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"Allergnädigste Gewährung der Rechte"

Die adligen russische Gutsherren konnten jahrhundertelang über nahezu jeden Lebensbereich ihrer Leibeigenen in der Landbevölkerung bestimmen. Erst vor 150 Jahren, am 3. März 1861 und damit ein halbes Jahrhundert später als in Europa, schaffte Zar Alexander II. die Leibeigenschaft ab - nicht etwa aus humanistischen Gründen, sondern aus reinem Machtkalkül.

Von Monika Köpcke |
    Denkmal für Zar Alexander II. in St. Petersburg
    Denkmal für Zar Alexander II. in St. Petersburg (picture alliance / dpa)
    März 1861: Auch in die entlegensten Gemeinden des russischen Riesenreiches reiten die Ausrufer, um auf schlammigen Dorfplätzen, umringt von der misstrauischen Landbevölkerung, das neue Gesetz des Zaren bekannt zu geben:

    "Manifest über die allergnädigste Gewährung der Rechte freier ländlicher Bewohner für die leibeigenen Menschen."

    Am 3. März 1861 hatte Zar Alexander II. dieses Gesetz unterzeichnet, mit dem endlich auch in Russland für 25 Millionen Bauern, die durch Fronarbeit oder Abgaben an die adligen Gutsbesitzer gebunden waren, die Leibeigenschaft vorbei war.

    "Ich wuchs auf in einer Atmosphäre, wo Faustschläge, Tritte, Prügel, Ohrfeigen und Ähnliches an der Tagesordnung waren. Auch ich wurde für jede Kleinigkeit fast täglich verprügelt."

    Der adlige Schriftsteller Iwan Turgenjew kannte den harten bäuerlichen Alltag aus eigener Erfahrung. Das elterliche Gut mit Tausenden von Leibeigenen verwaltete seine Mutter mit großer Härte. Und Leo Tolstoi, ebenfalls aus dem ländlichen Adel stammend, lässt in seiner Erzählung "Der Morgen eines Gutsbesitzers" einen leibeigenen Bauern klagen:

    "Andrej Iljitsch machte mit uns, was er wollte. Alles musste zur Stelle sein, aber woher der Bauer es nehmen sollte, danach fragte er nicht. Dann wurden die Kopfsteuern erhöht, an Naturalien musste mehr abgeliefert werden, aber Land ließ man uns immer weniger."

    Der Gutsherr war zugleich Grund-, Gerichts- und Leibherr und hatte so Zugriff auf fast alle Lebensbereiche: Der Leibeigene konnte nicht gegen seinen Besitzer klagen; er musste sich fügen, wenn er umgesiedelt wurde; er konnte zur Heirat gezwungen werden, seine Kinder gingen automatisch in den Besitz des Gutsherrn über. Und der Leibeigene konnte von seinem Herrn als Soldat in den Krieg geschickt werden. Vor allem diese Maßnahme sorgte immer wieder für erbitterten Widerstand.

    "Seit Ausbruch des Krimkrieges breitete sich ein Aufruhr in bis dahin unbekannter Heftigkeit aus. Viele Grundherren wurden von ihren Leibeigenen getötet und ganze Regimenter mussten die Bauern in den Gehorsam zurückzwingen."
    So schrieb der russische Fürst und Anarchist Peter Kropotkin in seinen "Memoiren eines Revolutionärs". Nikolaus I. hatte Russland 1853 in den verheerenden Krimkrieg gegen Frankreich und England gestürzt. Dieser Zar verkörperte die hoffnungslose Rückständigkeit des Riesenreiches, er verweigerte sich jeder Reform, allen Widerstand ließ er blutig niederschlagen. 1855, ein Jahr vor Ende des Krieges, starb Nikolaus I. Der junge Alexander II. folgte seinem Vater auf den Thron. Auch er sah sich als absoluter Herrscher von Gottes Gnaden. Doch er spürte das Gären im Volk und ahnte, dass nur Reformen den Fortbestand des Zarenregimes absichern würden. Fast vierzig Prozent des russischen Volkes waren leibeigene Bauern. Die Abschaffung der Leibeigenschaft hatte für ihn also Priorität.

    "Die Frage der Leibeigenschaft scheint gegenwärtig in Russland eine ernsthafte Wendung zu nehmen,"

    schrieb Karl Marx 1858 aus dem fernen Londoner Exil in einem Zeitungsartikel.

    "Das ist am besten an dem außerordentlichen Schritt zu erkennen, zu dem der Zar Alexander II. getrieben worden ist, indem er eine Art allgemeiner Vertretung des Adels nach St. Petersburg berufen hat, um diese Frage zu erörtern. Doch was bliebe dem Adel ohne Leibeigene? Fortfall der Einkünfte, Verminderung des Wertes ihres Grundeigentums und ernste Einschränkung der politischen Macht, an deren Ausübung sie sich gewöhnt haben, all die vielen kleinen Selbstherrscher. Man kann schwerlich von ihnen verlangen, dass sie sehr begeistert davon sind."

    Tatsächlich war der Adel zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Eine Ansprache, die Alexander vor den Adelsvertretern hielt, schloss er mit den mahnenden Worten:

    "Es ist besser, meine Herren, es kommt von oben, als dass man wartet, bis es von unten kommt."

    So ganz wollte es sich Alexander aber nicht mit den adligen Gutsbesitzern verderben, dazu brauchte er sie zu sehr für die Ordnung im Lande. Sein Manifest zur Abschaffung der Leibeigenschaft machte die Bauern nicht wirklich frei. Es verlangte, dass sie das Land, das sie ernährte, von den Grundherren kauften; mit Darlehen, die sie für 50 Jahre an ihre alten Besitzer knebelten. An den alten Verhältnissen änderte sich also nichts: Der Gutsherr blieb reich, der Bauer arm und abhängig.