Mit der Bezeichnung "Power-Frau" könne sie leben, gab sie im Zeitschriften-Interview unlängst zu Protokoll. Begründung: Weil sie bei allem, was sie tue, ihre ganze Kraft einsetze. Aber nicht im Sinne von Mannweib, präzisierte sie dann auf Nachfrage. Denn Frau und Macht schließen sich ja keineswegs aus! – Madame Klartext hat gesprochen! Die Rede ist von Dr. Monika Wulf-Mathies, geboren am 17. März 1942 in Wernigerode, deutsche Gewerkschafterin, SPD- und Europapolitikerin. Ihre Studien der Wirtschaftswissenschaften, Geschichte und der deutschen Literatur absolvierte sie an den Universitäten Hamburg und Freiburg im Breisgau. Weitere Stationen: 1971 Hilfsreferentin in der Pressestelle von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller, dann, 1973, Wechsel ins Kanzleramt von Willy Brandt, dort Leitung des Referats Sozial- und Gesellschaftspolitik. Bundesweit bekannt wurde Wulf-Mathies vor allem, als sie im September 1982 in Nachfolge von Heinz Kluncker überraschend zur ÖTV-Vorsitzenden gewählt wurde. Damit war sie die erste weibliche Vorsitzende einer DGB-Gewerkschaft. In dieser Phase setzte sie sich vehement für das Ziel der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ein, erreichte 1984 eine Arbeitszeitverkürzung auf 39,7 Stunden bei maßvollen Lohnerhöhungen, und 1988 eine weitere Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Stunden. Von 1995 bis 1999 war sie Mitglied der Europäischen Kommission und dort als Kommissarin für die Regionalpolitik sowie den Ausschuss der Regionen verantwortlich. Danach leitete Monika Wulf-Mathis von 2001 bis 2008 im Konzern Deutsche Post World Net (DPWN) den Zentralbereich Politik und Nachhaltigkeit, war von 2001 bis 2006 Präsidentin der Europäischen Bewegung und ist seitdem deren Ehrenpräsidentin. Seit 1968 ist sie mit dem Diplomphysiker Carsten Wulf-Mathis verheiratet.
"Gerade ein Land wie Deutschland braucht die Europäische Union."
Monika Wulf-Mathies und die Europa-Idee als Hymne an die Freude
Rainer Burchardt: Frau Wulf-Mathies, lieben Sie Beethoven?
Wulf-Mathies: Ja, sehr!
Burchardt: Was besonders?
Wulf-Mathies: Ach Gott, da gibt es so viel schöne Sachen, "Für Elise" oder die "Diabelli-Variationen", und trotz allem auch immer wieder die neunte, aber auch die anderen Sinfonien.
Burchardt: Also auch die "Hymne an die Freude", die Europahymne.
Wulf-Mathies: Natürlich! Das ist doch gut, dass zumindest die Hymne das besagt, was wir eigentlich mehr fühlen sollten, nämlich dass Europa trotz aller jeweils kurzfristigen Schwierigkeiten ein freudiges Ereignis für die Deutschen ist!
Burchardt: Schön, dass Sie darauf eingehen, das war der Hintergrund auch meiner Frage natürlich! Wir erleben ja im Augenblick eine Europakrise, die sich gewaschen hat und wo man auch noch nicht sicher sein kann, wann die tatsächlich zu Ende ist. Sie sind mal Kommissarin gewesen, fünf Jahre lang, in der sogenannten Santer-Kommission. Sie haben es also wirklich an den Wurzeln miterleben können, wie Europapolitik gestaltet wird. Glauben Sie, dass im Augenblick bei den 27 Staaten – zu Ihrer Zeit, glaube ich, gab es 21 Mitgliedsstaaten ...
Wulf-Mathies: Zunächst sogar nur 15!
Burchardt: ... ja, –, dass Europa auf diese Art und Weise tatsächlich auf Dauer so halten kann?
Wulf-Mathies: Also, auf diese Weise sicher nicht. Sondern was wir doch aus dieser Krise lernen, ist, dass wir uns noch mal fragen müssen: Was haben wir an Europa? Und dass wir nicht nur Steuerzahler sind, so bedeutsam das auch für jeden Einzelnen ist. Im Augenblick haben wir 600 Millionen Plus gemacht aus den Zinsen, die die Griechen zahlen. Das ist sicher auch nicht das, was man sich von einem solidarischen Europa vorstellt. Und klar ist auch, dass das Regelwerk ergänzt werden muss um die Notwendigkeit, nicht nur Kontrollen im Fiskalischen zu haben, sondern vor allen Dingen echte Kooperation in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Nur, die schönste Reform oder die schönsten Institutionen helfen nicht, wenn nicht die Menschen mitspielen. Und was wir im Augenblick erleben, sind lauter Regierungschefs, die auf die nationale oder hier in Deutschland sogar nur auf die regionale Agenda gucken, wenn irgendwo Landtagswahlen sind, und die aus dem Blick verlieren, dass gerade ein Land wie Deutschland die Europäische Union braucht. Nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als die Chance, die es geboten hat. Nämlich die Angst vor deutscher Vormachtstellung und deutscher Politik unserer Nachbarn zu reduzieren oder auf ein Mindestmaß zu drücken.
Und meine große Sorge ist, dass diese Rechthaberei in der politischen Diskussion – mehr, sage ich mal, im Verbalen als im Tatsächlichen, wo man dann doch immer wieder beidreht und zeigt, dass man sich verständigen muss –, aber dass diese verbale Kraftmeierei genau wieder Ängste vor Deutschland weckt, die uns über die gesamte Entwicklung der EU Gott sei Dank nicht mehr begleitet.
Burchardt: Aber ist es nicht auf der anderen Seite so, und das hört man ja auch sehr oft, dass Europa eine Führung braucht und Frau Merkel vielleicht auch sogar mit dem Satz "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa" hier diese Rolle übernommen hat?
Wulf-Mathies: In dem Satz stimme ich ihr zu, wie ich ihr überhaupt bei etlichen Dingen zustimme, die sie von Europa gesagt hat, nämlich dass es eine Schule der Toleranz sei und dass die Ring-Parabel eigentlich ein gutes Beispiel sei für das, was in Europa wichtig und notwendig sei. Aber die Schwierigkeit ist, dass die Art, wie sie – im Wesentlichen angetrieben, denke ich, durch innenpolitische Debatten – in einer Härte und Arroganz gegenüber den kleinen und den Mitgliedsstaaten, die sich in großen Schwierigkeiten befinden, beträgt, und dass sie offensichtlich nicht ausreichend bedenkt, welches Bild da von Deutschland entsteht.
Das heißt, ich habe nichts gegen Führung, und fragen Sie mal die kleinen Länder, Luxemburg, Belgien, die wünschen sich deutsche Führung! Aber nicht mit dem Säbel und dem Tschingderassabum. Das hatten wir mal und war unselig genug. Sondern, indem man sich eben auch ein Stück in den Dienst der gemeinsamen Sache stellt. Nicht aus karitativen Überlegungen, sondern weil Deutschland in der Vergangenheit und, ich denke, auch in der Zukunft am meisten von Europa zu profitieren hat.
"’Unter dem Talaren - Muff von 1000 Jahren’, dieses Foto hat mich mein Leben lang begleitet."
Herkunft aus konservativem Elternhaus, die 68er-Prägung und frühe Hinwendung zur demokratischen Linken in Deutschland
Burchardt: In welchem Elternhaus sind Sie aufgewachsen?
Wulf-Mathies: Mein Vater war bei der Steuerverwaltung und meine Mutter war immer berufstätig und hat sich vom Krieg an aufwärts bis zur Abteilungsleiterin in einer Krankenkasse hochgearbeitet.
Burchardt: Waren das Sozialdemokraten? Wie sind Sie für die Sozialdemokratie sozialisiert worden?
Wulf-Mathies: Nein. Mein Vater war eher konservativ und meine Mutter hatte aus der Nazizeit, wo sie zeitweise im BDM war, eigentlich nur mitgenommen, Politik ist ein schmutziges Geschäft und da muss man sich möglichst fernhalten ...
Burchardt: Schlechte Gesellschaft.
Wulf-Mathies: ... ja, und da muss man sich möglichst fernhalten. Insofern hat sich mein ... ja, wie soll ich mal sagen, meine politische Prägung eigentlich erst im Laufe meines Studiums im Wesentlichen entwickelt. Und hatte natürlich damit zu tun, dass ich eine 68erin bin, die heute zwar sehr beschimpft werden, aber ich denke immer, aus einer Sicht, gegen was man damals stand. Nämlich die Verkrustung der Adenauer-Zeit aufzubrechen, dann eben mit Willy Brandt mehr Reformen wagen, mehr Demokratie. Das waren für uns die Dinge, die jedenfalls viele in meiner Generation politisiert haben. Und "Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren", dieses Foto hat mich mein Leben lang begleitet und ist für mich eben auch Ansporn gewesen, für Veränderungen einzutreten, mich auch selbst zu engagieren und nicht nur zu sagen, lass die mal da draußen, das geht mich alles nichts an.
Burchardt: Erinnern Sie sich noch, Sie sind 1965 der SPD beigetreten. Gab es da für Sie einen bestimmten Moment oder haben Sie gesagt, jetzt gehe ich einfach hin?
Wulf-Mathies: Ja, ich denke, dass ich ...
Burchardt: Das war ja nach einer verlorenen Bundestagswahl für Willy Brandt auch.
Wulf-Mathies: Ja, es war aber damals mehr geprägt – ich habe ja in Hamburg an der Uni studiert –, mehr geprägt von einigen Personen, die mich beeindruckt haben, und im Universitätsviertel damals auch natürlich von dieser Auseinandersetzung Rechts-Links, die damals sehr stark war und wo man natürlich der Meinung war, da müssten die alten Säcke raus und es müsste was Neues her!
Burchardt: Von alten Säcken zu den Sandsäcken! 1962 gab es in Hamburg eine Sturmflut, da gab es einen sozialdemokratischen Innensenator namens Helmut Schmidt, der sich auch über Gesetze hinwegsetzte, wie jetzt auch noch beim Rauchen. Hat er Ihnen damals imponiert eigentlich?
Wulf-Mathies: Komischerweise habe ich das alles mehr so nur am Fernsehen ... Wir wohnten in einem Stadtteil, wo also Überflutungen nicht zu befürchten waren. Man hat das am Fernsehen und Radio mitgekriegt, aber das hat keinen so tiefen Eindruck bei mir hinterlassen damals. Ich habe Schmidt ja dann später als Chef im Kanzleramt eine Weile erlebt und ich habe mich an Schmidt gerieben, als es um die Notstandsgesetze ging. Das war eigentlich auch so ein Urerlebnis, "Spiegel"-Krise, Notstandsgesetze, diese Dinge. Und da hat die Sturmflut in Hamburg eigentlich gar nicht viel dazu beigetragen.
Burchardt: Also, nach den Notstandsgesetzen wollte ich Sie ohnehin fragen, weil Sie so eben geschwärmt haben, als 68er und mehr Demokratie wagen und so. Immerhin war ja auch Willy Brandt in der Großen Koalition Außenminister und diese Große Koalition hat ja 1968 nun wirklich die Notstandsgesetze durchdiskutiert und durchgezogen, auch gegen den doch sehr lautstarken Protest der Klientel, die sich bis heute noch 68er nennt. Wie haben Sie denn das damals überstanden?
Wulf-Mathies: Die Aufregung hat eigentlich viel früher stattgefunden. Und als es dann tatsächlich kam, war das Thema jedenfalls für mich schon weitgehend durch und eigentlich nicht mehr, wo man noch irgendwie was ändern konnte. Und gut, es hat sich ja auch gezeigt, dass letztendlich sie nicht zu dem geführt haben, was man vielleicht damals befürchtet hat. Aber ich erinnere mich, dass, als sie dann verabschiedet ...
Burchardt: Sie meinen Einsatz der Bundeswehr gegen das eigene Volk.
Wulf-Mathies: Ja, ja, als sie dann verabschiedet wurden, ja, war eigentlich jedenfalls mein Widerstand schon erlahmt. Und es gab dann so viel andere eher positive Aspekte, die einem jedenfalls sehr viel mehr bedeuteten und die dann auch eine sehr viel größere Rolle irgendwie spielten.
Burchardt: Sie sind ja nachher, zunächst einmal jedenfalls, gerade als ÖTV-Mitglied und dann auch als führende ÖTV-Frau, sehr innenpolitisch dominiert gewesen. Wie eigentlich haben Sie denn Anfang der 70er-Jahre im Aufbruch damals die Ostpolitik empfunden?
Wulf-Mathies: Ich war eigentlich froh und habe das also als eine ... ja, wie soll ich mal sagen ... als einen notwendigen Schritt neben der völlig richtigen Westeinbindung gesehen, wieder zu versuchen, auch mit dem Osten ins Gespräch zu kommen. Also, die Formel "Wandel durch Annäherung", die von Egon Bahr, wenn ich das richtig sehe, stammt, die fand ich ausgesprochen richtig. Und wir haben ja auch im gewerkschaftlichen Bereich – da war sogar Heinz Kluncker einer der Vorkämpfer – dann ...
Burchardt: Der damalige ÖTV-Chef.
Wulf-Mathies: ... versucht, dann versucht, auch unsererseits Kontakt zu Gewerkschaften in Ostblockländern, also in Polen, in der damaligen Sowjetunion aufzunehmen, und auch mit Gewerkschaftern in der DDR ins Gespräch zu kommen. Was am schwierigsten war, weil deren Möglichkeiten, sich authentisch zu äußern, fast gleich null waren, weil bei den Beziehungen, die wir dann durchaus hatten, einfach so Typen wie Harry Tisch einem auch schon äußerlich irgendwie Probleme machten und erst recht die Art, wie die Diskussion war. Also, von daher hat die ÖTV immer zu denen gehört, die zwar sehr intensiv den Gesprächsfaden gesucht haben, aber nicht, um sich in weltfriedensrosaroten Bildern zu ergehen, was natürlich immer von den Ostblockgewerkschaften eigentlich gefordert war, sondern indem man eben auch was sagte zu den Raketen und zur Stationierung der SS-20. Und ich habe Harry Tisch sehr damit geärgert, dass ich ihm gesagt habe, ich würde keine friedlichen Raketen kennen und ich würde mich vor den einen genau wie vor den anderen fürchten, und insofern würde ich eigentlich auch erwarten, dass Gewerkschaften in der DDR ihre Regierung genau so versuchten zu beeinflussen, eben diese nicht aufzustellen, statt zu sagen, unsere sind die schönen und eure sind die schmutzigen!
Burchardt: Sie sind ein bisschen weit schon nach vorn gegangen jetzt. Ich würde noch ganz gerne eine Phase ansprechen, die Sie erlebt haben nach Ihrer Promotion: Sie sind dann bei Karl Schiller gewesen ...
Wulf-Mathies: Ja!
Burchardt: ... als Assistentin oder als was auch immer. Auf jeden Fall ist das Ihrer Vita zu entnehmen. Und wer bei Karl Schiller damals war, war auch bei Franz Josef Strauß. Plisch und Plum war ja irgendwie auch noch mal so eine Art von ... wenn auch in der Großen Koalition, aber doch glaube ich, dass Schiller, der ja auch später dann der CDU sogar noch beigetreten ist, irgendwo ja einer der Konservativen im sozialdemokratischen Wirtschaftslager gewesen ist. Wie haben Sie das selber empfunden, haben Sie sich da überhaupt wohl gefühlt?
Wulf-Mathies: Ja, das Wirtschaftsministerium war damals eigentlich so ein eher Elite- und sehr geschätztes Ministerium. Der Niedergang der verschiedenen Haus und Bange und sonstiger Männer [Anm. der Redaktion: Dr. Helmut Haussmann war von 1988-1991 und Dr. Martin Bangemann von 1984-1988 Bundeswirtschaftsminister] kamen dann erst sehr viel später. Und unter Karl Schiller war das eine Blütezeit des Wirtschaftsministeriums mit Top-Leuten, wo man vor allen Dingen ungeheuer viel lernen konnte. Denn Karl Schiller hat ja auch mit der Plastizität, mit der er wirtschaftspolitische Entscheidungen beschrieben hat, wie er Keynes eigentlich auch in die Wirtschaftspolitik eingeführt hat – die Pferde sollen wieder saufen, barfuss durch die Talsohle ...
Burchardt: Konzertierte Aktionen ...
Wulf-Mathies: ... und dergleichen Dinge, konzertierte Aktionen ... In den Anfängen war es vielleicht ganz gut, nachher ist es eben auch verkommen zu so einem unverbindlichen Gremium, in dem eigentlich nur jeder seine fertigen Statements verlas. Aber ich habe da sehr viel gelernt und habe das auch ... Ich hatte ja ein bisschen Volkswirtschaft auch studiert, habe das also durchaus als einen Gewinn von Rüstzeug eben gerade auch für eine veränderte Wirtschaftspolitik ... Und das magische Viereck zum Beispiel, was wir zwischendurch mal ganz vergessen hatten, da kam hoher Beschäftigungsstand dann irgendwann nicht mehr vor. Das waren durchaus alles Dinge, die, auch wenn Karl Schiller sicher eher dem rechten Flügel zugehörte ... Wirtschaftspolitisch war das alles Neuland und war was ganz anderes als das, was wir vorher hatten und ...
Burchardt: Was er ja damals auch propagiert hat, war die sogenannte antizyklische Konjunkturpolitik.
Wulf-Mathies: Zum Beispiel!
Burchardt: Ist das nicht auch ein Rezept für heute?
Wulf-Mathies: Natürlich, das sehe ich auch immer noch so. Was eben alles mit dieser Grundlage zu tun hat, dass man versuchen muss, diese vier Dinge – Wachstum, Preisstabilität, Beschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht –, diese Dinge auch in einer Balance zu halten. Und Sie könnten heute sagen, das wäre vielleicht auch ein richtiges Rezept für Europa. Denn da machen wir nur Preisstabilität und fiskalpolitische Vorschläge und meinen, dann ginge der Rest von allein. Und wir sehen ja nun auch sehr schmerzhaft, dass das gerade so eben nicht reicht.
"Diese Sonne mit dem Symbol der IG Metall war eben auch das, wohin alle schauten, dem konnte man sich gar nicht entziehen."
Spitzenfrau bei der ÖTV, das Modell Sozialpartnerschaft und das Ziel der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
Burchardt: 73 gab es die Ölkrise, Ölpreiskrise. Und im Gefolge dieser Krise gab es große, auch sozialpolitische Verwerfungen. Die Gewerkschaften haben damals oder waren damals ja sehr gefordert. War das für Sie auch ein Grund, sich dann stärker im gewerkschaftlichen Bereich umzutun?
Wulf-Mathies: Ja, es war schon so, dass ich das Gefühl hatte, man muss die Gewerkschaften in der gesellschaftspolitischen Diskussion stärken und man muss mehr dafür tun, die Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit dann auch in die allgemeine politische Diskussion und dann letztendlich auch als mehr Demokratie, die eben dann auch am Fabriktor nicht aufhört, sondern auch ein Stück weit Mitbestimmung eben mit beinhaltet, nach vorn zu tragen.
Ich habe damals noch das Mitbestimmungsgesetz ´76 mit Helmut Schmidt im Kanzleramt, als ich dort das Referat Sozial- und Gesellschaftspolitik hatte, verhandelt mit diesen ganzen komplizierten Abstimmungsmechanismen, die ein koalitionspolitischer Kompromiss waren, aber dass eben die Basis, wenn man so will, auch der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland über Jahrzehnte auch mit Mitbestimmung und mit dem Modell der Sozialpartnerschaft, dem teilweise sehr verteufelten und jetzt doch von allen eigentlich als richtig akzeptierten Modell Sozialpartnerschaft zu tun hat. Und wenn Sie sich da mal anschauen, sind wir eben durch all diese Krisen auch dadurch, dass es eben diese Kooperationsbereitschaft gab, besser gekommen als zum Beispiel das Großbritannien der Thatcher-Zeit.
Burchardt: Wobei Helmut Schmidt ja damals – der von Ihnen jetzt erwähnte – gesagt hat, ihm seien fünf Prozent Inflation lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.
Wulf-Mathies: Ja, das würde ich auch heute noch unterschreiben.
Burchardt: Am Ende sah es ein bisschen anders aus. Aber vielleicht schalten wir noch ein bisschen vor: Sie waren dann Nachfolger von Heinz Kluncker, als ÖTV-Chefin. Heinz Kluncker hat ja Willy Brandt sehr zugesetzt mit einer damals, wenn ich mich recht erinnere, 16-prozentigen Lohnerhöhungsforderung. Sie selber haben irgendwann mal, so ist es Ihrer Vita zu entnehmen, auch mal eine Nullrunde durchgesetzt. Aber was das Wichtigste wahrscheinlich ist, ist, dass Sie den Einstieg in die 38-Stunden-Woche tatsächlich auf den Weg gebracht haben, bei vollem Lohnausgleich. Wie schwer war diese Übung für Sie eigentlich damals in einer doch relativ gewerkschafts-, ich will mal sagen, -unfreundlichen Umwelt?
Wulf-Mathies: Ja, das Thema war eins, was die Mitglieder sehr befeuert hat, weil es eine einfache Formel war. Es ist immer leichter, nur eine Zahl zu wollen und jeder versteht, worum es geht, als eine Fülle differenzierter Ideen zu entwickeln, die dann auch schwierig zu kommunizieren sind. Und gerade in der politischen Debatte war natürlich dieses Thema 35-Stunden-Woche noch schwieriger als bei der IG Metall.
Auf der anderen Seite, diese Sonne mit dem Symbol der IG Metall war eben auch das, wohin alle schauten, dem konnte man sich auch gar nicht entziehen. Und auch wenn im Ergebnis nicht die Zahl an zusätzlichen Arbeitsplätzen dabei rausgekommen ist und sicher auch die 35-Stunden-Woche, aber die nicht allein, zur Verdichtung von Arbeit mit geführt hat, war es eben doch etwas, was die Menschen mobilisiert hat und ihnen auch gezeigt hat, dass Gestaltung der Arbeitsbedingung insgesamt eben etwas Wichtiges ist, was Gewerkschaften tun und was ihre Mitglieder umtreibt.
Burchardt: Das war ja auch damals ein Stichwort, das auch dazugehört, zu der vereinfachten Formel, nämlich die lebensnahen oder qualitativen Arbeitsplätze. Das hat die Gewerkschaft ja auch versucht, auf den Weg zu bringen. Würden Sie heute sagen, das war erfolgreich?
Wulf-Mathies: Ja, ich meine, die Frage ist immer, womit man es vergleicht. Man weiß, was, wenn sich die Gewerkschaften dann nicht engagiert hätten, sonst noch passiert wäre. Und diese Diskussion um Humanisierung der Arbeitswelt, das war ja dann auch ein politisches Programm und ein Programm, was dann in unterschiedlicher Intensität, aber eben doch in etlichen Bereichen umgesetzt wurde. Das hat sicher zumindest das Bewusstsein dafür geschärft, dass Arbeitsbedingungen und auch Qualität der Arbeitsergebnisse irgendwo zusammenhängen, und dass eine zu starke Arbeitsverdichtung – oder gerade im öffentlichen Dienst, nehmen Sie so Bereiche wie Gesundheitswesen –, dass eben schon ein nicht unwesentlicher Zusammenhang besteht zwischen der Arbeitszufriedenheit derer, die diese Arbeit tun, und der Qualität ihrer Zuwendung dann dem Patienten oder dem alten Menschen gegenüber.
Und die Zeit, der Anfang der 80er-Jahre, war die erste Zeit, wo die Pflegeberufe überhaupt aufgewertet wurden, wo also dieses Thema Qualität der Pflege. auch gemeindenahe Psychiatrie – das war früher eben das Wegsperren – und die Frage, wie kann man verhindern, dass psychisch Kranke eben einfach nur weggeschlossen werden und nicht mehr Teil dieser Gesellschaft sind, das waren damals wichtige Debatten.
Und es tut mir eigentlich heute leid, dass man, ja, fast nur noch darüber spricht, dass die Menschen mehr verdienen sollten und dass man nicht mehr oder man gerade wieder anfängt darüber zu diskutieren, wie denn eine humane Altenpflege zum Beispiel auszusehen hätte, oder wie schlimm es häufig für Patienten im Krankenhaus ist, wenn sie vielleicht nur zwei oder drei Mal am Tag eine Schwester sehen und die noch keine Zeit hat.
Burchardt: Von der Bezahlung des Personals ganz abgesehen.
Wulf-Mathies: Ja.
Burchardt: Wenn Sie das erwähnen, die damalige Situation, hat man ja manchmal so das Gefühl, Mensch, das ist ja noch ein anderes Land damals gewesen, da hat sich ja dann doch einiges zumindest zum Besseren entwickelt, was vielleicht wieder rückentwickelt wird, das muss man abwarten. Nur, es gab damals ja – ich weiß nicht genau, ob das gerade Ihre Zeit war, aber - man würde heute darüber lachen –, da erreichten wir eine Million Arbeitslose, wo man sagte, Gottes Willen, Katastrophe, eine Million Arbeitslose, kommen wir ja nie wieder raus! Wie sehen Sie das rückwirkend? Wäre das zu vermeiden gewesen oder war das ganz einfach unter dem Schlagwort der Ökonomisierung politischer Formeln eine zwangsläufige Entwicklung, die dann ja bis zu fünf Millionen führte?
Wulf-Mathies: Ich denke schon, dass man es auch hätte vermeiden können, wenn man gemeinsam nach Wegen gesucht hätte, wie man das zum Beispiel jetzt in der Krise getan hat mit der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes oder mit entsprechenden gemeinsamen Aktivitäten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Man muss allerdings auch sehen, dass es eben enorme Umstrukturierungsprozesse gegeben hat.
Und ich glaube, auch die Gewerkschaften haben damals nicht ausreichend gesehen, dass es eben nicht genügt, die Menschen sozial abzusichern. Damals gab es also im Vergleich zu heute ein fantastisch hohes Arbeitslosengeld! Nur, was man überhaupt erst gelernt hat, ist, dass es wichtiger ist, den Menschen die Möglichkeit zu geben, wieder in den Arbeitsmarkt hineinzukommen, und dass das Thema Qualifizierung, die Notwendigkeit, Menschen möglichst nicht ihre Qualifikation verlieren zu lassen, mutlos zu werden, krank zu werden und dann zu Langzeitarbeitslosen zu werden, dass man das nicht schnell genug bedacht hat und dass man den Qualifizierungsaspekt, diesen Trampolinaspekt, möglichst schnell wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, dass man das vielleicht übersehen hat.
Man hat sich vielleicht zu sehr damit zufrieden gegeben, dass Arbeitslosigkeit nicht die soziale Katastrophe jetzt einkommensmäßig ist, und hat zu wenig an die psychischen Auswirkungen gedacht, zu wenig darüber nachgedacht, was es eben für Menschen bedeutet, nicht gebraucht zu werden, nicht integriert zu sein.
"Man muss die Sorge haben, dass man auch jetzt vor lauter Staatsverschuldung wieder vergisst, woher die Krise kam, wer sie verursacht hat und wer schon wieder im Kasino spielt."
Irland, die Euro-Krise und Brüsseler Demokratiedefizite
Burchardt: Wir werden ja nachher noch darauf zu sprechen kommen, dass Sie Berater von Kanzler Schröder zumindest in einer gewissen Zeit waren, nach Ihrer Kommissarstätigkeit. Und da wollte ich eigentlich jetzt drauf eingehen, nämlich die Frage, ob eigentlich in dieser Phase nationale Wirtschaftspolitik gerade im Euro-Raum – 21 Staaten damals, jetzt 27 – möglich ist oder ob wir längst von den Sachzwängen so weit überholt sind, dass man sagen kann, hier gibt es gar kein Zurück mehr? Sie waren ja damals für Regionalpolitik zuständig und Kohäsionspolitik.
Wulf-Mathies: Ja, richtig. Und wenn Sie so wollen, gehörte ich zu den Kohäsionsfreunden, die sich da jetzt gerade getroffen haben.
Burchardt: Ja, sind Sie da nicht fürchterlich frustriert im Augenblick?
Wulf-Mathies: Aber ... Ich bin sehr frustriert, weil zum Beispiel unser Paradeexemplar, nämlich Irland, durch die Bankenkrise so enorm abgestürzt ist. Denn die Iren hatten es ja wirklich geschafft, die Mittel, die sie bekommen haben, so gut einzusetzen, dass sie am Ende nicht mehr Empfängerland, sondern sogar Zahlerland geworden wären ...
Burchardt: Aber haben sie nicht auch viele Dumpingsteuern erhoben, Dumpingsteuern, Gewerbesteuern zum Beispiel ...
Wulf-Mathies: Wollte ich gerade sagen: Was, glaube ich, ein Problem war, was aber jetzt nicht zu der jetzigen Krise geführt hat, aber was ein Riesenproblem war – und das ist nicht nur das Problem Irlands –, sondern, dass die EU es eben nicht verstanden hat, sich auf Grundsätze zur Unternehmensbesteuerung zu einigen. Und es geht einfach nicht ...
Burchardt: Einheitlich.
Wulf-Mathies: Ja, alle, für alle Länder.
Burchardt: Ja.
Wulf-Mathies: Und das heißt, dann wäre ein Irland und dann würde Jersey und Guernsey und welche Steueroasen es noch gibt, vielleicht sogar auch partiell in Luxemburg und anderswo, würde es die eben nicht mehr gegeben haben. Und das zeigt eben, diese Notwendigkeit war ja schon ganz früh klar, dass das so nicht geht. Wenn man einerseits in einer Solidargemeinschaft sich befindet und andererseits versucht, sich dann über die niedrigsten Steuersätze und die niedrigsten Sozialstandards einen Vorteil zu verschaffen.
Burchardt: Aber Frau Wulf-Mathies, ist das nicht gelebte EU-Politik von Anfang an, dass eigentlich immer erst jeder gesagt hat, mir sitzt mein Hemd näher als die Hose?
Wulf-Mathies: Ja und nein. Natürlich macht es auch keinen Sinn, eine Gemeinschaft wie die Europäische Union darauf aufzubauen, dass man sich nur lieb hat gegenseitig und alles für den Nachbarn tut und sich selbst vergisst, das kann nie eine gesunde Grundlage für einen solchen Zusammenschluss sein. Aber man muss eben schon versuchen, mal abzuschichten, was welche Folgen hat und ob man am Ende bereit ist, die Folgen, die sich aus seinem eigenen Egoismus ergeben, dann wieder zu tragen.
Und ich sage mal, auch die Tatsache, dass Deutschland sich zum Teil auf Kosten der übrigen EU-Partner seinen Exportweltmeister und seine hervorragende Wettbewerbsposition erkauft hat, gehört da rein! Das heißt jetzt nicht, Deutsche, arbeitet nicht mehr gut oder exportiert nicht mehr schön! Aber die Notwendigkeit eben, zu sehen, dass es einen Zusammenhang zwischen Beschäftigung, Lohnentwicklung, Produktion, Preisentwicklung gibt, das ist schon auch etwas, was wir eigentlich deutlicher machen müssten.
Burchardt: Unsere Überschüsse sind die Defizite der anderen.
Wulf-Mathies: Im Grunde ja. Was nicht heißt, dass die anderen jetzt einfach nur sagen, Geld her! Aber was schon bedeutet: Balance! Und da komme ich wieder auf mein ökonomisches Viereck. Es ist ganz komisch, dass ich darüber über viele Jahre gar nicht nachgedacht habe, aber dass man jetzt im Grunde sagt, Leute, das haben wir alles schon mal überlegt, dass es so sein muss, und trotzdem vernachlässigen wir das immer wieder und machen die falsche Politik! Wobei man sagen muss: Beim Anfang der Wirtschaftskrise hat das ja sogar funktioniert. Denn die zum Teil sehr große Verschuldung auch in Deutschland kommt ja unter anderem auch daher, dass man versucht hat, gegenzusteuern, dass man nicht in die Rezession schlittert.
Burchardt: Man hatte die Banken nicht auf dem Zettel.
Wulf-Mathies: Das ist genau das Problem. Und man muss die Sorge haben, dass man auch jetzt vor lauter Staatsverschuldung wieder vergisst, woher die Krise kam, wer sie verursacht hat und wer schon wieder im Kasino spielt mit hohen Einsätzen.
Burchardt: Ja. Ich würde ganz gerne auf Ihre Zeit als Kommissarin zu sprechen kommen, auch deshalb, weil diese Kommission, die Santer-Kommission, ja vor allem deshalb uns allen in Erinnerung geblieben ist, weil sie die einzige bisherige Kommission ist, die vom Europaparlament nach Hause geschickt wurde. Das war ja ein einmaliger Vorgang, da war viel Korruption im Spiel, ich will da gar nicht ins Einzelne gehen ...
Wulf-Mathies: Nein, es war eben keine Korruption!
Burchardt: Dann klären Sie bitte uns alle auf!
Wulf-Mathies: Es hat niemand der Kommission Korruption vorgeworfen, sondern es gab im Grunde einen wesentlichen Punkt, das war dieser berühmte Zahnarzt von Edith Cresson ...
Burchardt: Edith Cresson, ja.
Wulf-Mathies: ... mit dem Vertrag. Aber Korruption ist eigentlich was anderes.
Burchardt: Wurde Ihnen nicht auch vorgeworfen, Sie hätten – ohne dass ich das jetzt Korruption nennen will –, aber Sie hätten auch einem Gatten einer ehemaligen Studienfreundin einen Job in Brüssel besorgt?
Wulf-Mathies: Ja, aber das ist doch auch zum Piepen! Das war ... Wissen Sie, was das Argument war? Ich hätte den im Kabinett beschäftigen dürfen, aber nicht in der Kommissionsverwaltung für einen Zeitvertrag. Und das war jemand, der einen bestimmten Zeitvertrag hatte. Das heißt ...
Burchardt: Also, Herr Santer hätte nicht zurücktreten müssen?
Wulf-Mathies: Nein, aber er hätte mutig genug sein müssen, Edith Cresson zum Rücktritt zu bewegen. Weil das Problem, was eigentlich dahintersteckte, nicht Korruption war, sonst hätte man ja auch irgendwann dagegen was tun können, und man hat ja versucht sogar, Edith Cresson ihre EU-Rente zu streichen, und ist damit vor Gericht nicht durchgekommen. Also sprich, die Diskussion ... Sie kennen das, wenn man eine Chance hat, irgendwem Korruption oder irgendwas vorzuwerfen, dann überschlagen sich alle und dann spielen Fakten auch nur noch eine geringe Rolle.
Ich denke, was ein viel größeres Problem war und was ich persönlich Edith Cresson übel genommen habe, war, dass sie möglicherweise aus einer gewissen französischen Tradition heraus das Europäische Parlament nicht für satisfaktionsfähig gehalten hat und nicht gemeint hat, dass sie dem Europäischen Parlament gegenüber offen gegenübertreten muss, und dass sie auch rechenschaftspflichtig ist gegenüber dem ...
Burchardt: Sie galt ja damals, könnte man vielleicht auch sagen, als die starke Frau in der Kommission. Sie war ja wohl auch schwer genießbar und war erst Agrar- und hinterher Bildungskommissarin und vor diesem Hintergrund war es wohl schwierig.
Wulf-Mathies: Ja, ob die so stark war, weiß ich nicht, aber die Franzosen waren ja typisch wie ein Mann beziehungsweise eine Frau, selbst mit einer konservativen Regierung, die dann eine nationale Katastrophe daraus machen wollten, wenn also jetzt ihre Kommissarin zurückgezogen wird. Aber ich denke, was man gelernt hat daraus, ist in der Tat: Wenn es Ärger gibt, der berechtigt ist, und der war berechtigt gegebenenfalls bei dieser Zahnarztgeschichte, aber viel berechtigter aus meiner Sicht im Umgang mit dem Parlament und der Bereitschaft, das Parlament als, wenn man so will, Volkssouverän anzuerkennen und ...
Burchardt: Da sind wir auch heute eigentlich noch nicht weiter. Also, es ist ja nach wie vor noch ein Demokratiedefizit unterwegs in Europa.
Wulf-Mathies: Ja, aber es hat sich doch enorm verändert. Und ich beobachte immer, wenn jetzt auch gerade die bei uns in Talkshows so beliebten älteren Herren sich zu Europa äußern, dass sie nicht wahrgenommen haben, dass das Europäische Parlament inzwischen sehr weit gleichberechtigt ist, dass es ...
Burchardt: Ja, beim Haushaltsrecht.
Wulf-Mathies: ... Haushaltsrecht hat, jetzt haben die Parlamentarier gesagt, nein danke, wir diskutieren so nicht, auch in personellen Fragen und auch, wenn sie Herrn Mersch nicht wirklich verhindern hätten können, sie haben zumindest im Kreis der Mitgliedsstaaten eine neue Diskussion auch durch ihre Kritik aufgemacht, weil sie der Meinung waren, es sollte eine Frau in diesem Bereich sein. Und die Tatsache, dass übrigens der deutsche Präsident des Europäischen Parlaments jetzt durchgesetzt hat, dass er bei den europäischen Reden, nicht nur bei der Pressekonferenz und beim Shakehands dabei ist, sondern dort auch Stellung nehmen kann, das ist etwas Neues! Und das sind wir nur in Deutschland immer nicht bereit, wahrzunehmen.
Und ich denke, dass man immer noch über das eine oder andere reden kann, zum Beispiel wie viel eine Stimme wert ist, wenn Sie die kleinen und die großen Mitgliedsstaaten sehen. Trotzdem, die deutschen Parlamentarier sind jetzt die größte Gruppe im Europäischen Parlament – 80 Millionen Bevölkerung, das ist auch okay – und das Europäische Parlament hat sich zunehmend emanzipiert. Und wir wären gut beraten, wenn wir auch bereit wären, stärker zu gewichten, was wir einmal mit dem nationalen Parlament tun dürfen.
Ich finde es ja schon schlimm genug, dass das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag sagen musste, ihr habt da Rechte, die hatten sie vorher auch, man muss sie nur auch wahrnehmen, wenn man sie hat –, und dass man nicht ein stärkeres Zusammenspiel zwischen nationalen Parlamenten und Europaparlament nutzt, um die Räte stärker unter Druck zu setzen und zu verhindern, dass eben genau das passiert, was jetzt scherzhaft die Rätepolitik genannt wird: nämlich, dass im Grunde ein nicht legitimiertes Gremium, auch durch die europäischen Verträge nicht dafür wirklich legitimiertes Gremium, nämlich der Europäische Rat, die gesamte Politik entscheidet und dort Geschäfte unterm Ladentisch eine viel größere Rolle spielen, weil die Europäische Kommission ausgeschaltet wird und das Parlament ausgeschaltet wird.
Monika Wulf-Mathies, die Quotenfrage und die Zukunft Europas
Burchardt: Wir nähern uns langsam dem Ende. Ich würde ganz gern noch zwei Fragen loswerden an Sie, zum einen auch aus Ihrer persönlichen Betroffenheit oder im Engagement auch für mehr Rechte für Frauen. Frau Reding hat jetzt gerade vorgeschlagen, dass in ganz Europa – und sie ist da zurückgekommen auf die Römischen Verträge –, dass mindestens 40 Prozent ins Management der nationalen Konzerne und Unternehmungen kommen sollten. Da schreit man jetzt in Deutschland, aber nicht nur hier, auch schon wieder Aua, nach dem Motto, was geht das die Kommission an!
Wulf-Mathies: Also, gerade was Gleichstellung anlangt und Chancengleichheit für Frauen, hat Europa große Fortschritte gebracht. In unserem Arbeitsrecht hätten wir viele Dinge ohne Europa nie durchsetzen können. Und ich sage mal, wir sollten uns vielleicht weniger darüber streiten, ob Europa dazu was zu sagen hat oder nicht, und mehr selber uns drum kümmern, dass wir eine Quote durchsetzen. Und zwar nicht nur im Aufsichtsrat, sondern vor allen Dingen im Vorstand. Egal, bei welchen ...
Burchardt: Waren Sie selber damals Quotenfrau bei der Gewerkschaft?
Wulf-Mathies: Ich war sicher nicht Quotenfrau, aber ich habe die Quote in der ÖTV eingeführt. Und ich bin auch für die Quote. Und es ist überhaupt nicht entwürdigend, wenn eine Frau wegen der Quote dann einen Job erhält, weil sie nämlich nur den bekommt, der ihr ohnehin zugestanden hätte dank ihrer Qualifikation. Und solange nicht mittelmäßige Frauen genau so wie mittelmäßige Männer die gleichen Chancen haben, an die Spitze zu kommen, sind wir immer noch weit entfernt. Also, von daher: Quote ist meines Erachtens einfach notwendig, wenn wir nicht bis ins nächste Jahrhundert warten wollen, bis dann vielleicht sich einige Dinge herausgemäntelt haben.
Burchardt: Zweite und letzte Frage, rekurriert noch einmal auf das, was ich vorhin sagte: Sie waren 1999/2000 Berater von Gerhard Schröder, 2003 hat er die Agenda 2010 auf den Weg gebracht. Haben Sie in der Vorbereitung dieser Entwicklung mitgewirkt? Und wie beurteilen Sie heute die Auswirkungen?
Wulf-Mathies: Ich habe mich damals um das Problem Landesbanken und Sparkassen gekümmert, weil es dort zwischen Bund und Ländern auch unterschiedliche Auffassungen darüber gab, wie man in dieser Frage verfahren sollte. Und ich habe mich um die deutsche Innenpolitik in der Zeit zwar als Privatperson, aber nicht als Beraterin gekümmert.
Burchardt: Jetzt noch die allerletzte letzte Frage: Ist Europa noch zu retten?
Wulf-Mathies: Natürlich, wenn wir es wollen! Und ich sage mal: Wir müssen es! Denn schauen Sie sich mal an: Wir sind eine Rechtsgemeinschaft, eine Wertegemeinschaft, wir sind ein Hort der Demokratie. Und wir haben gemeinsame Vorstellungen vom europäischen Sozialmodell. Und wenn wir uns in dieser Welt durchsetzen wollen gegen den angelsächsischen Kapitalismus und gegen das, was an Raubtierkapitalismus inzwischen in China geschieht, dann, denke ich, sollten wir wirklich alles daran setzen, dieses Europa zu einem Musterbild zu machen, das auch in Zukunft seine Attraktivität auf andere nicht verfehlt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
"Gerade ein Land wie Deutschland braucht die Europäische Union."
Monika Wulf-Mathies und die Europa-Idee als Hymne an die Freude
Rainer Burchardt: Frau Wulf-Mathies, lieben Sie Beethoven?
Wulf-Mathies: Ja, sehr!
Burchardt: Was besonders?
Wulf-Mathies: Ach Gott, da gibt es so viel schöne Sachen, "Für Elise" oder die "Diabelli-Variationen", und trotz allem auch immer wieder die neunte, aber auch die anderen Sinfonien.
Burchardt: Also auch die "Hymne an die Freude", die Europahymne.
Wulf-Mathies: Natürlich! Das ist doch gut, dass zumindest die Hymne das besagt, was wir eigentlich mehr fühlen sollten, nämlich dass Europa trotz aller jeweils kurzfristigen Schwierigkeiten ein freudiges Ereignis für die Deutschen ist!
Burchardt: Schön, dass Sie darauf eingehen, das war der Hintergrund auch meiner Frage natürlich! Wir erleben ja im Augenblick eine Europakrise, die sich gewaschen hat und wo man auch noch nicht sicher sein kann, wann die tatsächlich zu Ende ist. Sie sind mal Kommissarin gewesen, fünf Jahre lang, in der sogenannten Santer-Kommission. Sie haben es also wirklich an den Wurzeln miterleben können, wie Europapolitik gestaltet wird. Glauben Sie, dass im Augenblick bei den 27 Staaten – zu Ihrer Zeit, glaube ich, gab es 21 Mitgliedsstaaten ...
Wulf-Mathies: Zunächst sogar nur 15!
Burchardt: ... ja, –, dass Europa auf diese Art und Weise tatsächlich auf Dauer so halten kann?
Wulf-Mathies: Also, auf diese Weise sicher nicht. Sondern was wir doch aus dieser Krise lernen, ist, dass wir uns noch mal fragen müssen: Was haben wir an Europa? Und dass wir nicht nur Steuerzahler sind, so bedeutsam das auch für jeden Einzelnen ist. Im Augenblick haben wir 600 Millionen Plus gemacht aus den Zinsen, die die Griechen zahlen. Das ist sicher auch nicht das, was man sich von einem solidarischen Europa vorstellt. Und klar ist auch, dass das Regelwerk ergänzt werden muss um die Notwendigkeit, nicht nur Kontrollen im Fiskalischen zu haben, sondern vor allen Dingen echte Kooperation in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Nur, die schönste Reform oder die schönsten Institutionen helfen nicht, wenn nicht die Menschen mitspielen. Und was wir im Augenblick erleben, sind lauter Regierungschefs, die auf die nationale oder hier in Deutschland sogar nur auf die regionale Agenda gucken, wenn irgendwo Landtagswahlen sind, und die aus dem Blick verlieren, dass gerade ein Land wie Deutschland die Europäische Union braucht. Nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als die Chance, die es geboten hat. Nämlich die Angst vor deutscher Vormachtstellung und deutscher Politik unserer Nachbarn zu reduzieren oder auf ein Mindestmaß zu drücken.
Und meine große Sorge ist, dass diese Rechthaberei in der politischen Diskussion – mehr, sage ich mal, im Verbalen als im Tatsächlichen, wo man dann doch immer wieder beidreht und zeigt, dass man sich verständigen muss –, aber dass diese verbale Kraftmeierei genau wieder Ängste vor Deutschland weckt, die uns über die gesamte Entwicklung der EU Gott sei Dank nicht mehr begleitet.
Burchardt: Aber ist es nicht auf der anderen Seite so, und das hört man ja auch sehr oft, dass Europa eine Führung braucht und Frau Merkel vielleicht auch sogar mit dem Satz "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa" hier diese Rolle übernommen hat?
Wulf-Mathies: In dem Satz stimme ich ihr zu, wie ich ihr überhaupt bei etlichen Dingen zustimme, die sie von Europa gesagt hat, nämlich dass es eine Schule der Toleranz sei und dass die Ring-Parabel eigentlich ein gutes Beispiel sei für das, was in Europa wichtig und notwendig sei. Aber die Schwierigkeit ist, dass die Art, wie sie – im Wesentlichen angetrieben, denke ich, durch innenpolitische Debatten – in einer Härte und Arroganz gegenüber den kleinen und den Mitgliedsstaaten, die sich in großen Schwierigkeiten befinden, beträgt, und dass sie offensichtlich nicht ausreichend bedenkt, welches Bild da von Deutschland entsteht.
Das heißt, ich habe nichts gegen Führung, und fragen Sie mal die kleinen Länder, Luxemburg, Belgien, die wünschen sich deutsche Führung! Aber nicht mit dem Säbel und dem Tschingderassabum. Das hatten wir mal und war unselig genug. Sondern, indem man sich eben auch ein Stück in den Dienst der gemeinsamen Sache stellt. Nicht aus karitativen Überlegungen, sondern weil Deutschland in der Vergangenheit und, ich denke, auch in der Zukunft am meisten von Europa zu profitieren hat.
"’Unter dem Talaren - Muff von 1000 Jahren’, dieses Foto hat mich mein Leben lang begleitet."
Herkunft aus konservativem Elternhaus, die 68er-Prägung und frühe Hinwendung zur demokratischen Linken in Deutschland
Burchardt: In welchem Elternhaus sind Sie aufgewachsen?
Wulf-Mathies: Mein Vater war bei der Steuerverwaltung und meine Mutter war immer berufstätig und hat sich vom Krieg an aufwärts bis zur Abteilungsleiterin in einer Krankenkasse hochgearbeitet.
Burchardt: Waren das Sozialdemokraten? Wie sind Sie für die Sozialdemokratie sozialisiert worden?
Wulf-Mathies: Nein. Mein Vater war eher konservativ und meine Mutter hatte aus der Nazizeit, wo sie zeitweise im BDM war, eigentlich nur mitgenommen, Politik ist ein schmutziges Geschäft und da muss man sich möglichst fernhalten ...
Burchardt: Schlechte Gesellschaft.
Wulf-Mathies: ... ja, und da muss man sich möglichst fernhalten. Insofern hat sich mein ... ja, wie soll ich mal sagen, meine politische Prägung eigentlich erst im Laufe meines Studiums im Wesentlichen entwickelt. Und hatte natürlich damit zu tun, dass ich eine 68erin bin, die heute zwar sehr beschimpft werden, aber ich denke immer, aus einer Sicht, gegen was man damals stand. Nämlich die Verkrustung der Adenauer-Zeit aufzubrechen, dann eben mit Willy Brandt mehr Reformen wagen, mehr Demokratie. Das waren für uns die Dinge, die jedenfalls viele in meiner Generation politisiert haben. Und "Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren", dieses Foto hat mich mein Leben lang begleitet und ist für mich eben auch Ansporn gewesen, für Veränderungen einzutreten, mich auch selbst zu engagieren und nicht nur zu sagen, lass die mal da draußen, das geht mich alles nichts an.
Burchardt: Erinnern Sie sich noch, Sie sind 1965 der SPD beigetreten. Gab es da für Sie einen bestimmten Moment oder haben Sie gesagt, jetzt gehe ich einfach hin?
Wulf-Mathies: Ja, ich denke, dass ich ...
Burchardt: Das war ja nach einer verlorenen Bundestagswahl für Willy Brandt auch.
Wulf-Mathies: Ja, es war aber damals mehr geprägt – ich habe ja in Hamburg an der Uni studiert –, mehr geprägt von einigen Personen, die mich beeindruckt haben, und im Universitätsviertel damals auch natürlich von dieser Auseinandersetzung Rechts-Links, die damals sehr stark war und wo man natürlich der Meinung war, da müssten die alten Säcke raus und es müsste was Neues her!
Burchardt: Von alten Säcken zu den Sandsäcken! 1962 gab es in Hamburg eine Sturmflut, da gab es einen sozialdemokratischen Innensenator namens Helmut Schmidt, der sich auch über Gesetze hinwegsetzte, wie jetzt auch noch beim Rauchen. Hat er Ihnen damals imponiert eigentlich?
Wulf-Mathies: Komischerweise habe ich das alles mehr so nur am Fernsehen ... Wir wohnten in einem Stadtteil, wo also Überflutungen nicht zu befürchten waren. Man hat das am Fernsehen und Radio mitgekriegt, aber das hat keinen so tiefen Eindruck bei mir hinterlassen damals. Ich habe Schmidt ja dann später als Chef im Kanzleramt eine Weile erlebt und ich habe mich an Schmidt gerieben, als es um die Notstandsgesetze ging. Das war eigentlich auch so ein Urerlebnis, "Spiegel"-Krise, Notstandsgesetze, diese Dinge. Und da hat die Sturmflut in Hamburg eigentlich gar nicht viel dazu beigetragen.
Burchardt: Also, nach den Notstandsgesetzen wollte ich Sie ohnehin fragen, weil Sie so eben geschwärmt haben, als 68er und mehr Demokratie wagen und so. Immerhin war ja auch Willy Brandt in der Großen Koalition Außenminister und diese Große Koalition hat ja 1968 nun wirklich die Notstandsgesetze durchdiskutiert und durchgezogen, auch gegen den doch sehr lautstarken Protest der Klientel, die sich bis heute noch 68er nennt. Wie haben Sie denn das damals überstanden?
Wulf-Mathies: Die Aufregung hat eigentlich viel früher stattgefunden. Und als es dann tatsächlich kam, war das Thema jedenfalls für mich schon weitgehend durch und eigentlich nicht mehr, wo man noch irgendwie was ändern konnte. Und gut, es hat sich ja auch gezeigt, dass letztendlich sie nicht zu dem geführt haben, was man vielleicht damals befürchtet hat. Aber ich erinnere mich, dass, als sie dann verabschiedet ...
Burchardt: Sie meinen Einsatz der Bundeswehr gegen das eigene Volk.
Wulf-Mathies: Ja, ja, als sie dann verabschiedet wurden, ja, war eigentlich jedenfalls mein Widerstand schon erlahmt. Und es gab dann so viel andere eher positive Aspekte, die einem jedenfalls sehr viel mehr bedeuteten und die dann auch eine sehr viel größere Rolle irgendwie spielten.
Burchardt: Sie sind ja nachher, zunächst einmal jedenfalls, gerade als ÖTV-Mitglied und dann auch als führende ÖTV-Frau, sehr innenpolitisch dominiert gewesen. Wie eigentlich haben Sie denn Anfang der 70er-Jahre im Aufbruch damals die Ostpolitik empfunden?
Wulf-Mathies: Ich war eigentlich froh und habe das also als eine ... ja, wie soll ich mal sagen ... als einen notwendigen Schritt neben der völlig richtigen Westeinbindung gesehen, wieder zu versuchen, auch mit dem Osten ins Gespräch zu kommen. Also, die Formel "Wandel durch Annäherung", die von Egon Bahr, wenn ich das richtig sehe, stammt, die fand ich ausgesprochen richtig. Und wir haben ja auch im gewerkschaftlichen Bereich – da war sogar Heinz Kluncker einer der Vorkämpfer – dann ...
Burchardt: Der damalige ÖTV-Chef.
Wulf-Mathies: ... versucht, dann versucht, auch unsererseits Kontakt zu Gewerkschaften in Ostblockländern, also in Polen, in der damaligen Sowjetunion aufzunehmen, und auch mit Gewerkschaftern in der DDR ins Gespräch zu kommen. Was am schwierigsten war, weil deren Möglichkeiten, sich authentisch zu äußern, fast gleich null waren, weil bei den Beziehungen, die wir dann durchaus hatten, einfach so Typen wie Harry Tisch einem auch schon äußerlich irgendwie Probleme machten und erst recht die Art, wie die Diskussion war. Also, von daher hat die ÖTV immer zu denen gehört, die zwar sehr intensiv den Gesprächsfaden gesucht haben, aber nicht, um sich in weltfriedensrosaroten Bildern zu ergehen, was natürlich immer von den Ostblockgewerkschaften eigentlich gefordert war, sondern indem man eben auch was sagte zu den Raketen und zur Stationierung der SS-20. Und ich habe Harry Tisch sehr damit geärgert, dass ich ihm gesagt habe, ich würde keine friedlichen Raketen kennen und ich würde mich vor den einen genau wie vor den anderen fürchten, und insofern würde ich eigentlich auch erwarten, dass Gewerkschaften in der DDR ihre Regierung genau so versuchten zu beeinflussen, eben diese nicht aufzustellen, statt zu sagen, unsere sind die schönen und eure sind die schmutzigen!
Burchardt: Sie sind ein bisschen weit schon nach vorn gegangen jetzt. Ich würde noch ganz gerne eine Phase ansprechen, die Sie erlebt haben nach Ihrer Promotion: Sie sind dann bei Karl Schiller gewesen ...
Wulf-Mathies: Ja!
Burchardt: ... als Assistentin oder als was auch immer. Auf jeden Fall ist das Ihrer Vita zu entnehmen. Und wer bei Karl Schiller damals war, war auch bei Franz Josef Strauß. Plisch und Plum war ja irgendwie auch noch mal so eine Art von ... wenn auch in der Großen Koalition, aber doch glaube ich, dass Schiller, der ja auch später dann der CDU sogar noch beigetreten ist, irgendwo ja einer der Konservativen im sozialdemokratischen Wirtschaftslager gewesen ist. Wie haben Sie das selber empfunden, haben Sie sich da überhaupt wohl gefühlt?
Wulf-Mathies: Ja, das Wirtschaftsministerium war damals eigentlich so ein eher Elite- und sehr geschätztes Ministerium. Der Niedergang der verschiedenen Haus und Bange und sonstiger Männer [Anm. der Redaktion: Dr. Helmut Haussmann war von 1988-1991 und Dr. Martin Bangemann von 1984-1988 Bundeswirtschaftsminister] kamen dann erst sehr viel später. Und unter Karl Schiller war das eine Blütezeit des Wirtschaftsministeriums mit Top-Leuten, wo man vor allen Dingen ungeheuer viel lernen konnte. Denn Karl Schiller hat ja auch mit der Plastizität, mit der er wirtschaftspolitische Entscheidungen beschrieben hat, wie er Keynes eigentlich auch in die Wirtschaftspolitik eingeführt hat – die Pferde sollen wieder saufen, barfuss durch die Talsohle ...
Burchardt: Konzertierte Aktionen ...
Wulf-Mathies: ... und dergleichen Dinge, konzertierte Aktionen ... In den Anfängen war es vielleicht ganz gut, nachher ist es eben auch verkommen zu so einem unverbindlichen Gremium, in dem eigentlich nur jeder seine fertigen Statements verlas. Aber ich habe da sehr viel gelernt und habe das auch ... Ich hatte ja ein bisschen Volkswirtschaft auch studiert, habe das also durchaus als einen Gewinn von Rüstzeug eben gerade auch für eine veränderte Wirtschaftspolitik ... Und das magische Viereck zum Beispiel, was wir zwischendurch mal ganz vergessen hatten, da kam hoher Beschäftigungsstand dann irgendwann nicht mehr vor. Das waren durchaus alles Dinge, die, auch wenn Karl Schiller sicher eher dem rechten Flügel zugehörte ... Wirtschaftspolitisch war das alles Neuland und war was ganz anderes als das, was wir vorher hatten und ...
Burchardt: Was er ja damals auch propagiert hat, war die sogenannte antizyklische Konjunkturpolitik.
Wulf-Mathies: Zum Beispiel!
Burchardt: Ist das nicht auch ein Rezept für heute?
Wulf-Mathies: Natürlich, das sehe ich auch immer noch so. Was eben alles mit dieser Grundlage zu tun hat, dass man versuchen muss, diese vier Dinge – Wachstum, Preisstabilität, Beschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht –, diese Dinge auch in einer Balance zu halten. Und Sie könnten heute sagen, das wäre vielleicht auch ein richtiges Rezept für Europa. Denn da machen wir nur Preisstabilität und fiskalpolitische Vorschläge und meinen, dann ginge der Rest von allein. Und wir sehen ja nun auch sehr schmerzhaft, dass das gerade so eben nicht reicht.
"Diese Sonne mit dem Symbol der IG Metall war eben auch das, wohin alle schauten, dem konnte man sich gar nicht entziehen."
Spitzenfrau bei der ÖTV, das Modell Sozialpartnerschaft und das Ziel der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.
Burchardt: 73 gab es die Ölkrise, Ölpreiskrise. Und im Gefolge dieser Krise gab es große, auch sozialpolitische Verwerfungen. Die Gewerkschaften haben damals oder waren damals ja sehr gefordert. War das für Sie auch ein Grund, sich dann stärker im gewerkschaftlichen Bereich umzutun?
Wulf-Mathies: Ja, es war schon so, dass ich das Gefühl hatte, man muss die Gewerkschaften in der gesellschaftspolitischen Diskussion stärken und man muss mehr dafür tun, die Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit dann auch in die allgemeine politische Diskussion und dann letztendlich auch als mehr Demokratie, die eben dann auch am Fabriktor nicht aufhört, sondern auch ein Stück weit Mitbestimmung eben mit beinhaltet, nach vorn zu tragen.
Ich habe damals noch das Mitbestimmungsgesetz ´76 mit Helmut Schmidt im Kanzleramt, als ich dort das Referat Sozial- und Gesellschaftspolitik hatte, verhandelt mit diesen ganzen komplizierten Abstimmungsmechanismen, die ein koalitionspolitischer Kompromiss waren, aber dass eben die Basis, wenn man so will, auch der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland über Jahrzehnte auch mit Mitbestimmung und mit dem Modell der Sozialpartnerschaft, dem teilweise sehr verteufelten und jetzt doch von allen eigentlich als richtig akzeptierten Modell Sozialpartnerschaft zu tun hat. Und wenn Sie sich da mal anschauen, sind wir eben durch all diese Krisen auch dadurch, dass es eben diese Kooperationsbereitschaft gab, besser gekommen als zum Beispiel das Großbritannien der Thatcher-Zeit.
Burchardt: Wobei Helmut Schmidt ja damals – der von Ihnen jetzt erwähnte – gesagt hat, ihm seien fünf Prozent Inflation lieber als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.
Wulf-Mathies: Ja, das würde ich auch heute noch unterschreiben.
Burchardt: Am Ende sah es ein bisschen anders aus. Aber vielleicht schalten wir noch ein bisschen vor: Sie waren dann Nachfolger von Heinz Kluncker, als ÖTV-Chefin. Heinz Kluncker hat ja Willy Brandt sehr zugesetzt mit einer damals, wenn ich mich recht erinnere, 16-prozentigen Lohnerhöhungsforderung. Sie selber haben irgendwann mal, so ist es Ihrer Vita zu entnehmen, auch mal eine Nullrunde durchgesetzt. Aber was das Wichtigste wahrscheinlich ist, ist, dass Sie den Einstieg in die 38-Stunden-Woche tatsächlich auf den Weg gebracht haben, bei vollem Lohnausgleich. Wie schwer war diese Übung für Sie eigentlich damals in einer doch relativ gewerkschafts-, ich will mal sagen, -unfreundlichen Umwelt?
Wulf-Mathies: Ja, das Thema war eins, was die Mitglieder sehr befeuert hat, weil es eine einfache Formel war. Es ist immer leichter, nur eine Zahl zu wollen und jeder versteht, worum es geht, als eine Fülle differenzierter Ideen zu entwickeln, die dann auch schwierig zu kommunizieren sind. Und gerade in der politischen Debatte war natürlich dieses Thema 35-Stunden-Woche noch schwieriger als bei der IG Metall.
Auf der anderen Seite, diese Sonne mit dem Symbol der IG Metall war eben auch das, wohin alle schauten, dem konnte man sich auch gar nicht entziehen. Und auch wenn im Ergebnis nicht die Zahl an zusätzlichen Arbeitsplätzen dabei rausgekommen ist und sicher auch die 35-Stunden-Woche, aber die nicht allein, zur Verdichtung von Arbeit mit geführt hat, war es eben doch etwas, was die Menschen mobilisiert hat und ihnen auch gezeigt hat, dass Gestaltung der Arbeitsbedingung insgesamt eben etwas Wichtiges ist, was Gewerkschaften tun und was ihre Mitglieder umtreibt.
Burchardt: Das war ja auch damals ein Stichwort, das auch dazugehört, zu der vereinfachten Formel, nämlich die lebensnahen oder qualitativen Arbeitsplätze. Das hat die Gewerkschaft ja auch versucht, auf den Weg zu bringen. Würden Sie heute sagen, das war erfolgreich?
Wulf-Mathies: Ja, ich meine, die Frage ist immer, womit man es vergleicht. Man weiß, was, wenn sich die Gewerkschaften dann nicht engagiert hätten, sonst noch passiert wäre. Und diese Diskussion um Humanisierung der Arbeitswelt, das war ja dann auch ein politisches Programm und ein Programm, was dann in unterschiedlicher Intensität, aber eben doch in etlichen Bereichen umgesetzt wurde. Das hat sicher zumindest das Bewusstsein dafür geschärft, dass Arbeitsbedingungen und auch Qualität der Arbeitsergebnisse irgendwo zusammenhängen, und dass eine zu starke Arbeitsverdichtung – oder gerade im öffentlichen Dienst, nehmen Sie so Bereiche wie Gesundheitswesen –, dass eben schon ein nicht unwesentlicher Zusammenhang besteht zwischen der Arbeitszufriedenheit derer, die diese Arbeit tun, und der Qualität ihrer Zuwendung dann dem Patienten oder dem alten Menschen gegenüber.
Und die Zeit, der Anfang der 80er-Jahre, war die erste Zeit, wo die Pflegeberufe überhaupt aufgewertet wurden, wo also dieses Thema Qualität der Pflege. auch gemeindenahe Psychiatrie – das war früher eben das Wegsperren – und die Frage, wie kann man verhindern, dass psychisch Kranke eben einfach nur weggeschlossen werden und nicht mehr Teil dieser Gesellschaft sind, das waren damals wichtige Debatten.
Und es tut mir eigentlich heute leid, dass man, ja, fast nur noch darüber spricht, dass die Menschen mehr verdienen sollten und dass man nicht mehr oder man gerade wieder anfängt darüber zu diskutieren, wie denn eine humane Altenpflege zum Beispiel auszusehen hätte, oder wie schlimm es häufig für Patienten im Krankenhaus ist, wenn sie vielleicht nur zwei oder drei Mal am Tag eine Schwester sehen und die noch keine Zeit hat.
Burchardt: Von der Bezahlung des Personals ganz abgesehen.
Wulf-Mathies: Ja.
Burchardt: Wenn Sie das erwähnen, die damalige Situation, hat man ja manchmal so das Gefühl, Mensch, das ist ja noch ein anderes Land damals gewesen, da hat sich ja dann doch einiges zumindest zum Besseren entwickelt, was vielleicht wieder rückentwickelt wird, das muss man abwarten. Nur, es gab damals ja – ich weiß nicht genau, ob das gerade Ihre Zeit war, aber - man würde heute darüber lachen –, da erreichten wir eine Million Arbeitslose, wo man sagte, Gottes Willen, Katastrophe, eine Million Arbeitslose, kommen wir ja nie wieder raus! Wie sehen Sie das rückwirkend? Wäre das zu vermeiden gewesen oder war das ganz einfach unter dem Schlagwort der Ökonomisierung politischer Formeln eine zwangsläufige Entwicklung, die dann ja bis zu fünf Millionen führte?
Wulf-Mathies: Ich denke schon, dass man es auch hätte vermeiden können, wenn man gemeinsam nach Wegen gesucht hätte, wie man das zum Beispiel jetzt in der Krise getan hat mit der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes oder mit entsprechenden gemeinsamen Aktivitäten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Man muss allerdings auch sehen, dass es eben enorme Umstrukturierungsprozesse gegeben hat.
Und ich glaube, auch die Gewerkschaften haben damals nicht ausreichend gesehen, dass es eben nicht genügt, die Menschen sozial abzusichern. Damals gab es also im Vergleich zu heute ein fantastisch hohes Arbeitslosengeld! Nur, was man überhaupt erst gelernt hat, ist, dass es wichtiger ist, den Menschen die Möglichkeit zu geben, wieder in den Arbeitsmarkt hineinzukommen, und dass das Thema Qualifizierung, die Notwendigkeit, Menschen möglichst nicht ihre Qualifikation verlieren zu lassen, mutlos zu werden, krank zu werden und dann zu Langzeitarbeitslosen zu werden, dass man das nicht schnell genug bedacht hat und dass man den Qualifizierungsaspekt, diesen Trampolinaspekt, möglichst schnell wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, dass man das vielleicht übersehen hat.
Man hat sich vielleicht zu sehr damit zufrieden gegeben, dass Arbeitslosigkeit nicht die soziale Katastrophe jetzt einkommensmäßig ist, und hat zu wenig an die psychischen Auswirkungen gedacht, zu wenig darüber nachgedacht, was es eben für Menschen bedeutet, nicht gebraucht zu werden, nicht integriert zu sein.
"Man muss die Sorge haben, dass man auch jetzt vor lauter Staatsverschuldung wieder vergisst, woher die Krise kam, wer sie verursacht hat und wer schon wieder im Kasino spielt."
Irland, die Euro-Krise und Brüsseler Demokratiedefizite
Burchardt: Wir werden ja nachher noch darauf zu sprechen kommen, dass Sie Berater von Kanzler Schröder zumindest in einer gewissen Zeit waren, nach Ihrer Kommissarstätigkeit. Und da wollte ich eigentlich jetzt drauf eingehen, nämlich die Frage, ob eigentlich in dieser Phase nationale Wirtschaftspolitik gerade im Euro-Raum – 21 Staaten damals, jetzt 27 – möglich ist oder ob wir längst von den Sachzwängen so weit überholt sind, dass man sagen kann, hier gibt es gar kein Zurück mehr? Sie waren ja damals für Regionalpolitik zuständig und Kohäsionspolitik.
Wulf-Mathies: Ja, richtig. Und wenn Sie so wollen, gehörte ich zu den Kohäsionsfreunden, die sich da jetzt gerade getroffen haben.
Burchardt: Ja, sind Sie da nicht fürchterlich frustriert im Augenblick?
Wulf-Mathies: Aber ... Ich bin sehr frustriert, weil zum Beispiel unser Paradeexemplar, nämlich Irland, durch die Bankenkrise so enorm abgestürzt ist. Denn die Iren hatten es ja wirklich geschafft, die Mittel, die sie bekommen haben, so gut einzusetzen, dass sie am Ende nicht mehr Empfängerland, sondern sogar Zahlerland geworden wären ...
Burchardt: Aber haben sie nicht auch viele Dumpingsteuern erhoben, Dumpingsteuern, Gewerbesteuern zum Beispiel ...
Wulf-Mathies: Wollte ich gerade sagen: Was, glaube ich, ein Problem war, was aber jetzt nicht zu der jetzigen Krise geführt hat, aber was ein Riesenproblem war – und das ist nicht nur das Problem Irlands –, sondern, dass die EU es eben nicht verstanden hat, sich auf Grundsätze zur Unternehmensbesteuerung zu einigen. Und es geht einfach nicht ...
Burchardt: Einheitlich.
Wulf-Mathies: Ja, alle, für alle Länder.
Burchardt: Ja.
Wulf-Mathies: Und das heißt, dann wäre ein Irland und dann würde Jersey und Guernsey und welche Steueroasen es noch gibt, vielleicht sogar auch partiell in Luxemburg und anderswo, würde es die eben nicht mehr gegeben haben. Und das zeigt eben, diese Notwendigkeit war ja schon ganz früh klar, dass das so nicht geht. Wenn man einerseits in einer Solidargemeinschaft sich befindet und andererseits versucht, sich dann über die niedrigsten Steuersätze und die niedrigsten Sozialstandards einen Vorteil zu verschaffen.
Burchardt: Aber Frau Wulf-Mathies, ist das nicht gelebte EU-Politik von Anfang an, dass eigentlich immer erst jeder gesagt hat, mir sitzt mein Hemd näher als die Hose?
Wulf-Mathies: Ja und nein. Natürlich macht es auch keinen Sinn, eine Gemeinschaft wie die Europäische Union darauf aufzubauen, dass man sich nur lieb hat gegenseitig und alles für den Nachbarn tut und sich selbst vergisst, das kann nie eine gesunde Grundlage für einen solchen Zusammenschluss sein. Aber man muss eben schon versuchen, mal abzuschichten, was welche Folgen hat und ob man am Ende bereit ist, die Folgen, die sich aus seinem eigenen Egoismus ergeben, dann wieder zu tragen.
Und ich sage mal, auch die Tatsache, dass Deutschland sich zum Teil auf Kosten der übrigen EU-Partner seinen Exportweltmeister und seine hervorragende Wettbewerbsposition erkauft hat, gehört da rein! Das heißt jetzt nicht, Deutsche, arbeitet nicht mehr gut oder exportiert nicht mehr schön! Aber die Notwendigkeit eben, zu sehen, dass es einen Zusammenhang zwischen Beschäftigung, Lohnentwicklung, Produktion, Preisentwicklung gibt, das ist schon auch etwas, was wir eigentlich deutlicher machen müssten.
Burchardt: Unsere Überschüsse sind die Defizite der anderen.
Wulf-Mathies: Im Grunde ja. Was nicht heißt, dass die anderen jetzt einfach nur sagen, Geld her! Aber was schon bedeutet: Balance! Und da komme ich wieder auf mein ökonomisches Viereck. Es ist ganz komisch, dass ich darüber über viele Jahre gar nicht nachgedacht habe, aber dass man jetzt im Grunde sagt, Leute, das haben wir alles schon mal überlegt, dass es so sein muss, und trotzdem vernachlässigen wir das immer wieder und machen die falsche Politik! Wobei man sagen muss: Beim Anfang der Wirtschaftskrise hat das ja sogar funktioniert. Denn die zum Teil sehr große Verschuldung auch in Deutschland kommt ja unter anderem auch daher, dass man versucht hat, gegenzusteuern, dass man nicht in die Rezession schlittert.
Burchardt: Man hatte die Banken nicht auf dem Zettel.
Wulf-Mathies: Das ist genau das Problem. Und man muss die Sorge haben, dass man auch jetzt vor lauter Staatsverschuldung wieder vergisst, woher die Krise kam, wer sie verursacht hat und wer schon wieder im Kasino spielt mit hohen Einsätzen.
Burchardt: Ja. Ich würde ganz gerne auf Ihre Zeit als Kommissarin zu sprechen kommen, auch deshalb, weil diese Kommission, die Santer-Kommission, ja vor allem deshalb uns allen in Erinnerung geblieben ist, weil sie die einzige bisherige Kommission ist, die vom Europaparlament nach Hause geschickt wurde. Das war ja ein einmaliger Vorgang, da war viel Korruption im Spiel, ich will da gar nicht ins Einzelne gehen ...
Wulf-Mathies: Nein, es war eben keine Korruption!
Burchardt: Dann klären Sie bitte uns alle auf!
Wulf-Mathies: Es hat niemand der Kommission Korruption vorgeworfen, sondern es gab im Grunde einen wesentlichen Punkt, das war dieser berühmte Zahnarzt von Edith Cresson ...
Burchardt: Edith Cresson, ja.
Wulf-Mathies: ... mit dem Vertrag. Aber Korruption ist eigentlich was anderes.
Burchardt: Wurde Ihnen nicht auch vorgeworfen, Sie hätten – ohne dass ich das jetzt Korruption nennen will –, aber Sie hätten auch einem Gatten einer ehemaligen Studienfreundin einen Job in Brüssel besorgt?
Wulf-Mathies: Ja, aber das ist doch auch zum Piepen! Das war ... Wissen Sie, was das Argument war? Ich hätte den im Kabinett beschäftigen dürfen, aber nicht in der Kommissionsverwaltung für einen Zeitvertrag. Und das war jemand, der einen bestimmten Zeitvertrag hatte. Das heißt ...
Burchardt: Also, Herr Santer hätte nicht zurücktreten müssen?
Wulf-Mathies: Nein, aber er hätte mutig genug sein müssen, Edith Cresson zum Rücktritt zu bewegen. Weil das Problem, was eigentlich dahintersteckte, nicht Korruption war, sonst hätte man ja auch irgendwann dagegen was tun können, und man hat ja versucht sogar, Edith Cresson ihre EU-Rente zu streichen, und ist damit vor Gericht nicht durchgekommen. Also sprich, die Diskussion ... Sie kennen das, wenn man eine Chance hat, irgendwem Korruption oder irgendwas vorzuwerfen, dann überschlagen sich alle und dann spielen Fakten auch nur noch eine geringe Rolle.
Ich denke, was ein viel größeres Problem war und was ich persönlich Edith Cresson übel genommen habe, war, dass sie möglicherweise aus einer gewissen französischen Tradition heraus das Europäische Parlament nicht für satisfaktionsfähig gehalten hat und nicht gemeint hat, dass sie dem Europäischen Parlament gegenüber offen gegenübertreten muss, und dass sie auch rechenschaftspflichtig ist gegenüber dem ...
Burchardt: Sie galt ja damals, könnte man vielleicht auch sagen, als die starke Frau in der Kommission. Sie war ja wohl auch schwer genießbar und war erst Agrar- und hinterher Bildungskommissarin und vor diesem Hintergrund war es wohl schwierig.
Wulf-Mathies: Ja, ob die so stark war, weiß ich nicht, aber die Franzosen waren ja typisch wie ein Mann beziehungsweise eine Frau, selbst mit einer konservativen Regierung, die dann eine nationale Katastrophe daraus machen wollten, wenn also jetzt ihre Kommissarin zurückgezogen wird. Aber ich denke, was man gelernt hat daraus, ist in der Tat: Wenn es Ärger gibt, der berechtigt ist, und der war berechtigt gegebenenfalls bei dieser Zahnarztgeschichte, aber viel berechtigter aus meiner Sicht im Umgang mit dem Parlament und der Bereitschaft, das Parlament als, wenn man so will, Volkssouverän anzuerkennen und ...
Burchardt: Da sind wir auch heute eigentlich noch nicht weiter. Also, es ist ja nach wie vor noch ein Demokratiedefizit unterwegs in Europa.
Wulf-Mathies: Ja, aber es hat sich doch enorm verändert. Und ich beobachte immer, wenn jetzt auch gerade die bei uns in Talkshows so beliebten älteren Herren sich zu Europa äußern, dass sie nicht wahrgenommen haben, dass das Europäische Parlament inzwischen sehr weit gleichberechtigt ist, dass es ...
Burchardt: Ja, beim Haushaltsrecht.
Wulf-Mathies: ... Haushaltsrecht hat, jetzt haben die Parlamentarier gesagt, nein danke, wir diskutieren so nicht, auch in personellen Fragen und auch, wenn sie Herrn Mersch nicht wirklich verhindern hätten können, sie haben zumindest im Kreis der Mitgliedsstaaten eine neue Diskussion auch durch ihre Kritik aufgemacht, weil sie der Meinung waren, es sollte eine Frau in diesem Bereich sein. Und die Tatsache, dass übrigens der deutsche Präsident des Europäischen Parlaments jetzt durchgesetzt hat, dass er bei den europäischen Reden, nicht nur bei der Pressekonferenz und beim Shakehands dabei ist, sondern dort auch Stellung nehmen kann, das ist etwas Neues! Und das sind wir nur in Deutschland immer nicht bereit, wahrzunehmen.
Und ich denke, dass man immer noch über das eine oder andere reden kann, zum Beispiel wie viel eine Stimme wert ist, wenn Sie die kleinen und die großen Mitgliedsstaaten sehen. Trotzdem, die deutschen Parlamentarier sind jetzt die größte Gruppe im Europäischen Parlament – 80 Millionen Bevölkerung, das ist auch okay – und das Europäische Parlament hat sich zunehmend emanzipiert. Und wir wären gut beraten, wenn wir auch bereit wären, stärker zu gewichten, was wir einmal mit dem nationalen Parlament tun dürfen.
Ich finde es ja schon schlimm genug, dass das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag sagen musste, ihr habt da Rechte, die hatten sie vorher auch, man muss sie nur auch wahrnehmen, wenn man sie hat –, und dass man nicht ein stärkeres Zusammenspiel zwischen nationalen Parlamenten und Europaparlament nutzt, um die Räte stärker unter Druck zu setzen und zu verhindern, dass eben genau das passiert, was jetzt scherzhaft die Rätepolitik genannt wird: nämlich, dass im Grunde ein nicht legitimiertes Gremium, auch durch die europäischen Verträge nicht dafür wirklich legitimiertes Gremium, nämlich der Europäische Rat, die gesamte Politik entscheidet und dort Geschäfte unterm Ladentisch eine viel größere Rolle spielen, weil die Europäische Kommission ausgeschaltet wird und das Parlament ausgeschaltet wird.
Monika Wulf-Mathies, die Quotenfrage und die Zukunft Europas
Burchardt: Wir nähern uns langsam dem Ende. Ich würde ganz gern noch zwei Fragen loswerden an Sie, zum einen auch aus Ihrer persönlichen Betroffenheit oder im Engagement auch für mehr Rechte für Frauen. Frau Reding hat jetzt gerade vorgeschlagen, dass in ganz Europa – und sie ist da zurückgekommen auf die Römischen Verträge –, dass mindestens 40 Prozent ins Management der nationalen Konzerne und Unternehmungen kommen sollten. Da schreit man jetzt in Deutschland, aber nicht nur hier, auch schon wieder Aua, nach dem Motto, was geht das die Kommission an!
Wulf-Mathies: Also, gerade was Gleichstellung anlangt und Chancengleichheit für Frauen, hat Europa große Fortschritte gebracht. In unserem Arbeitsrecht hätten wir viele Dinge ohne Europa nie durchsetzen können. Und ich sage mal, wir sollten uns vielleicht weniger darüber streiten, ob Europa dazu was zu sagen hat oder nicht, und mehr selber uns drum kümmern, dass wir eine Quote durchsetzen. Und zwar nicht nur im Aufsichtsrat, sondern vor allen Dingen im Vorstand. Egal, bei welchen ...
Burchardt: Waren Sie selber damals Quotenfrau bei der Gewerkschaft?
Wulf-Mathies: Ich war sicher nicht Quotenfrau, aber ich habe die Quote in der ÖTV eingeführt. Und ich bin auch für die Quote. Und es ist überhaupt nicht entwürdigend, wenn eine Frau wegen der Quote dann einen Job erhält, weil sie nämlich nur den bekommt, der ihr ohnehin zugestanden hätte dank ihrer Qualifikation. Und solange nicht mittelmäßige Frauen genau so wie mittelmäßige Männer die gleichen Chancen haben, an die Spitze zu kommen, sind wir immer noch weit entfernt. Also, von daher: Quote ist meines Erachtens einfach notwendig, wenn wir nicht bis ins nächste Jahrhundert warten wollen, bis dann vielleicht sich einige Dinge herausgemäntelt haben.
Burchardt: Zweite und letzte Frage, rekurriert noch einmal auf das, was ich vorhin sagte: Sie waren 1999/2000 Berater von Gerhard Schröder, 2003 hat er die Agenda 2010 auf den Weg gebracht. Haben Sie in der Vorbereitung dieser Entwicklung mitgewirkt? Und wie beurteilen Sie heute die Auswirkungen?
Wulf-Mathies: Ich habe mich damals um das Problem Landesbanken und Sparkassen gekümmert, weil es dort zwischen Bund und Ländern auch unterschiedliche Auffassungen darüber gab, wie man in dieser Frage verfahren sollte. Und ich habe mich um die deutsche Innenpolitik in der Zeit zwar als Privatperson, aber nicht als Beraterin gekümmert.
Burchardt: Jetzt noch die allerletzte letzte Frage: Ist Europa noch zu retten?
Wulf-Mathies: Natürlich, wenn wir es wollen! Und ich sage mal: Wir müssen es! Denn schauen Sie sich mal an: Wir sind eine Rechtsgemeinschaft, eine Wertegemeinschaft, wir sind ein Hort der Demokratie. Und wir haben gemeinsame Vorstellungen vom europäischen Sozialmodell. Und wenn wir uns in dieser Welt durchsetzen wollen gegen den angelsächsischen Kapitalismus und gegen das, was an Raubtierkapitalismus inzwischen in China geschieht, dann, denke ich, sollten wir wirklich alles daran setzen, dieses Europa zu einem Musterbild zu machen, das auch in Zukunft seine Attraktivität auf andere nicht verfehlt.
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