mangel an konkreten Lösungsansätzen bemängeln Kritiker immer wieder, die Piraten seien eine Männerpartei.
"Wir wissen nicht, wie viele Frauen wir in der Partei haben. Wir erheben das Geschlecht nicht. Und wir glauben, dass echte Gleichberechtigung da beginnt, wo man aufhört, Frauen zu zählen."
Sagt Marina Weisband, 25 Jahre. Die junge Jüdin flüchtete mit ihren Eltern aus der Ukraine, studiert heute Psychologie und ist Geschäftsführerin der Piratenpartei.
"Aus irgendwelchen Gründen melden sich Frauen in der Politik nicht so gern zu Wort, aus irgendwelchen Gründen interessieren sie sich nicht so sehr für Technik."
Um mehr Piratinnen zu gewinnen, sagt der Berliner Fraktionschef Andreas Baum, versuche er eine andere Diskussionskultur zu etablieren, mit der sich auch Frauen wohl fühlen. Überhaupt scheint vielen Piraten die Art und Weise, wie Inhalte erarbeitet und umgesetzt werden, wichtiger als die Inhalte selbst zu sein. An erster Stelle des Grundsatzprogramms steht daher auch der alte Slogan Willy Brandts: "Mehr Demokratie wagen".
Und so ist es nicht ihr löchriges Programm, das den Piraten Wählerstimmen bringt, urteilt der Meinungsforscher Manfred Güllner von Forsa. Rund acht Prozent, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Mit dem von ihnen verkörperten Versprechen einer anderen, transparenteren Politik mit mehr Bürgerbeteiligung träfen die Piraten den Nerv breiter Bevölkerungsschichten:
"Das Hauptmotiv derer, die heute sagen, ich würde die Piraten auch bei einer Bundestagswahl wählen, ist, dass sie sagen: Ich habe kein Vertrauen mehr zu den anderen Parteien."
Die Politik erden, mehr Bürgerbeteiligung - das haben schon viele Parteien versprochen. Doch keine dieser Parteien wusste dafür die Möglichkeiten des Internets so effizient zu nutzen wie die Piratenpartei.
Das Hauptquartier der Piraten, ein Ladenlokal in Berlin Mitte. Der Fraktionschef der Berliner Piraten, Andreas Baum, sitzt vor seinem Rechner und loggt sich bei Liquid Feedback ein, dem Diskussions- und Abstimmungssystem der Piraten. Jedes Parteimitglied kann dort einen Antrag stellen. Etwa, dass in Mitgliedsanträgen gefragt wird, in welchen Parteien die Antragsteller vorher waren. So könnte die Partei eher auf Rechtsradikale aufmerksam werden und diese schneller wieder rauswerfen. Dieser Antrag wird eine gewisse Zeit offen diskutiert und irgendwann abgestimmt. Dabei gibt es eine weitere Besonderheit: Wer sich nicht für kompetent hält, kann seine Stimme an ein anderes, in dieser Frage fähigeres Parteimitglied übertragen.
Dieses Prinzip nennt sich Liquid Democracy. Diese flüssige Demokratie ist eine Erweiterung der repräsentativen Demokratie. Es wird öfter abgestimmt, transparenter abgestimmt und eher von Leuten, die wissen, über was sie abstimmen. Die Enquete-Kommission "Internet und Gesellschaft" des Bundestags testet diese Idee, um mehr Bürger zu beteiligen. Der Soziologe Michael Plaetau hält die flüssige Demokratie für ein brauchbares Rezept, Demokratie anzupassen an die sich schneller ändernde Welt. Und ein bisschen Liquid Democracy hätten die Piraten sogar schon in ein Parlament gebracht:
"Die Zusammenarbeit der Piratenpartei mit den Grünen im Europa-Parlament ist ein gutes Beispiel, da passiert das nämlich ganz genau: Wenn es um Umweltfragen geht, wo die Grünen die Kernkompetenz haben und wo die Piraten sagen, okay, da habt ihr mehr Erfahrung und wenn ihr gute Vorschläge macht, dann hängen wir uns da dran. Da müssen wir nicht ein eigenes Programm zu haben, wozu denn."
Auch wenn für das EU-Parlament besondere Regeln gelten, weil es keine Regierung stützt, keinen Fraktionszwang kennt und nicht im Fokus der Medien steht - die Aussicht auf eine sachlichere und flexiblere Politik, die Bürgern mehr Gehör und Mitsprache schenkt, hat Hunderttausende elektrisiert, sagt der Meinungsforscher Manfred Güllner - und das seien nicht nur Hacker und Internet-Süchtige:
"Und deshalb kann man die Piraten auch nicht mit den Grünen vergleichen. Die Grünen sind nicht Ausdruck einer breiten gesellschaftlichen Grundströmung gewesen. Es ist eine kleine Schicht gewesen, die die Grünen getragen hat. Das ist bei den Piraten völlig anders. Es sind breitere Schichten, es sind nicht nur junge, sondern auch mittelalte, es sind auch nicht nur die oberen Einkommens- und Bildungsschichten wie bei den Grünen."
130.000 Berliner haben sie als ihre Vertreter ins Berliner Landesparlament gewählt. Doch politischer Gestaltungswille ist bei den 15 Abgeordneten der Piraten nicht zu spüren, die morgen ihren Platz im Preußischen Landtag einnehmen werden.
"Zeile 15, die Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin steht den anderen Fraktionen für Gespräche zur Verfügung." "Genau 14 durch 19 ersetzen."
Die Hauptstadt vor drei Wochen. Nachdem SPD und Grüne in Berlin keine Koalition zustande bringen, wäre rechnerisch eine Regierung aus SPD, Linken und Piraten möglich. Nicht wirklich wahrscheinlich, aber die frisch gewählten Piraten müssen Stellung beziehen: Wollen sie regieren oder lieber nicht? Die Sitzung ist öffentlich und wird – in schlechter Qualität – im Internet übertragen.
Der Abgeordnete Pavel Meyer meint: Ziel sei immer eine rot-grüne Regierung gewesen, an der die Piraten nicht beteiligt sind. Aber sie seien gewählt, könnten sich nicht vor der Verantwortung drücken und müssten daher mit den anderen Fraktionen reden.
Sein Kollege Gerwald Claus-Brunner stellt fest, eine Regierungsbeteiligung wäre der zweite Schritt vor dem ersten. Die Fraktion müsse sich erst ordnen, Politik lernen, ansonsten würde sie "auf die Schnauze" fliegen.
Die Berliner Piraten wollen nicht regieren. Weil sie es nicht können, noch nicht, meint der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Martin Delius:
"Ich gehe nicht davon aus, dass diese Fraktion dazu in der Lage ist, eine Regierungsbeteiligung zu managen. Nicht, dass es uns nicht zusteht, es steht uns zu, wir sind gewählt worden. Ich sehe uns aber gerade in der Anfangsphase nicht in der Lage, dass wir das halten können, wenn wir versprechen, wir können regieren."
Ehrlich, aber langsam; überlegt, aber handzahm. Auch die folgenden Auftritte der Piraten in der Medienrepublik Deutschland verliefen hölzern. Dabei waren die Bedingungen optimal: Nach der Berlinwahl waren alle Scheinwerfer auf die Piraten gerichtet und wie für sie bestellt betrat der Staatstrojaner die politische Bühne. Eine dilettantisch programmierte Software, mit der der Staat Rechner ausspioniert und bewusst Grundsatzurteile des Verfassungsgerichts missachtet. Für die Piraten ein politischer Elfmeter im eigenen Stadion.
"Diese Diskussion um den Staatstrojaner war nicht nur ein Elfmeter, es war ein Elfmeter ohne Tormann. Den hätten sie ganz klar verwandeln müssen und sie haben es nicht getan."
Nicht nur Autor Martin Häusler wartete lange umsonst auf eine überzeugende Einordnung der Piraten.
Ausgerechnet die dauer-kommunizierenden Netzbewohner der Piratenpartei müssen sich für ihre träge Reaktion im Kampf der Argumente kritisieren lassen. Vielleicht aber sind das alles nur Reflexe des alten Polit-Systems, in dem sich charismatische Führungsfiguren Schaukämpfe liefern: dieser Zwang zur umgehenden Reaktion in den Medien; die Erwartung, Politiker müssten machthungrig und gestaltungsversessen sein. Nein, sagt Martin Häusler. In einer Mediengesellschaft müssten Inhalte durch Personen vermittelt, erklärt werden:
"Es fehlt an Führungspersonal, das genau in diesen entscheidenden Momenten raus geht und den Medienvertretern und den politischen Konkurrenten sagt: So, und nicht anders."
Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", ist sich da nicht so sicher. Vielleicht sind die Piraten die erste post-charismatische Partei. Im Podcast "Alternativlos", einem Internetradio zweier Führungsfiguren des Chaos Computer Clubs, sagt der FAZ-Herausgeber:
"Das wirkliches Phänomen, deren größte Stärke, ist gar nicht, dass sie sich in digitalen Systemen auskennen, sondern dass sie die Spiele nicht mitspielen, auch medial nicht mitspielen. Das ist gar nicht Verweigerung. Man hat manchmal auch den Eindruck, die Verstehen die auch gar nicht. Insofern sollte man ihnen diese Staatstrojaner-Schweigsamkeit auch nachsehen. Das wäre wirklich ein Virus im System. Wer nicht mitspielt im Spiel einer rein medial organisierten Gesellschaft, der könnte einen großen Vorteil haben. Insofern bin ich voll gespannter Erwartung."
Der Piraten-Virus verbreitet sich längst im System, die etablierten Parteien sind infiziert und reagieren sehr unterschiedlich. Allergische Reaktionen zeigte Renate Künast, damals noch grüne Spitzenkandidaten in Berlin:
"Auch Piraten kann man resozialisieren."
Ungewohnt selbstkritisch wurde SPD-Chef Sigmar Gabriel. Der Wahlerfolg der Piraten sei ein Grund, sich selbst Fragen zu stellen, statt deren Wähler oder Abgeordnete zu beschimpfen. Bei Hans-Peter Uhl, innenpolitischer Sprecher der CSU-Fraktion, löst der Piraten-Virus Angst aus:
"Es wäre schlimm, wenn unser Land am Ende regiert werden würde von Piraten und Chaoten aus dem Computerclub ... . Wenn Sie von - SPD und Teile von den Linken - auf Schmusekurs zu den Piraten gehen, ist das ihr Problem! Darin werden sie kein Glück haben."
Die Piraten haben die digitale Revolution im deutschen Parlamentarismus installiert. Alle Parteien sind infiziert von ihren inhaltlichen und methodischen Visionen. Doch jetzt müssen die Piraten aus Vision Politik machen und dafür vor allem personell aufrüsten. Viel Zeit haben sie dafür nicht: In zwei Jahren ist Bundestagswahl und spätestens ab morgen tickt die Uhr.
"Und wenn sich die Staatsanwaltschaft Darmstadt sich dann an die isländische Regierung wendet, dann dauert das sicher etwas länger und führt mit Sicherheit auch nicht zur Beschlagnahme irgendwelcher Server."
Es wird sich einiges ändern in Deutschland. Erstmals zieht die Piratenpartei in ein deutsches Landesparlament ein. Damit bekommt die digitale Revolution ihren parlamentarischen Arm. Die Piraten werden neue Themen in die Diskussion einbringen, und eine neue Art, Politik zu machen. Welch große Hoffnungen auf den Piraten lasten, machten Anhänger gleich bei der Wahlparty deutlich:
"Die Wahl ist der Durchbruch der Piraten in Deutschland. In Zukunft wird keine Wahl mehr ohne den Piratenbalken auskommen." "Ich habe die Piraten gewählt, einfach, damit wir mal die Chance haben, dass sich etwas ändert. Kann sein, dass in fünf Jahren alles Mist ist, aber ich dachte, das muss man mal ausprobieren."
Die Piraten schreiben Geschichte: 30 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik wurden die Grünen geboren, mischten das politische System ihrer Väter auf. Gut eine weitere Generation später, 30 Jahre nach Geburt der Ökopartei, betreten die unzufriedenen Kinder der digitalen Revolution die Bühne - und wollen das politische System ihrer 68er-Eltern modernisieren: mehr Sachverstand, mehr Transparenz, mehr Demokratie. Wieder mal eine Frischzellen-Kur für deutschen Parlamentarismus - diesmal mit der Effizienz digitaler Technik.
Die erste Piratenpartei der Welt wurde 2006 in Schweden gegründet. Urknall war die Beschlagnahme der Server von "The Pirate Bay", einer illegalen Tauschbörse vor allem für Filme und Musik. Piratenpartei - der Name ist ironisch, gemeint als Kritik an der Film- und Musikindustrie, die alle als Piraten bezeichnet, die urheberrechtlich geschützte Werke im Internet tauschen. Für Piraten ist Kopieren kein "Diebstahl geistigen Eigentums", sondern der zentrale Mehrwert einer neuen, vernetzten Welt: Digitale Güter sind beliebig kopierbar, werden durch Tausch nicht weniger, sondern mehr. Interessen einer überkommenen Industrie, so das Piraten-Credo, müssen zurückstehen: Wissen für alle ist wichtiger.
In Schweden wurde eine internationale Bewegung geboren, die heute 26 Piratenparteien zählt. Die Piratenpartei Deutschland wurde 2006 im Berliner Hacker-Treff cbase gegründet. Wie in Schweden seien die Mitglieder durch Eingriffe des Staates in das Internet politisiert worden, sagt Martin Häusler, Autor eines Buchs über die Piratenpartei: Netzsperren, Vorratsdatenspeicherung, Hacker-Paragrafen.
"Das waren staatliche Eingriffe in eine noch recht neue Welt, von der es hieß, es gibt unbegrenzte Freiheit, Millionen von Menschen wurden vom Internet und im Internet sozialisiert, haben ihre Berufe mit und in dem Internet ausgeübt und plötzlich kommen dann Staaten, Regierungen, Institutionen daher und greifen ein."
Fünf Jahre nach der Gründung zählt die Piratenpartei Deutschland knapp 16.000 Mitglieder und versteht sich nicht mehr als eine Ein-Thema-Partei:
"Netzpolitik wird häufig verstanden als eine Politik, die sich ausschließlich auf das Spielzeug Internet konzentriert."
Sebastian Nerz, der Bundesvorsitzende der Piratenpartei.
"Dabei verändert das Internet unsere Gesellschaft so grundlegend wie der Buchdruck und die Industrialisierung. Damit ist Netzpolitik zu einer Grundrechtspolitik geworden. Und eine Partei, die sich als Grundrechtspartei versteht, muss selbstverständlich auch Netzpolitik abdecken. Das bedeutet aber nicht, dass wir eine Netzpartei sind. Wir sind eine Grundrechtspartei."
Die Piraten setzen sich für eine Reform des Urheberrechts ein, das die digitale Realität anerkennt und die Interessen der Nutzer stärkt. Sie verlangen den freien Fluss und die maximale Verbreitung von Wissen. Dazu gehört, dass alle Bürger das Recht auf Zugang zum Internet haben, dass Daten-Netze einfach Bits transportieren und nicht nur Inhalte, die den Netzbetreibern ins Geschäft passen. Freies Wissen bedeutet nach Auffassung der Piraten, dass staatlich bezahlte Wissenschaftler ihr Wissen auch der Allgemeinheit zur Verfügung stellen müssen; dass der Staat vom Bürger finanzierte Daten veröffentlicht - und private Daten schützt; dass Kinder Schulbücher aus dem Netz laden, statt neue kaufen zu müssen, weil sich ein Absatz geändert hat. Um das Wissen auch vom Staat möglichst frei zum Bürger fließen zu lassen, setzt der Berliner Fraktionschef ein Thema ganz oben auf seine Agenda:
"Transparenz. Wir wollen dafür sorgen, dass erstmal der Grundsatz herrscht: Alles ist öffentlich. Und dann muss gefragt werden: Warum und aus welchen Gründen muss etwas hinter verschlossenen Türen stattfinden. Politik, die vom Bürger in Berlin bezahlt wird, sollte auch für ihn zugänglich sein."
Dies ist nicht die Agenda einer Ein-Thema-Partei, sagt der Soziologe Michael Plaetau. Er sieht die Piratenpartei als Ausdruck eines fundamentalen gesellschaftlichen Konflikts: Wie beim Streit zwischen Kommunisten und Kapitalisten geht es um die Frage: Wem gehören die Produktionsmittel? Wie ist das mit der Ware? Nur sind Produktionsmittel und Waren inzwischen nicht mehr allein aus Stahl und Kohlenstoff, sondern digital und kopierbar:
"Wissen wird zur Ware. Es ist nicht passiert, dass man allen Menschen den Zugang zum Weltwissen ermöglicht. Sondern man hat gesagt: Nun, meine Herren, bereichert Euch! Das Netz ist okkupiert worden von Interessen, die mit dem Internet Geld verdienen wollen. Und das ist ein Widerspruch. Und dieser Widerspruch ist für mich der entscheidende Auslöser für die Entstehung der ganzen Protestbewegung und ihres politischen Arms der Piratenpartei."
Wirtschaftspolitik, Außenpolitik, Finanzpolitik - da haben die Piraten nicht viel zu bieten. Datenschutz im Internet? Griechenlandkrise? Stets ist der Tenor des Piratenchefs Sebastian Nerz:
"Wie man diese Krise löst, kann keine Partei beantworten, auch nicht die Piratenpartei."
Neben dem Mangel an konkreten Lösungsansätzen bemängeln Kritiker immer wieder, die Piraten seien eine Männerpartei.
"Wir wissen nicht, wie viele Frauen wir in der Partei haben. Wir erheben das Geschlecht nicht. Und wir glauben, dass echte Gleichberechtigung da beginnt, wo man aufhört, Frauen zu zählen."
Sagt Marina Weisband, 25 Jahre. Die junge Jüdin flüchtete mit ihren Eltern aus der Ukraine, studiert heute Psychologie und ist Geschäftsführerin der Piratenpartei.
"Aus irgendwelchen Gründen melden sich Frauen in der Politik nicht so gern zu Wort, aus irgendwelchen Gründen interessieren sie sich nicht so sehr für Technik."
Um mehr Piratinnen zu gewinnen, sagt der Berliner Fraktionschef Andreas Baum, versuche er eine andere Diskussionskultur zu etablieren, mit der sich auch Frauen wohl fühlen. Überhaupt scheint vielen Piraten die Art und Weise, wie Inhalte erarbeitet und umgesetzt werden, wichtiger als die Inhalte selbst zu sein. An erster Stelle des Grundsatzprogramms steht daher auch der alte Slogan Willy Brandts: "Mehr Demokratie wagen".
Und so ist es nicht ihr löchriges Programm, das den Piraten Wählerstimmen bringt, urteilt der Meinungsforscher Manfred Güllner von Forsa. Rund acht Prozent, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre. Mit dem von ihnen verkörperten Versprechen einer anderen, transparenteren Politik mit mehr Bürgerbeteiligung träfen die Piraten den Nerv breiter Bevölkerungsschichten:
"Das Hauptmotiv derer, die heute sagen, ich würde die Piraten auch bei einer Bundestagswahl wählen, ist, dass sie sagen: Ich habe kein Vertrauen mehr zu den anderen Parteien."
Die Politik erden, mehr Bürgerbeteiligung - das haben schon viele Parteien versprochen. Doch keine dieser Parteien wusste dafür die Möglichkeiten des Internets so effizient zu nutzen wie die Piratenpartei.
Das Hauptquartier der Piraten, ein Ladenlokal in Berlin Mitte. Der Fraktionschef der Berliner Piraten, Andreas Baum, sitzt vor seinem Rechner und loggt sich bei Liquid Feedback ein, dem Diskussions- und Abstimmungssystem der Piraten. Jedes Parteimitglied kann dort einen Antrag stellen. Etwa, dass in Mitgliedsanträgen gefragt wird, in welchen Parteien die Antragsteller vorher waren. So könnte die Partei eher auf Rechtsradikale aufmerksam werden und diese schneller wieder rauswerfen. Dieser Antrag wird eine gewisse Zeit offen diskutiert und irgendwann abgestimmt. Dabei gibt es eine weitere Besonderheit: Wer sich nicht für kompetent hält, kann seine Stimme an ein anderes, in dieser Frage fähigeres Parteimitglied übertragen.
Dieses Prinzip nennt sich Liquid Democracy. Diese flüssige Demokratie ist eine Erweiterung der repräsentativen Demokratie. Es wird öfter abgestimmt, transparenter abgestimmt und eher von Leuten, die wissen, über was sie abstimmen. Die Enquete-Kommission "Internet und Gesellschaft" des Bundestags testet diese Idee, um mehr Bürger zu beteiligen. Der Soziologe Michael Plaetau hält die flüssige Demokratie für ein brauchbares Rezept, Demokratie anzupassen an die sich schneller ändernde Welt. Und ein bisschen Liquid Democracy hätten die Piraten sogar schon in ein Parlament gebracht:
"Die Zusammenarbeit der Piratenpartei mit den Grünen im Europa-Parlament ist ein gutes Beispiel, da passiert das nämlich ganz genau: Wenn es um Umweltfragen geht, wo die Grünen die Kernkompetenz haben und wo die Piraten sagen, okay, da habt ihr mehr Erfahrung und wenn ihr gute Vorschläge macht, dann hängen wir uns da dran. Da müssen wir nicht ein eigenes Programm zu haben, wozu denn."
Auch wenn für das EU-Parlament besondere Regeln gelten, weil es keine Regierung stützt, keinen Fraktionszwang kennt und nicht im Fokus der Medien steht - die Aussicht auf eine sachlichere und flexiblere Politik, die Bürgern mehr Gehör und Mitsprache schenkt, hat Hunderttausende elektrisiert, sagt der Meinungsforscher Manfred Güllner - und das seien nicht nur Hacker und Internet-Süchtige:
"Und deshalb kann man die Piraten auch nicht mit den Grünen vergleichen. Die Grünen sind nicht Ausdruck einer breiten gesellschaftlichen Grundströmung gewesen. Es ist eine kleine Schicht gewesen, die die Grünen getragen hat. Das ist bei den Piraten völlig anders. Es sind breitere Schichten, es sind nicht nur junge, sondern auch mittelalte, es sind auch nicht nur die oberen Einkommens- und Bildungsschichten wie bei den Grünen."
130.000 Berliner haben sie als ihre Vertreter ins Berliner Landesparlament gewählt. Doch politischer Gestaltungswille ist bei den 15 Abgeordneten der Piraten nicht zu spüren, die morgen ihren Platz im Preußischen Landtag einnehmen werden.
"Zeile 15, die Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin steht den anderen Fraktionen für Gespräche zur Verfügung." "Genau 14 durch 19 ersetzen."
Die Hauptstadt vor drei Wochen. Nachdem SPD und Grüne in Berlin keine Koalition zustande bringen, wäre rechnerisch eine Regierung aus SPD, Linken und Piraten möglich. Nicht wirklich wahrscheinlich, aber die frisch gewählten Piraten müssen Stellung beziehen: Wollen sie regieren oder lieber nicht? Die Sitzung ist öffentlich und wird – in schlechter Qualität – im Internet übertragen.
Der Abgeordnete Pavel Meyer meint: Ziel sei immer eine rot-grüne Regierung gewesen, an der die Piraten nicht beteiligt sind. Aber sie seien gewählt, könnten sich nicht vor der Verantwortung drücken und müssten daher mit den anderen Fraktionen reden.
Sein Kollege Gerwald Claus-Brunner stellt fest, eine Regierungsbeteiligung wäre der zweite Schritt vor dem ersten. Die Fraktion müsse sich erst ordnen, Politik lernen, ansonsten würde sie "auf die Schnauze" fliegen.
Die Berliner Piraten wollen nicht regieren. Weil sie es nicht können, noch nicht, meint der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Martin Delius:
"Ich gehe nicht davon aus, dass diese Fraktion dazu in der Lage ist, eine Regierungsbeteiligung zu managen. Nicht, dass es uns nicht zusteht, es steht uns zu, wir sind gewählt worden. Ich sehe uns aber gerade in der Anfangsphase nicht in der Lage, dass wir das halten können, wenn wir versprechen, wir können regieren."
Ehrlich, aber langsam; überlegt, aber handzahm. Auch die folgenden Auftritte der Piraten in der Medienrepublik Deutschland verliefen hölzern. Dabei waren die Bedingungen optimal: Nach der Berlinwahl waren alle Scheinwerfer auf die Piraten gerichtet und wie für sie bestellt betrat der Staatstrojaner die politische Bühne. Eine dilettantisch programmierte Software, mit der der Staat Rechner ausspioniert und bewusst Grundsatzurteile des Verfassungsgerichts missachtet. Für die Piraten ein politischer Elfmeter im eigenen Stadion.
"Diese Diskussion um den Staatstrojaner war nicht nur ein Elfmeter, es war ein Elfmeter ohne Tormann. Den hätten sie ganz klar verwandeln müssen und sie haben es nicht getan."
Nicht nur Autor Martin Häusler wartete lange umsonst auf eine überzeugende Einordnung der Piraten.
Ausgerechnet die dauer-kommunizierenden Netzbewohner der Piratenpartei müssen sich für ihre träge Reaktion im Kampf der Argumente kritisieren lassen. Vielleicht aber sind das alles nur Reflexe des alten Polit-Systems, in dem sich charismatische Führungsfiguren Schaukämpfe liefern: dieser Zwang zur umgehenden Reaktion in den Medien; die Erwartung, Politiker müssten machthungrig und gestaltungsversessen sein. Nein, sagt Martin Häusler. In einer Mediengesellschaft müssten Inhalte durch Personen vermittelt, erklärt werden:
"Es fehlt an Führungspersonal, das genau in diesen entscheidenden Momenten raus geht und den Medienvertretern und den politischen Konkurrenten sagt: So, und nicht anders."
Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", ist sich da nicht so sicher. Vielleicht sind die Piraten die erste post-charismatische Partei. Im Podcast "Alternativlos", einem Internetradio zweier Führungsfiguren des Chaos Computer Clubs, sagt der FAZ-Herausgeber:
"Das wirkliches Phänomen, deren größte Stärke, ist gar nicht, dass sie sich in digitalen Systemen auskennen, sondern dass sie die Spiele nicht mitspielen, auch medial nicht mitspielen. Das ist gar nicht Verweigerung. Man hat manchmal auch den Eindruck, die Verstehen die auch gar nicht. Insofern sollte man ihnen diese Staatstrojaner-Schweigsamkeit auch nachsehen. Das wäre wirklich ein Virus im System. Wer nicht mitspielt im Spiel einer rein medial organisierten Gesellschaft, der könnte einen großen Vorteil haben. Insofern bin ich voll gespannter Erwartung."
Der Piraten-Virus verbreitet sich längst im System, die etablierten Parteien sind infiziert und reagieren sehr unterschiedlich. Allergische Reaktionen zeigte Renate Künast, damals noch grüne Spitzenkandidaten in Berlin:
"Auch Piraten kann man resozialisieren."
Ungewohnt selbstkritisch wurde SPD-Chef Sigmar Gabriel. Der Wahlerfolg der Piraten sei ein Grund, sich selbst Fragen zu stellen, statt deren Wähler oder Abgeordnete zu beschimpfen. Bei Hans-Peter Uhl, innenpolitischer Sprecher der CSU-Fraktion, löst der Piraten-Virus Angst aus:
"Es wäre schlimm, wenn unser Land am Ende regiert werden würde von Piraten und Chaoten aus dem Computerclub ... . Wenn Sie von - SPD und Teile von den Linken - auf Schmusekurs zu den Piraten gehen, ist das ihr Problem! Darin werden sie kein Glück haben."
Die Piraten haben die digitale Revolution im deutschen Parlamentarismus installiert. Alle Parteien sind infiziert von ihren inhaltlichen und methodischen Visionen. Doch jetzt müssen die Piraten aus Vision Politik machen und dafür vor allem personell aufrüsten. Viel Zeit haben sie dafür nicht: In zwei Jahren ist Bundestagswahl und spätestens ab morgen tickt die Uhr.