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"Alle wollen mich, nur die Schneider nicht"

Drei Tage lang hatten oft Tausende von Menschen auf dem Petersplatz in Rom gewartet. Am Abend des dritten Wahltages, nach elf Wahlgängen, stieg aus dem Blechschornstein weißer Rauch in den erblassenden Abendhimmel. Nun wurde es zur Gewissheit: Die katholische Weltkirche hat ein neues Oberhaupt: Johannes XXIII. wurde vor 50 Jahren zum Papst gewählt - auch wenn ihm sämtliche Papstgewänder nicht passten.

Von Peter Hertel |
    28. Oktober 1958, Petersplatz in Rom. Kardinal Nicola Canali verkündet in der traditionellen lateinischen Formel "eine große Freude - wir haben einen Papst". Dann tritt er hervor, der Neue. Es ist Kardinal Angelo Giuseppe Roncalli, der 77-jährige Patriarch von Venedig, ein Bauernsohn aus den Bergamesker Alpen. Als Johannes XXIII. erteilt er zum ersten Mal den päpstlichen Segen.

    Die herzlichen Gesten, das gütige Lächeln Angelo Roncallis springen auf die Menschen über, auch wenn diese rundliche Gestalt manchem gar nicht als papstgemäß erscheinen mag - angesichts des Vorgängers, des asketisch gewachsenen, unnahbar-aristokratischen Pius' XII. Die weiße Soutane, die man Papst Johannes zumutet, zwängt ihn ein. Nicht ein einziges der fünf vorbereiteten, unterschiedlich breiten und langen Papstgewänder passt nämlich auf seine Figur. Er nimmt' es humorvoll. Schon bald macht das erste Bonmot des neuen Papstes die Runde: Alle wollten mich, nur die Schneider nicht.

    Die maßgeschneiderte Soutane bekam er schnell, doch die Enge des Vatikans ließ sich kaum überwinden. In den ersten 48 Stunden entkam er zwar mehrfach seinem Gefolge, aber sie entdeckten ihn dann doch, zum Beispiel in der Apostolischen Tischlerei, wo er mit den Arbeitern scherzte, Geschichtchen erzählte und Champagner trank.

    Im Alleingang fasste er - gerade mal drei Monate im Amt - den verwegenen Plan, die Engherzigkeit der Kurie, vor allem aber die Erstarrung katholischen Denkens aufzubrechen: Er beschloss, seine Kirche zu reformieren. Zum Entsetzen vieler vatikanischer Monsignori und Kardinäle rief er das Zweite Vatikanische Konzil aus, das er nach dreijähriger Vorbereitung eröffnete. Dabei packte er sich die Bremser.

    "Oft verletzt es uns, wenn wir uns bei der Ausübung unseres päpstlichen Amtes Vorhaltungen anhören müssen von eifernden, nicht gerade differenziert denkenden, nicht gerade taktvollen Leuten. Sie nehmen nur Missstände und Fehlentwicklungen zur Kenntnis. Sie behaupten, unsere Zeit entwickle sich, verglichen mit der Vergangenheit, hin zum Schlechteren. Sie tun so, als ob sie nichts aus der Geschichte gelernt hätten. Wir müssen diesen Unglückspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstehe."

    Es ist kaum zu fassen: Ein fast 80-jähriger Greis leitet die Kirchenreform ein. Die katholische Kirche solle aus einem Jahrhundertschlaf erwachen, einen Sprung nach vorn machen, wünscht er. Dass Johannes XXIII. diese Vision entwarf und sie gegen die überaus mächtigen Unglückspropheten zu verwirklichen begann, das hat seine Bedeutung und seinen Ruhm begründet.

    Binnen kurzem eroberte er nicht nur die Herzen des Kirchenvolkes, sondern gewann auch jenseits der Konfessionsgrenze hohes Ansehen. Als ein Neffe ihn fragte, warum er sogar bei Politikern Erfolg habe, antwortete er:

    "Weil ich immer die Wahrheit sage, obwohl die anderen das Gegenteil vermuten."

    Sein zweites großes Wirkungsfeld hieß neben der Kirchenreform: Gerechtigkeit und Frieden. Als erster Papst bezog er in seiner Enzyklika "Mater et magistra" die notleidenden Völker außerhalb Europas in die sogenannte soziale Frage ein. Und in seinem ebenfalls sehr bedeutsamen Rundschreiben "Pacem in terris - Friede auf Erden" verurteilte er unter anderem die atomare Bewaffnung - ohne Wenn und Aber.

    Es war das erste päpstliche Lehrschreiben, das sich an alle Christinnen und Christen richtete, ja sogar an alle "Menschen guten Willens". Sie nahm er auch in seinem Testament in den Blick, das er bei seinem Tode, Pfingsten 1963, hinterlassen hat:

    "Der Augenblick ist gekommen, die Zeichen der Zeit zu erkennen und die Möglichkeiten zu ergreifen, die unsere Zeit uns bietet. Mehr denn je sind wir heute darauf ausgerichtet, überall die Rechte der Menschen zu verteidigen - nicht nur diejenigen der Katholiken und der katholischen Kirche."