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Allen Say: "Großvaters Reise"
Sehnsucht als Motor

Fremdheit und Vertrautheit, weggehen und ankommen, Heimat und kulturelle Identität: Der Illustrator Allen Say rekonstruiert in seinen Bildern das Leben seines Großvaters, der als Japaner im fremden Amerika ein Zuhause findet - und dann zwischen beiden Welten pendelt. Die Geschichte eines Migranten.

Von Thomas Linden |
    Aus seltsamen Quellen speist sich die menschliche Kreativität. 1989 kam Allen Say während eines Spaziergangs im Park von einem Moment zum anderen die Idee zu einer Geschichte, die sein Leben verändern sollte. An diesem Frühlingstag in San Francisco spulte sich in seinem Kopf so etwas wie ein Stummfilm ab, in dem die Bilder schnell aufeinander folgten. Say eilte nach Hause und hielt die Bruchstücke dieser ersten Idee noch am gleichen Nachmittag in einigen eilig hingeworfenen Bleistiftskizzen fest. Ein magischer Moment auch deshalb, weil die Geschichte etwas in der Seele jenes Landes berühren sollte, in das er Jahrzehnte zuvor als Fremder gelangt war.
    Die Werkstatt des Zeichners
    1937 geboren, ist Allen Say in Yokohama, der Hafenstadt nahe Tokio, aufgewachsen. Schon als Kind wollte er Comiczeichner werden. Mit zwölf Jahren nahm ihn sein Lieblingszeichner Noro Shinpei als Meisterschüler auf und zeigte ihm, wie es in der Werkstatt eines Zeichners und in der Welt der Erwachsenen in Tokio zugeht. Zur gleichen Zeit erlebte die Fotografie in Japan eine erste Blüte und brachte eine ganze Generation bedeutender Fotografen hervor. Mit 16 Jahren ging Say in die USA und arbeitete als Fotograf.
    Die Geschichte, die er 1989 so fieberhaft zu Papier brachte, sollte zunächst den Titel "Das Fotoalbum" tragen. Schon seit Anfang der 70er-Jahre veröffentlichte Say Bilderbücher, aber dieser Beschäftigung konnte er sich nur widmen, wenn es ihm gelang, ein wenig Zeit neben seiner täglichen Arbeit als Fotograf zu gewinnen. Das sollte sich mit "Großvaters Reise" - so der offizielle Titel des Buchs – ein für alle Mal ändern. Die Geschichte wurde ein Riesenerfolg. Say erhielt für dieses Werk 1994 mit der Caldecott-Medaille die höchste Auszeichnung, die in den USA an einen Illustrator vergeben wird. Noch heute gehört das Buch zur Grundausstattung vieler öffentlicher Bibliotheken in den USA und wurde sozusagen zum nationalen Kulturgut erklärt. Nicht schlecht für einen US-Bürger, der als Japaner das Licht der Welt erblickte.
    Ein Virtuose der Körpersprache
    Auch wenn das Buch nun bei uns mit 25 Jahren Verspätung erscheint, stellt es verlegerisch doch die Bergung eines Schatzes dar. Was macht es so besonders? Elektrisierend wirkt schon alleine jener Realismus, den Say über die Jahre perfektionierte. Der Fotograf Allen Say ist ein Illustrator, der mit der Genauigkeit einer Kamera zeichnet und aquarelliert und virtuos mit den beredten Aussagen der menschlichen Körpersprache umzugehen versteht. Man muss sich nur das erste Bild seines Buchs ansehen. Da sitzt ein stolzer junger Mann im Kimono gekleidet in einem Sessel und strahlt grenzenloses Selbstbewusstsein aus. Sein Blick ist fest, voller Tatkraft, eine Hand ist leicht zu einer Faust geschlossen. Wir haben jemanden vor uns, der vollkommen in sich ruht. Dieser junge Mann beschließt, Japan zu verlassen, um sich die Welt anzusehen. Auf der gegenüberliegenden Seite sehen wir ihn dann auf dem Deck eines Ozeandampfers. Von der einstigen Sicherheit ist nichts mehr geblieben. Er steht auf schwankendem Boden, der Mantel scheint ihm viel zu groß, sodass er wie ein Kind wirkt. Den Hut muss er mit beiden Händen festhalten, damit der Wind ihn nicht fort weht, und hinter ihm türmen sich schon die Wellenberge des Pazifiks auf.
    Diese Eröffnungssequenz ist genial. Selten hat jemand so treffend und zugleich so dezent den Unterschied zwischen Sicherheit und Unsicherheit, zwischen Stillstand und Bewegung ins Bild gerückt. Says gesamtes Buch besteht aus solchen Porträts. Wir gehen mit dem jungen Mann durch das fremde Land Amerika, in dem die Menschen winzig im Vergleich zu den gigantischen Lokomotiven zu sein scheinen. Wir durchstreifen mit ihm die Kornfelder des Westens, die sich wie ein gelber Ozean ausnehmen, und bereisen schmutzige, verqualmte Industriestädte im Osten. Der Großvater findet ein Zuhause an den von ihm so geliebten Küsten im Norden Kaliforniens. Aber es zieht ihn auch wieder in die Heimat nach Japan, wo er seine Jugendliebe heiratet. Dann siedelt er mit Frau und Tochter in die Bucht von San Francisco über. Als die Tochter erwachsen ist, wird die Familie in Japan ansässig. Dort wird ihr kleiner Sohn, Allen Say, geboren. Der Großvater möchte zurück nach Kalifornien, aber dazu kommt es nicht mehr, da plötzlich der Krieg ausbricht.
    Ist das nun eine traurige Geschichte oder eine, die vom Glück erzählt? - Es ist eine Geschichte der Sehnsucht, die wie ein Motor in uns arbeitet. Sehnsucht zieht uns in das Unbekannte, aber in Says Geschichte stellt sich auch die Frage, ob ihr Traum eingelöst werden muss. Der Großvater hat zwei Lieben, wobei ihm keine die andere ersetzt. In den amerikanischen Bibliotheken wird dieses Buch auch deshalb bereitgehalten, weil es den Migranten als Archetypen des 20. Jahrhunderts beschreibt. Zwischen seinem Zuhause und seiner Heimat hat der Großvater seinen Ort verloren, er lebt im Dazwischen. Zugleich ist die Migration auch ein emotionaler Archetyp des Menschen. Wir ertragen den Stillstand nicht und müssen alles Starre in Bewegung versetzen, sehnen uns aber in der Bewegung nach der Ruhe.
    Der unschätzbare Wert des Fotoalbums
    Als Ortloser ist der Migrant in seiner Identität stets in Frage gestellt. Ein Motiv, das auf die eine oder andere Weise in jedem Buch von Allen Say wiederkehrt. In seinem Bilderbuch "Allison" entdeckt das japanische Mädchen beim Blick in den Spiegel, dass es von seinen amerikanischen Eltern adoptiert worden sein muss. Schmerzhaft fällt es aus allen Familienbanden heraus.
    Oder "Silent Days, Silent Dreams", das andere Werk, mit dem Say in den USA großes Aufsehen erregte. Hier erzählt er die Lebensgeschichte des amerikanischen Künstlers James Castle, der taub auf die Welt kam und nie sprechen lernte. Ein Kind, mit dem niemand etwas anzufangen weiß, das verachtet und geschlagen wird, und dem man seine Malutensilien - die einzigen Werkzeuge, mit denen es sich verständigen kann - wegnimmt, um es zu disziplinieren. James Castle hielt dennoch unbeirrt an seiner Kunst fest, und sei es, dass er nur mit den Fingern im Schmutz Bilder malen konnte.
    Mit dem Bild versichern wir uns unserer Umwelt. Und mit dem Foto versichern wir uns der eigenen Existenz. Deshalb ist das Fotoalbum für den Migranten so wichtig, es zeigt ihm: So ist es gewesen, wir sind in der Welt, weil es ein Bild von uns gibt. Nun ist im Fotoalbum alles gestellt, und Allen Say verhehlt das in seinen Illustrationen auch nicht. Im Gegenteil, die Bilder sind arrangiert und dennoch aufschlussreich. Zwar enthält das Buch Anspielungen auf Edward Hopper oder den Impressionismus, aber Say ist dort am besten, wo er seinen eigenen Talenten und dem Bodensatz seiner Herkunft folgt. Die Statik der gestellten Amateurfotografie versteht er brillant zu nutzen. Unaufhörlich hält das menschliche Auge nach Bewegung Ausschau, wenn es keine gibt, kehrt es zum Ausgangspunkt zurück. Genau das geschieht in diesen Porträts, wir sehen, wie der Großvater älter wird, wie selbstbewusst die Großmutter ihren Platz neben ihm behauptet, wie sich die Tochter von der Familie löst und mit ihrem Ehemann dann ebenfalls ein Paar auf Augenhöhe bildet. Auch wenn die Bilder scheinbar eingefrorene Personen zeigen, beginnen die Details doch umso deutlicher zu sprechen.
    Das Buch enthält auch einen Text, aber dessen jugendlich-naiver Ton liefert nur die notwendigsten Informationen zu den Bildern. Das Betrachten ist neben der Sehnsucht das andere große Thema dieses Buchs, und es stellt so etwas wie den Kern des Werks von Allen Say dar. Als Illustrator ist Say tief verwurzelt in der japanischen Tradition des Kamishibai. Dabei handelt es sich um eine Form des Geschichtenerzählens, die in den Dreißiger Jahren während des Aufkommens der modernen Bildmedien auf den Straßen Japans gepflegt wurde. Der Kamishibai-Mann war ein fahrender Erzähler, der mit seinem Papiertheater von Dorf zu Dorf zog. Er zeigte Bilder auf Tafeln und erzählte zu ihnen Geschichten. In seinem Buch vom Großvater präsentiert Say die Bilder auch in einem Rahmen, wie in einer Ausstellung wandert man beim Blättern von Bild zu Bild und rekonstruiert das Leben des Großvaters.
    Die Wirklichkeit durchleuchten
    Wo betrachten wir noch Bilder mit Konzentration? Am Computer und auf den Smartphones tauchen sie auf, aber wir nehmen uns nicht mehr die Zeit, sie in Ruhe anzuschauen. Das ist die Stärke des Bilderbuchs, eines Mediums, das uns die Kontemplation bietet. Der Fotograf Allen Say weiß, dass auch die Fotografie nicht erzählt, sie bestätigt vielmehr das Gewesene. Das Erzählen fügen wir hinzu. Sie fordert uns allerdings dazu auf, und hier bringt Say die Illustration ins Spiel. Der Japaner erinnert uns daran, dass sich die Illustration vom lateinischen illustrare herleitet, dem Durchleuchten. Die Wirklichkeit wird durchleuchtet, damit wir sie verstehen und begreifen, welche Gefühle in ihr am Werk sind. Das ist die Empathie, die nicht einfach abrufbar ist, sondern immer erst einen Kontext braucht, um entstehen zu können. Migration verbinden wir gewöhnlich mit politischer Verfolgung oder sozialem Elend, für Allen Say ist sie eine Mentalitätsgeschichte. Im letzten Bild sehen wir ihn selbst als jungen Mann in Kalifornien zwischen drei struppigen Palmen stehen. Schüchtern und verwundbar wirkt er, aber er blickt uns Leser auch direkt an und wird den richtigen Weg gehen. Seine Geschichte setzte sich dort fort, wo die des Großvaters endete, und sein Buch, mit dem er Weltruhm erwarb, erzählt letztlich davon, wie jemand den Reichtum seiner Kultur in das Leben der neuen Welt einbringt.
    Allen Say: "Großvaters Reise", Edition Bracklo, Gräfeling, 38 Seiten, 29,80 Euro