"Ich war die einzige, die den Mut hatte, ins Schlafzimmer unserer Eltern zu gehen. Im Dunkeln, wenn beide schliefen, schlich ich mich langsam und auf Zehenspitzen zum Fußende ihres Bettes. Dort hob ich die Bettdecke an einem Zipfel hoch und schlüpfte zu ihnen ins Bett. Zu ihren Füßen lag ich dann, eingerollt auf engstem Raum wie eine Katze. Meine Mutter und mein Vater traten im Schlaf nach mir; aber ich blieb trotzdem. So groß war mein Verlangen nach ihnen. Ich hab mir ihre Zuneigung erschlichen. Sie haben mich nie dabei erwischt."
Die kleine Esma muss sich von ihren Eltern Nähe und Wärme heimlich stehlen wie ein Dieb. Freiwillig verschenkte Liebe gibt es in ihrem Elternhaus genauso selten wie Anteilnahme, Förderung und Respekt. Das Erziehungsziel heißt nicht Selbstständigkeit, sondern Unterwerfung. "Ich durfte nur das tun, was mein Vater sagt", erzählt die 47jährige Esma Abdelhamid heute.
"Mein Vater hat die Gebote gemacht. Also: Das ist verboten, das ist verboten, das ist verboten. Also, erlaubt hat er so gut wie nichts. Aber wenn er nicht da war, dann hab ich gesagt: ‚Lauf, klettere auf den Baum oder spiel Verstecken’. Das war schon sehr mutig von mir, ja."
Wenn Esmas Ungehorsam ans Licht kommt, wird sie bestraft. Darin sei ihr Vater konsequent gewesen, stellt sie im Rückblick nüchtern fest.
"Mein Vater hat sofort zugeschlagen. Ich denke im Nachhinein so: Vielleicht wollte er ja auch so, damit er vorher gar nicht überlegt, schlag ich mein Kind oder schlag ich mein Kind nicht, also er hat sofort reagiert und er hat sofort geschlagen."
Auf Schulbildung legen ihre Eltern keinen Wert; Esma Abdelhamid lernt weder Lesen noch Schreiben. Als sie 19 Jahre alt ist, verheiratet ihr Vater sie mit einem Mann, den sie noch nie im Leben gesehen hat. Gefragt wird sie nicht. Der Bräutigam arbeitet in Hamburg, verdient genügend Geld, um eine Familie ernähren zu können. Der Vater hält ihn für eine gute Partie. Doch der Ehemann entpuppt sich als gefühlskalter Mensch, der seine junge Frau grün und blau prügelt, demütigt, einsperrt und vergewaltigt.
"Das war eine Zwangsehe, und sie muss funktionieren. Es ist ja alles auf MUSS. Ich muss als verheiratete Frau zu meinem Mann halten, ich muss alles tun, was er verlangt, alles, was er von mir halt verlangt, Sie verstehen, was ich meine? Und: Ich bin nun mal verheiratet, das ist so wie ein Urteil!"
Die zur Ehe Verurteilte wird von ihrem Mann von Tunesien nach Hamburg verfrachtet. An einen Ort, von dem sie noch nie gehört hat, wo sie niemanden kennt und sich nicht verständigen kann, weil sie die Sprache nicht spricht. Da sie Analphabetin ist, kann sie nicht selbstständig einkaufen gehen, keinen Fahrplan lesen und sich nicht über Hilfsangebote informieren. Esma Abdelhamid ist in der Fremde festgefroren wie in einer emotionalen Eiswüste.
"Mein Mann hatte mir eingeschärft, weder ans Telefon zu gehen, wenn es klingelte, noch die Tür aufzumachen, wenn er weg war. Es konnte ja sowieso nicht für mich sein. Keiner kannte mich und ich kannte keinen. Seine Verbote verunsicherten mich. Nicht einmal auf die Toilette, die im Treppenhaus lag, traute ich mich zu gehen. Jedes Mal, wenn ich musste, schaute ich erst durch den Türspalt, um mich zu vergewissern, dass ich auch niemandem begegne. Wie eine Gefangene."
Zwölf Jahre wird diese Frau in Hamburg leben, ohne Deutsch zu lernen und ohne jemals die Alster gesehen zu haben. Sie bekommt drei Kinder. Schließlich verlässt ihr Mann sie und entführt die Kinder. Ein Schlag, an dem sie fast zerbricht, aber sie erwacht und beginnt zu kämpfen.
"Wie konnte ich so lange aushalten! Das zeigt für mich: Unter schlechtesten Bedingungen überhaupt, die es auf dieser Erde gibt, für einen Mensch, wenn er überleben möchte, dann kämpft er. Und dann kann man ja auch alles Mögliche überleben."
Esma Abdelhamid nimmt in einem Frauenhaus Zuflucht, beginnt Deutsch zu lernen, macht eine Therapie und erstreitet sich schließlich vor einem tunesischen Gericht das Sorgerecht für ihre Kinder. Und sie lernt Lesen und Schreiben. Sie reicht sogar einen kurzen Text über ihre Lebensgeschichte bei einem Volkshochschul-Wettbewerb ein. Das ist der Zeitpunkt, als die Journalistin Marianne Moesle die Tunesierin kennenlernt. Denn sie sitzt in der Jury.
"Dieser Text war sehr eindrucksvoll. Der hat mich auch begleitet, wochenlang eigentlich, diese Zwangsheirat, und dass sie einfach mehr oder weniger weggekarrt wird in ein Land, von dem sie keine Ahnung hatte, ohne, dass sie will."
Marianne Moesle unterhält sich mit der Preisträgerin und schreibt einen Artikel über sie, der die Aufmerksamkeit eines Literaturagenten erregt. Das Projekt "Löwenmutter" ist geboren.
"Esma Abdelhamid war sofort Feuer und Flamme. Die hat gesagt: ‚Ja, klar, das ist die Chance meines Lebens! Endlich kann ich alles sagen’. Und ich hab mich eigentlich von ihrer Begeisterung anstecken lassen, und fand 's toll, dass es alles rauskommen soll."
Marianne Moesle stellt Fragen, besucht die Orte, an denen Esma Abdelhamid gelebt hat und fügt die Elemente ihrer Recherche zu Hause am Schreibtisch zusammen. Das Buch ist aber keine dokumentarische Collage, sondern der Versuch einer Europäerin, sich so intensiv in eine arabische Frau hineinzuversetzen, dass quasi eine Art Autobiografie entsteht. Diese Einfühlung, erzählt die Journalistin, habe sich hauptsächlich am Schreibtisch vollzogen, als sie sich Esma Abdelhamids Erlebnisse im Kopf ausmalen musste, um sie beschreiben zu können. Ein mühevolles Ringen um ein ausgewogenes Verhältnis von Distanz und Nähe.
"Ich weiß noch, ich hab zum Beispiel die Geburt ihres ersten Sohnes geschrieben und merk plötzlich, wie meine Brust anfängt, zu spannen. Da dachte ich: Huch, jetzt ist die Identifikation aber sehr groß Und es gab auch viele Situationen, wo ich dann wütend wurde, dass sie sich nicht gewehrt hat, als sie von ihrem Mann gedemütigt wurde. Es war auch viel Wut dabei."
Mitunter muss Marianne Moesle beim Schreiben sogar mit den Tränen kämpfen. Zum Beispiel, als sie eine Szene zu Papier bringt, in der Esma Abdelhamid auf dem Spielplatz vor ihrer Hamburger Wohnung eine Frau aus Tunesien kennenlernt. Die erste Person seit Jahren, mit der sie ein persönliches Gespräch führt, ohne, dass ihr Mann dabei ist. Schnell stellt sich heraus: Beide Frauen sind zwangsverheiratet worden - und das ist nicht ihre einzige Gemeinsamkeit.
"Plötzlich schob sie mit den Händen die Ärmel ihrer rosa Bluse hoch. Und ich sah die Blutergüsse auf ihren Oberarmen, rot, blau, gelb. ‚Scheiße’, sagte ich nur. Dann krempelte ich meinerseits die Ärmel auf, ein wenig langsamer als sie und verschränkte meine nackten Arme vor der Brust. Als Karimah meine blauen Flecken sah, legte sie ihre Stirn in Falten; einen kurzen Moment nur und brach dann in lautes Gelächter aus. Ich brauchte eine Weile, dann lachte ich mit. Es war das befreiende Lachen zweier Schicksalsgenossinnen."
Die Zusammenarbeit zwischen Marianne Moesle und Esma Abdelhamir verläuft nicht ohne Konflikte. Denn wenn die Journalistin der Wahrheit von Esma Abdelhamids Lebensgeschichte nahe kommen will, muss sie der Frau aus Tunesien auch sehr nahe treten. In Deutschland, wo die Menschen es gewohnt sind, dass offen über private Dinge geredet wird, gelingt es der Europäerin und der Araberin immer wieder, sich zusammenzuraufen. Aber bei einer Recherchereise nach Tunesien kommt es zum Eklat. Denn in der arabischen Kultur ist das Private auch immer privat.
"Sie fängt an, was zu fragen, und ich? Mal bin ich ruhig, mal weine ich, mal stehe ich auf, mal will ich in die frische Luft und sie? Sie sieht, wie es mir geht, und sie weiß nicht, wie sie mit der Situation umgeht. Das war so schlimm für Frau Moesle, dass sie gesagt hat: Ich pack meine Sachen und ich geh jetzt. Und sie kehrte mir den Rücken; und dann hab ich von weit laut geschrieen: ‚Pass mal auf, du deutsche Frau! Du bist hier für eine Sache! Wir haben beide unterschrieben. Du gehst nirgendwo hin. Wir ziehen das durch!’"
Neben allen anderen Leistungen von Esma Abdelhamid sei es eine ihrer größten gewesen, dass sie die Arbeit an dem Buch durchgehalten hat, meint Marianne Moesle.
"Trotz unserer Auseinandersetzungen oder auch meiner Wut dann auch manchmal, darüber, was alles passiert ist, war uns immer klar, und das haben wir auch immer gesagt, wenn wir das zusammen hinbekommen, dieses Buch und wenn wir es schaffen, uns zu verständigen, obwohl wir aus so unterschiedlichen Welten kommen, dann hat das was mit Integration zu tun."
Über weite Teile des Buches ist es Marianne Moesle gelungen, das Leben Esma Abdelhamids sehr dicht und anrührend zu erzählen, nur hier und da findet sie nicht das richtige Sprachbild oder sie verwendet Formulierungen, die so von Esma Abdelhamid niemals benutzt worden wären. Aber das schmälert das Lese-Erlebnis nur wenig. "Löwenmutter" ist ein verstörendes und zugleich spannendes Buch. Und ein flammendes Plädoyer gegen Zwangsheirat und Parallelgesellschaften.
Esma Abdelhamid: Löwenmutter. Mein Ausbruch aus 12 Jahren Zwangsehe in Deutschland und der Kampf um meine Kinder
Aufgeschrieben von Marianne Moesle
Krüger Verlag, Dillingen
320 Seiten, 17,90 Euro.
Die kleine Esma muss sich von ihren Eltern Nähe und Wärme heimlich stehlen wie ein Dieb. Freiwillig verschenkte Liebe gibt es in ihrem Elternhaus genauso selten wie Anteilnahme, Förderung und Respekt. Das Erziehungsziel heißt nicht Selbstständigkeit, sondern Unterwerfung. "Ich durfte nur das tun, was mein Vater sagt", erzählt die 47jährige Esma Abdelhamid heute.
"Mein Vater hat die Gebote gemacht. Also: Das ist verboten, das ist verboten, das ist verboten. Also, erlaubt hat er so gut wie nichts. Aber wenn er nicht da war, dann hab ich gesagt: ‚Lauf, klettere auf den Baum oder spiel Verstecken’. Das war schon sehr mutig von mir, ja."
Wenn Esmas Ungehorsam ans Licht kommt, wird sie bestraft. Darin sei ihr Vater konsequent gewesen, stellt sie im Rückblick nüchtern fest.
"Mein Vater hat sofort zugeschlagen. Ich denke im Nachhinein so: Vielleicht wollte er ja auch so, damit er vorher gar nicht überlegt, schlag ich mein Kind oder schlag ich mein Kind nicht, also er hat sofort reagiert und er hat sofort geschlagen."
Auf Schulbildung legen ihre Eltern keinen Wert; Esma Abdelhamid lernt weder Lesen noch Schreiben. Als sie 19 Jahre alt ist, verheiratet ihr Vater sie mit einem Mann, den sie noch nie im Leben gesehen hat. Gefragt wird sie nicht. Der Bräutigam arbeitet in Hamburg, verdient genügend Geld, um eine Familie ernähren zu können. Der Vater hält ihn für eine gute Partie. Doch der Ehemann entpuppt sich als gefühlskalter Mensch, der seine junge Frau grün und blau prügelt, demütigt, einsperrt und vergewaltigt.
"Das war eine Zwangsehe, und sie muss funktionieren. Es ist ja alles auf MUSS. Ich muss als verheiratete Frau zu meinem Mann halten, ich muss alles tun, was er verlangt, alles, was er von mir halt verlangt, Sie verstehen, was ich meine? Und: Ich bin nun mal verheiratet, das ist so wie ein Urteil!"
Die zur Ehe Verurteilte wird von ihrem Mann von Tunesien nach Hamburg verfrachtet. An einen Ort, von dem sie noch nie gehört hat, wo sie niemanden kennt und sich nicht verständigen kann, weil sie die Sprache nicht spricht. Da sie Analphabetin ist, kann sie nicht selbstständig einkaufen gehen, keinen Fahrplan lesen und sich nicht über Hilfsangebote informieren. Esma Abdelhamid ist in der Fremde festgefroren wie in einer emotionalen Eiswüste.
"Mein Mann hatte mir eingeschärft, weder ans Telefon zu gehen, wenn es klingelte, noch die Tür aufzumachen, wenn er weg war. Es konnte ja sowieso nicht für mich sein. Keiner kannte mich und ich kannte keinen. Seine Verbote verunsicherten mich. Nicht einmal auf die Toilette, die im Treppenhaus lag, traute ich mich zu gehen. Jedes Mal, wenn ich musste, schaute ich erst durch den Türspalt, um mich zu vergewissern, dass ich auch niemandem begegne. Wie eine Gefangene."
Zwölf Jahre wird diese Frau in Hamburg leben, ohne Deutsch zu lernen und ohne jemals die Alster gesehen zu haben. Sie bekommt drei Kinder. Schließlich verlässt ihr Mann sie und entführt die Kinder. Ein Schlag, an dem sie fast zerbricht, aber sie erwacht und beginnt zu kämpfen.
"Wie konnte ich so lange aushalten! Das zeigt für mich: Unter schlechtesten Bedingungen überhaupt, die es auf dieser Erde gibt, für einen Mensch, wenn er überleben möchte, dann kämpft er. Und dann kann man ja auch alles Mögliche überleben."
Esma Abdelhamid nimmt in einem Frauenhaus Zuflucht, beginnt Deutsch zu lernen, macht eine Therapie und erstreitet sich schließlich vor einem tunesischen Gericht das Sorgerecht für ihre Kinder. Und sie lernt Lesen und Schreiben. Sie reicht sogar einen kurzen Text über ihre Lebensgeschichte bei einem Volkshochschul-Wettbewerb ein. Das ist der Zeitpunkt, als die Journalistin Marianne Moesle die Tunesierin kennenlernt. Denn sie sitzt in der Jury.
"Dieser Text war sehr eindrucksvoll. Der hat mich auch begleitet, wochenlang eigentlich, diese Zwangsheirat, und dass sie einfach mehr oder weniger weggekarrt wird in ein Land, von dem sie keine Ahnung hatte, ohne, dass sie will."
Marianne Moesle unterhält sich mit der Preisträgerin und schreibt einen Artikel über sie, der die Aufmerksamkeit eines Literaturagenten erregt. Das Projekt "Löwenmutter" ist geboren.
"Esma Abdelhamid war sofort Feuer und Flamme. Die hat gesagt: ‚Ja, klar, das ist die Chance meines Lebens! Endlich kann ich alles sagen’. Und ich hab mich eigentlich von ihrer Begeisterung anstecken lassen, und fand 's toll, dass es alles rauskommen soll."
Marianne Moesle stellt Fragen, besucht die Orte, an denen Esma Abdelhamid gelebt hat und fügt die Elemente ihrer Recherche zu Hause am Schreibtisch zusammen. Das Buch ist aber keine dokumentarische Collage, sondern der Versuch einer Europäerin, sich so intensiv in eine arabische Frau hineinzuversetzen, dass quasi eine Art Autobiografie entsteht. Diese Einfühlung, erzählt die Journalistin, habe sich hauptsächlich am Schreibtisch vollzogen, als sie sich Esma Abdelhamids Erlebnisse im Kopf ausmalen musste, um sie beschreiben zu können. Ein mühevolles Ringen um ein ausgewogenes Verhältnis von Distanz und Nähe.
"Ich weiß noch, ich hab zum Beispiel die Geburt ihres ersten Sohnes geschrieben und merk plötzlich, wie meine Brust anfängt, zu spannen. Da dachte ich: Huch, jetzt ist die Identifikation aber sehr groß Und es gab auch viele Situationen, wo ich dann wütend wurde, dass sie sich nicht gewehrt hat, als sie von ihrem Mann gedemütigt wurde. Es war auch viel Wut dabei."
Mitunter muss Marianne Moesle beim Schreiben sogar mit den Tränen kämpfen. Zum Beispiel, als sie eine Szene zu Papier bringt, in der Esma Abdelhamid auf dem Spielplatz vor ihrer Hamburger Wohnung eine Frau aus Tunesien kennenlernt. Die erste Person seit Jahren, mit der sie ein persönliches Gespräch führt, ohne, dass ihr Mann dabei ist. Schnell stellt sich heraus: Beide Frauen sind zwangsverheiratet worden - und das ist nicht ihre einzige Gemeinsamkeit.
"Plötzlich schob sie mit den Händen die Ärmel ihrer rosa Bluse hoch. Und ich sah die Blutergüsse auf ihren Oberarmen, rot, blau, gelb. ‚Scheiße’, sagte ich nur. Dann krempelte ich meinerseits die Ärmel auf, ein wenig langsamer als sie und verschränkte meine nackten Arme vor der Brust. Als Karimah meine blauen Flecken sah, legte sie ihre Stirn in Falten; einen kurzen Moment nur und brach dann in lautes Gelächter aus. Ich brauchte eine Weile, dann lachte ich mit. Es war das befreiende Lachen zweier Schicksalsgenossinnen."
Die Zusammenarbeit zwischen Marianne Moesle und Esma Abdelhamir verläuft nicht ohne Konflikte. Denn wenn die Journalistin der Wahrheit von Esma Abdelhamids Lebensgeschichte nahe kommen will, muss sie der Frau aus Tunesien auch sehr nahe treten. In Deutschland, wo die Menschen es gewohnt sind, dass offen über private Dinge geredet wird, gelingt es der Europäerin und der Araberin immer wieder, sich zusammenzuraufen. Aber bei einer Recherchereise nach Tunesien kommt es zum Eklat. Denn in der arabischen Kultur ist das Private auch immer privat.
"Sie fängt an, was zu fragen, und ich? Mal bin ich ruhig, mal weine ich, mal stehe ich auf, mal will ich in die frische Luft und sie? Sie sieht, wie es mir geht, und sie weiß nicht, wie sie mit der Situation umgeht. Das war so schlimm für Frau Moesle, dass sie gesagt hat: Ich pack meine Sachen und ich geh jetzt. Und sie kehrte mir den Rücken; und dann hab ich von weit laut geschrieen: ‚Pass mal auf, du deutsche Frau! Du bist hier für eine Sache! Wir haben beide unterschrieben. Du gehst nirgendwo hin. Wir ziehen das durch!’"
Neben allen anderen Leistungen von Esma Abdelhamid sei es eine ihrer größten gewesen, dass sie die Arbeit an dem Buch durchgehalten hat, meint Marianne Moesle.
"Trotz unserer Auseinandersetzungen oder auch meiner Wut dann auch manchmal, darüber, was alles passiert ist, war uns immer klar, und das haben wir auch immer gesagt, wenn wir das zusammen hinbekommen, dieses Buch und wenn wir es schaffen, uns zu verständigen, obwohl wir aus so unterschiedlichen Welten kommen, dann hat das was mit Integration zu tun."
Über weite Teile des Buches ist es Marianne Moesle gelungen, das Leben Esma Abdelhamids sehr dicht und anrührend zu erzählen, nur hier und da findet sie nicht das richtige Sprachbild oder sie verwendet Formulierungen, die so von Esma Abdelhamid niemals benutzt worden wären. Aber das schmälert das Lese-Erlebnis nur wenig. "Löwenmutter" ist ein verstörendes und zugleich spannendes Buch. Und ein flammendes Plädoyer gegen Zwangsheirat und Parallelgesellschaften.
Esma Abdelhamid: Löwenmutter. Mein Ausbruch aus 12 Jahren Zwangsehe in Deutschland und der Kampf um meine Kinder
Aufgeschrieben von Marianne Moesle
Krüger Verlag, Dillingen
320 Seiten, 17,90 Euro.