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Alles andere als abstinent

Norwegen liegt mit einem Verbrauch von etwa sechs Litern reinem Alkohol pro Kopf und Jahr an drittletzter Stelle im europäischen Vergleich. Dass die Norweger vergleichsweise wenig trinken, liegt unter anderem an einer rigiden Politik, hohen Steuern - und an der ständigen Warnung vor der schädlichen Wirkung der hochprozentigen Ware.

Von Marc-Christoph Wagner |
    Von ihrem Idealziel ist die noch heute starke norwegische Abstinenzbewegung weit entfernt. Schon während des Zweiten Weltkrieges wandte sich ihr Vorsitzender an seine Landsleute und forderte sie auf, dem Alkohol zu entsagen. Doch davon zeigt sich insbesondere die heutige Jugend unbeeindruckt.

    Es ist ihr sechstes Bier, sagt diese Studentin, bereits zuhause habe sie eine Flasche Wein getrunken. Und auch ihr Tresennachbar ist kein Kind von Traurigkeit:

    "An so einem Abend trinke ich schon einmal vier, fünf Liter Bier. Dreimal die Woche gehe ich aus - am Wochenende sowieso, aber in der Regel auch einmal wochentags."

    Ein teurer Spaß, denn für ein Bier in einem Cafe zahlt man schon einmal acht Euro pro Glas - wegen der hohen Steuern. Sie sind Teil der rigiden norwegischen Politik in Sachen Alkohol: Der Verkauf an unter 18-Jährige ist strikt verboten - Hochprozentiges darf erst erwerben, wer 20 ist. Grundsätzlich wird Alkohol nur in eigenen, staatlich kontrollierten Geschäften verkauft. Darüber hinaus existiert ein Werbeverbot für alkoholische Getränke:

    "80 Prozent der Norweger wünschen sich eine Politik, die strenger oder zumindest ebenso streng ist wie die heutige. Für eine liberale Alkoholpolitik gibt es keine Mehrheit."

    Sagt Geir Gundersen, Generalsekretär des Blauen Kreuzes, das Suchtkranken zur Seite steht. Doch auch die Norweger passen sich den kontinentaleuropäischen Trinkgewohnheiten immer mehr an - trotz der hohen Preise. Vor allem Wein wird immer häufiger getrunken. Wer kann, fährt über die Grenzen des Landes und kauft dort groß und vor allem billiger ein. Im Norden des Landes hat das Selbstbrennen Tradition.

    Vor allem aber unter Jugendlichen schießt der Alkoholkonsum in die Höhe, so Ellen Tefre vom staatlichen Institut für die Erforschung von Rauschmitteln. Das Vorglühen ist ein weit verbreitetes Phänomen. Man trifft sich daheim, trinkt sich einen an, bevor man um die Häuser zieht. Jeder dritte Student, so Tefre, trinke Alkohol in Mengen, die gesundheitliche Dauerschäden hinterließen:

    "Die jungen Leute trinken heute sehr viel mehr als früher, vor allem die Frauen. Bei ihnen ist der Verbrauch in den vergangenen zehn Jahren um 28 Prozent gestiegen, bei den Männern um 23. Bei Mädchen zwischen 25 und 29 sind es sogar 42 Prozent."

    Die norwegischen Behörden sind angesichts dieser Entwicklung besorgt. In Informationsfilmen in Kinos und im Fernsehen mahnen sie zu einem verantwortlichen Umgang mit dem Trinken. Jedes Jahr würden etwa 1500 Menschen an den Folgen eines zu hohen Konsums sterben. 70 bis 80 Prozent aller Gewaltdelikte ließen sich auf Alkohol zurückführen:

    "Die Eltern sind das Vorbild - im Guten wie im Schlechten. Wer Alkohol zu Hause trinkt, dessen Kinder werden später auch sehr viel mehr trinken. Je liberaler die Eltern in dieser Frage, desto größer anschließend die Probleme."

    Diese Einschätzung von Anders Slaatsveen aus der Jugendabteilung Oslos wird auch von der rot-grünen Regierung Norwegens geteilt. Erst kürzlich wandte sich Justizminister Knut Storberget an alle Eltern:

    "Wer Kinder um sich hat, sollte sich zurückhalten. Solange sie wach sind, sollte man keinen Alkohol konsumieren. Das ist eine gute Regel."

    Noch mehr staatliche Regulierung fordert Anne Katrine Kolstad vom Verband Actis, einem Zusammenschluss von Organisationen, die sich mit Drogen- und Alkoholproblemen befassen. Bier, Wein und andere Spirituosen sollten als lebensgefährlich gekennzeichnet werden, so Kolstad - ähnlich wie das bei Zigaretten schon der Fall ist:

    "In ganz Europa geht der Alkoholverbrauch zurück, nur in Norwegen ist das Gegenteil der Fall. Das wird auf Dauer große Schäden hervorrufen. Wir müssen vor allem die Jugendlichen vor sich selbst schützen."

    Für den norwegischen Staat ist die Alkoholpolitik ein Balanceakt. Einerseits freut man sich über die Einnahmen. Seit den achtziger Jahren hat sich die Zahl der Verkaufs- und Ausschankstellen verdreifacht. Andererseits gilt es Auswüchse zu vermeiden. Noch immer trinken die Norweger nur etwa halb so viel wie die Deutschen. Doch immer mehr von ihnen finden Wege, die rigide staatliche Reglementierung zu umgehen. Auch diesbezüglich scheint Norwegen auf dem Weg in die europäische Normalität.