Rüdiger Achenbach: Wir haben über Abraham gesprochen – im Judentum – und über das Abrahamverständnis im Islam. Ganz anders sieht es im Christentum aus. Für die Christen ist Abraham der Vater aller Glaubenden. Die Christen sind also sozusagen Kinder Abrahams auf einer spirituellen Ebene, wenn man das so ausdrücken möchte. Kann man diese Vorstellung von der jüdischen Tradition her nachvollziehen?
Edna Brocke: Also, wenn ich ganz ehrlich bin: nein. Vater aller Glaubenden, das wird immer ein Vers zitiert, der das Wort Emuna enthält, was man mit dem Wort Glauben übersetzen kann. Für mich ist das ein Versuch, sich in die Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie in der jüdischen Bibel beschrieben ist, einzubinden, obwohl man eigentlich den ganzen politischen und ontischen Aspekt ablehnt.
Achenbach: Das heißt, hier wäre schon ein großer Unterschied zum Islam in der Anfangszeit.
Brocke: Absolut. Die Idee, dass man die ontische Ebene verlässt, ist ein Kennzeichen der christlichen Variante auf diesem Markt der Möglichkeiten von Religionen. Ich verstehe, warum es entstanden ist, weil man mit diesem theologischen Konzept Fuß fassen wollte, primär bei Juden, erst später dann bei Heiden. Und um sich bei Juden verständlich zu machen, wollte man sagen, wir knüpfen auch bei Abraham an.
Achenbach: Es geht ja auf Paulus zurück. Den Apostel Paulus, ein geborener Jude, der diesen Prozess im Grunde genommen eingeleitet hat. Paulus schließt sich erst einmal einer innerjüdischen Bewegung an, die Jesus Christus als den gekommenen Messias anerkennt. Und Paulus ist der Meinung, dass nun alle, die an Christus glauben, sich dem Christentum anschließen – der Kirche, dass es dort keinen Unterschied mehr gibt zwischen Heiden – meistens Griechen – und den Juden, sondern dass alle in Christus eins werden. Über diese Offenbarung in Christus geht sozusagen auch die Heilszusage nach seiner Vorstellung vom Judentum, das sie nicht richtig anerkannt hat, weil es sich nicht Jesus Christus angeschlossen hat, an die Kirche. Das heißt also, er versucht auf diese Weise das Volk Israel in die Kirche zu integrieren, wenn es sich zu Christus bekennt.
Brocke: Ja, aber die Mehrheit der Juden hat damals wie heute gesagt, das ist nicht unser Weg. Wenn ein Jude einen anderen Weg gehen will, dann ist das seine Entscheidung, diesen Weg zu gehen. Und Juden in der Diaspora – und Paulus war ja ein Diaspora-Jude – der ja auch – er schreibt zwar, dass er hebräisch in Jerusalem gelernt hat – kein Hebräisch konnte. Denn ich seinen Briefen zitiert er nur die Septuaginta.
Achenbach: Er kommt aus dem griechisch-sprachigen Umfeld.
Brocke: Er kommt aus dem gräzisierten Umfeld, genau. Er konnte kein Hebräisch. Somit war ihm auch das hebräisch tradierende Denken sehr fremd. Von daher konnte er so eine Idee hegen. Es gibt ja auch in der Moderne Juden, die die ontische Ebene abkoppeln wollen vom Jude-Sein, die dieses Binom ablehnen und dann von einem erfundenen jüdischen Volk sprechen.
Achenbach: Das heißt, im Grunde genommen stuft er das Judentum von – wie Sie es beschrieben haben – der Seins-Gemeinschaft weg auf eine Religionsgemeinschaft, die aber nicht auf dem aktuellen Stand ist.
Brocke: Ja, kann man so sagen. Genauso.
Achenbach: Das Christentum hat vom Judentum die jüdische Bibel – das Alte Testament, wie die Christen es nennen – übernommen. Verändern sie damit auch die Bedeutung der Schrift?
Brocke: Absolut. Für uns ist es ja nicht nur ein Glaubensbuch, sondern für uns ist es unser Geschichtsbuch. Es erzählt die Geschichte, so wie sie tradiert wurde. Das ist jetzt keine wissenschaftliche Aussage über antike Realitäten.
Achenbach: Man kann es nicht mit reiner Historie vergleichen, also mit einer historischen Forschung. Sondern das ist die Vorstellung von Geschichte, die man auch in der Antike hatte.
Brocke: Genau. Und so wurde sie über Generationen innerjüdisch tradiert. Die jüdische Bibel ist unser Geschichtsbuch. Die Geschichte des jüdischen Volkes in der jüdischen Bibel ist eine Geschichte, die Höhen und Tiefen darstellt, die positive Gestalten genauso wie negative Gestalten oder negative Züge an sehr positiven Gestalten beschreibt. Ein David ist nur der große König, sondern er ist auch derjenige, der Uria ins Feld schickt und so weiter. Also alle Gestalten sind sehr nah an uns Menschen, wie wir die Menschen kennen, werden nicht verherrlicht – auch nicht die Propheten. Insofern ist es ein tradierter Text, der unsere Geschichte oder der uns mit der Kette der Generationen von der Antike bis heute verbindet. Und indem Christen ihn als einen Glaubenstext aufgenommen haben, haben sie sich abgkoppelt.
Achenbach: Das heißt, sie haben ihn aus der jüdischen Tradition herausgenommen und haben ihn christlich interpretiert. Das heißt, auf Christus hin interpretiert.
Brocke: Ja. So ist es. Die wirklich entscheidenden Texte – zum Beispiel das Buch Leviticus, also das 3. Buch Mose – ich weiß jetzt nicht, ob es überhaupt vorkommt im christlichen Gottesdienst, und wenn, dann hat es keine Relevanz.
Achenbach: Und man kann es ja auch sehen, vor allem in der Zeit der sogenannten Kirchenväter, dass nur ganz wenige Bücher überhaupt aufgegriffen und kommentiert werden. In der Regel kann man sagen, das ist die Genesis – also das 1. Buch Mose, wie man auch im Christentum sagt. Dann vielleicht das Hohe Lied. Die Psalmen haben eine wichtige Rolle gespielt – für das Gottesverhältnis, aber auch um Christus dort zu erkennen. David geht mit in die Genealogie von Jesus im Stammbaum. Das heißt also, man erkennt überall, das ist diese Christus-Bezogenheit. So im Grunde genommen das, was Luther auf die Formel gebracht hat: "was Christum treibet", das interessiert ihn. Das heißt also, man muss es auf Christus hin auslegen. Und das ist natürlich vollkommen anders verstanden, als die Schriften ursprünglich verfasst sind.
Brocke: Und so werden auch die Propheten – jetzt sage ich mal – instrumentalisiert, um sie auf Christus hin auslegen zu können. Aber ihr Kontext ist ein anderer. Ich wollte noch ein Beispiel nennen, wo mir der Unterschied so deutlich wird. Wenn Christen einen öffentlichen Gottesdienst abhalten, egal wie viele Personen daran teilnehmen, der Gottesdienst findet dann statt, wenn man die Eingangsformel "In Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes" gesprochen hat. Dann ist die Gemeinde konstituiert und dann kann der Gottesdienst stattfinden. Bei uns kommt es darauf an, dass ein bestimmtes Quorum von Juden da ist. In der Regel zehn Juden, in der Reformgemeinde können es männliche und weibliche sein.
Achenbach: Traditionell waren es nur zehn Männer.
Brocke: Nur Männer. Aber zehn Juden im Alter von 13 und aufwärts. Und ob die was glauben oder nicht, keiner wird gefragt. Sondern er ist da, und indem er da ist, ist die Zahl 10 anwesend, fängt der Gottesdienst an.
Achenbach: Auch hier muss man deutlich machen, geht es nicht nur um die Glaubensgemeinschaft, sondern um die Seins-Gemeinschaft.
Brocke: Genau.
Achenbach: Sehen Sie denn heute in der christlichen Forschung des Alten Testaments – diese Forschung hat sich ja weiter entwickelt – eine stärkere Annäherung zwischen Juden und Christen, als man das früher traditionell gemacht hatte, indem man wirklich streng nur alles auf Jesus hin ausgelegt hat? Denn heute, kann man sagen seit mindestens 100 Jahren, versucht man ja auch mehr vom Judentum zu verstehen, um auch das Alte Testament anders auszulegen.
Brocke: Ja – Komma – aber. Also erst einmal ja. Es ist erfreulich, dass es eine – zwar sehr kleine, vielleicht auch inzwischen kleiner werdende – Gruppe von Alttestamentlern gibt im christlichen Bereich, sowohl im katholischen wie im evangelischen, die echte Versuche unternehmen, den jüdischen Aspekt der Texte zu verstehen, sowohl aus der antiken Gesamtsituation als auch von den hebräischen Texten, so wie sie vorliegen. Und das finde ich sehr schön. Das "Komma – aber" ist, wenn man diese Forschung wirklich ehrlich weiter betreibt, kommt man in ein christliches Identitätsdilemma. Jedenfalls ist das meine Beobachtung bei all den Freunden, die ich kenne. Mit all dem Forschungsbemühungen, wenn man sie konsequent zu Ende denkt, kommt die Frage: kann ich als einzelner Mensch wirklich das noch so glauben, was meine Kirche mit vorgibt – ob jetzt katholisch oder evangelisch – an Grundlagen meiner kirchlichen Bindung. Oder bin ich dann als Christ irgendwo für mich isoliert und außerhalb der christlichen Gemeinschaft.
Achenbach: Überlegungen, die es ja auch schon ganz früh im Christentum gegeben hat – zur Zeit der Kirchenväter, also in der Spätantike vor allem. Wenn man daran denkt, dass ein damaliger Theologe, nachher umstritten, wie Markion genau an dieser Stelle war, dass er gesagt hat: können wir als Christen einfach das Buch der Juden übernehmen oder haben wir nicht einfach mit dem Neuen Testament unser Fundament. Und nehmen die Teile aus dem Neuen Testament, die nun auch nicht unbedingt in Verbindung mit dem Alten Testament stehen. Diese Auswahl, die er getroffen hat, war ja nun auch schon der Versuch damals zu sagen, es ist schwer das zu vermitteln. Oder wir begeben uns auf den Bereich der allegorischen und symbolischen Auslegung und versuchen auf diesem Weg, alles, was man auch im Neuen Testament findet, irgendwie schon vorgedacht als Vorstufe im Alten Testament.
Brocke: Das ist der Punkt, wo viel christliche Freunde im Gespräch zwischen Christen und Juden nicht verstehen, wenn ich sage, die Frage des Marcion oder Markion – das ist die Frage, die heute gestellt werden muss. Wie kann man christliche Identität im Lichte der Erkenntnis, dass die jüdische Bibel ein Geschichtsbuch ist, wie kann man sich als Christ mit diesen Texten so auseinandersetzen, dass man Christ ist und bleibt, aber uns nicht etwas wegnimmt und so uminterpretiert, dass es am Ende in der Geschichte ja immer wieder gegen uns verwendet wurde. Und die Frage – ich sage ja nicht, dass die Antwort von Marcion mir gefällt – aber seine Fragestellung deutet auf den Kern aus meiner Sicht der richtigen Fragestellung, wenn man überhaupt so etwas wie einen Dialog zwischen Christen und Juden auf theologischer Ebene versucht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Edna Brocke: Also, wenn ich ganz ehrlich bin: nein. Vater aller Glaubenden, das wird immer ein Vers zitiert, der das Wort Emuna enthält, was man mit dem Wort Glauben übersetzen kann. Für mich ist das ein Versuch, sich in die Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie in der jüdischen Bibel beschrieben ist, einzubinden, obwohl man eigentlich den ganzen politischen und ontischen Aspekt ablehnt.
Achenbach: Das heißt, hier wäre schon ein großer Unterschied zum Islam in der Anfangszeit.
Brocke: Absolut. Die Idee, dass man die ontische Ebene verlässt, ist ein Kennzeichen der christlichen Variante auf diesem Markt der Möglichkeiten von Religionen. Ich verstehe, warum es entstanden ist, weil man mit diesem theologischen Konzept Fuß fassen wollte, primär bei Juden, erst später dann bei Heiden. Und um sich bei Juden verständlich zu machen, wollte man sagen, wir knüpfen auch bei Abraham an.
Achenbach: Es geht ja auf Paulus zurück. Den Apostel Paulus, ein geborener Jude, der diesen Prozess im Grunde genommen eingeleitet hat. Paulus schließt sich erst einmal einer innerjüdischen Bewegung an, die Jesus Christus als den gekommenen Messias anerkennt. Und Paulus ist der Meinung, dass nun alle, die an Christus glauben, sich dem Christentum anschließen – der Kirche, dass es dort keinen Unterschied mehr gibt zwischen Heiden – meistens Griechen – und den Juden, sondern dass alle in Christus eins werden. Über diese Offenbarung in Christus geht sozusagen auch die Heilszusage nach seiner Vorstellung vom Judentum, das sie nicht richtig anerkannt hat, weil es sich nicht Jesus Christus angeschlossen hat, an die Kirche. Das heißt also, er versucht auf diese Weise das Volk Israel in die Kirche zu integrieren, wenn es sich zu Christus bekennt.
Brocke: Ja, aber die Mehrheit der Juden hat damals wie heute gesagt, das ist nicht unser Weg. Wenn ein Jude einen anderen Weg gehen will, dann ist das seine Entscheidung, diesen Weg zu gehen. Und Juden in der Diaspora – und Paulus war ja ein Diaspora-Jude – der ja auch – er schreibt zwar, dass er hebräisch in Jerusalem gelernt hat – kein Hebräisch konnte. Denn ich seinen Briefen zitiert er nur die Septuaginta.
Achenbach: Er kommt aus dem griechisch-sprachigen Umfeld.
Brocke: Er kommt aus dem gräzisierten Umfeld, genau. Er konnte kein Hebräisch. Somit war ihm auch das hebräisch tradierende Denken sehr fremd. Von daher konnte er so eine Idee hegen. Es gibt ja auch in der Moderne Juden, die die ontische Ebene abkoppeln wollen vom Jude-Sein, die dieses Binom ablehnen und dann von einem erfundenen jüdischen Volk sprechen.
Achenbach: Das heißt, im Grunde genommen stuft er das Judentum von – wie Sie es beschrieben haben – der Seins-Gemeinschaft weg auf eine Religionsgemeinschaft, die aber nicht auf dem aktuellen Stand ist.
Brocke: Ja, kann man so sagen. Genauso.
Achenbach: Das Christentum hat vom Judentum die jüdische Bibel – das Alte Testament, wie die Christen es nennen – übernommen. Verändern sie damit auch die Bedeutung der Schrift?
Brocke: Absolut. Für uns ist es ja nicht nur ein Glaubensbuch, sondern für uns ist es unser Geschichtsbuch. Es erzählt die Geschichte, so wie sie tradiert wurde. Das ist jetzt keine wissenschaftliche Aussage über antike Realitäten.
Achenbach: Man kann es nicht mit reiner Historie vergleichen, also mit einer historischen Forschung. Sondern das ist die Vorstellung von Geschichte, die man auch in der Antike hatte.
Brocke: Genau. Und so wurde sie über Generationen innerjüdisch tradiert. Die jüdische Bibel ist unser Geschichtsbuch. Die Geschichte des jüdischen Volkes in der jüdischen Bibel ist eine Geschichte, die Höhen und Tiefen darstellt, die positive Gestalten genauso wie negative Gestalten oder negative Züge an sehr positiven Gestalten beschreibt. Ein David ist nur der große König, sondern er ist auch derjenige, der Uria ins Feld schickt und so weiter. Also alle Gestalten sind sehr nah an uns Menschen, wie wir die Menschen kennen, werden nicht verherrlicht – auch nicht die Propheten. Insofern ist es ein tradierter Text, der unsere Geschichte oder der uns mit der Kette der Generationen von der Antike bis heute verbindet. Und indem Christen ihn als einen Glaubenstext aufgenommen haben, haben sie sich abgkoppelt.
Achenbach: Das heißt, sie haben ihn aus der jüdischen Tradition herausgenommen und haben ihn christlich interpretiert. Das heißt, auf Christus hin interpretiert.
Brocke: Ja. So ist es. Die wirklich entscheidenden Texte – zum Beispiel das Buch Leviticus, also das 3. Buch Mose – ich weiß jetzt nicht, ob es überhaupt vorkommt im christlichen Gottesdienst, und wenn, dann hat es keine Relevanz.
Achenbach: Und man kann es ja auch sehen, vor allem in der Zeit der sogenannten Kirchenväter, dass nur ganz wenige Bücher überhaupt aufgegriffen und kommentiert werden. In der Regel kann man sagen, das ist die Genesis – also das 1. Buch Mose, wie man auch im Christentum sagt. Dann vielleicht das Hohe Lied. Die Psalmen haben eine wichtige Rolle gespielt – für das Gottesverhältnis, aber auch um Christus dort zu erkennen. David geht mit in die Genealogie von Jesus im Stammbaum. Das heißt also, man erkennt überall, das ist diese Christus-Bezogenheit. So im Grunde genommen das, was Luther auf die Formel gebracht hat: "was Christum treibet", das interessiert ihn. Das heißt also, man muss es auf Christus hin auslegen. Und das ist natürlich vollkommen anders verstanden, als die Schriften ursprünglich verfasst sind.
Brocke: Und so werden auch die Propheten – jetzt sage ich mal – instrumentalisiert, um sie auf Christus hin auslegen zu können. Aber ihr Kontext ist ein anderer. Ich wollte noch ein Beispiel nennen, wo mir der Unterschied so deutlich wird. Wenn Christen einen öffentlichen Gottesdienst abhalten, egal wie viele Personen daran teilnehmen, der Gottesdienst findet dann statt, wenn man die Eingangsformel "In Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes" gesprochen hat. Dann ist die Gemeinde konstituiert und dann kann der Gottesdienst stattfinden. Bei uns kommt es darauf an, dass ein bestimmtes Quorum von Juden da ist. In der Regel zehn Juden, in der Reformgemeinde können es männliche und weibliche sein.
Achenbach: Traditionell waren es nur zehn Männer.
Brocke: Nur Männer. Aber zehn Juden im Alter von 13 und aufwärts. Und ob die was glauben oder nicht, keiner wird gefragt. Sondern er ist da, und indem er da ist, ist die Zahl 10 anwesend, fängt der Gottesdienst an.
Achenbach: Auch hier muss man deutlich machen, geht es nicht nur um die Glaubensgemeinschaft, sondern um die Seins-Gemeinschaft.
Brocke: Genau.
Achenbach: Sehen Sie denn heute in der christlichen Forschung des Alten Testaments – diese Forschung hat sich ja weiter entwickelt – eine stärkere Annäherung zwischen Juden und Christen, als man das früher traditionell gemacht hatte, indem man wirklich streng nur alles auf Jesus hin ausgelegt hat? Denn heute, kann man sagen seit mindestens 100 Jahren, versucht man ja auch mehr vom Judentum zu verstehen, um auch das Alte Testament anders auszulegen.
Brocke: Ja – Komma – aber. Also erst einmal ja. Es ist erfreulich, dass es eine – zwar sehr kleine, vielleicht auch inzwischen kleiner werdende – Gruppe von Alttestamentlern gibt im christlichen Bereich, sowohl im katholischen wie im evangelischen, die echte Versuche unternehmen, den jüdischen Aspekt der Texte zu verstehen, sowohl aus der antiken Gesamtsituation als auch von den hebräischen Texten, so wie sie vorliegen. Und das finde ich sehr schön. Das "Komma – aber" ist, wenn man diese Forschung wirklich ehrlich weiter betreibt, kommt man in ein christliches Identitätsdilemma. Jedenfalls ist das meine Beobachtung bei all den Freunden, die ich kenne. Mit all dem Forschungsbemühungen, wenn man sie konsequent zu Ende denkt, kommt die Frage: kann ich als einzelner Mensch wirklich das noch so glauben, was meine Kirche mit vorgibt – ob jetzt katholisch oder evangelisch – an Grundlagen meiner kirchlichen Bindung. Oder bin ich dann als Christ irgendwo für mich isoliert und außerhalb der christlichen Gemeinschaft.
Achenbach: Überlegungen, die es ja auch schon ganz früh im Christentum gegeben hat – zur Zeit der Kirchenväter, also in der Spätantike vor allem. Wenn man daran denkt, dass ein damaliger Theologe, nachher umstritten, wie Markion genau an dieser Stelle war, dass er gesagt hat: können wir als Christen einfach das Buch der Juden übernehmen oder haben wir nicht einfach mit dem Neuen Testament unser Fundament. Und nehmen die Teile aus dem Neuen Testament, die nun auch nicht unbedingt in Verbindung mit dem Alten Testament stehen. Diese Auswahl, die er getroffen hat, war ja nun auch schon der Versuch damals zu sagen, es ist schwer das zu vermitteln. Oder wir begeben uns auf den Bereich der allegorischen und symbolischen Auslegung und versuchen auf diesem Weg, alles, was man auch im Neuen Testament findet, irgendwie schon vorgedacht als Vorstufe im Alten Testament.
Brocke: Das ist der Punkt, wo viel christliche Freunde im Gespräch zwischen Christen und Juden nicht verstehen, wenn ich sage, die Frage des Marcion oder Markion – das ist die Frage, die heute gestellt werden muss. Wie kann man christliche Identität im Lichte der Erkenntnis, dass die jüdische Bibel ein Geschichtsbuch ist, wie kann man sich als Christ mit diesen Texten so auseinandersetzen, dass man Christ ist und bleibt, aber uns nicht etwas wegnimmt und so uminterpretiert, dass es am Ende in der Geschichte ja immer wieder gegen uns verwendet wurde. Und die Frage – ich sage ja nicht, dass die Antwort von Marcion mir gefällt – aber seine Fragestellung deutet auf den Kern aus meiner Sicht der richtigen Fragestellung, wenn man überhaupt so etwas wie einen Dialog zwischen Christen und Juden auf theologischer Ebene versucht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.