Stefan Heinlein: Vier Wochen Arrest - so das Urteil Anfang der Woche im Prozess gegen einen 19-jährigen Syrer. Anfang April hatte er mitten in Berlin einen Kippa tragenden Israeli mit einem Gürtel attackiert und beschimpft. Der Vorfall ging breit durchs Netz und wurde viel diskutiert in der Öffentlichkeit. Auslöser einer Debatte über neuerlichen Antisemitismus in unserer Gesellschaft.
Doch der Alltagsrassismus, offene und latente Fremdenfeindlichkeit betrifft nicht nur Juden. Auch Muslime werden jeden Tag diskriminiert und ausgegrenzt, privat, beruflich, in Behörden, am Arbeitsplatz oder auf der Straße. Doch das Thema wird bislang in Deutschland eher stiefmütterlich behandelt. Eine neu gegründete Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit will das ändern, in dieser Woche vorgestellt in Berlin.
Am Telefon begrüße ich nun Nina Mühe. Sie ist Projektverantwortliche von Claim, der Allianz gegen Islam- und Muslimfeinlichkeit. Guten Morgen, Frau Mühe.
Nina Mühe: Schönen guten Morgen, Herr Heinlein.
"Der 1. Juli 2009 war eine schlimme Zäsur"
Heinlein: "Offene Islamfeindlichkeit - Mainstream in Deutschland, gesellschaftlich toleriert", sagt Ihre Kollegin Tragen Sie da nicht ein bisschen dick auf, Frau Mühe?
Mühe: Ich denke, nicht. Es gibt ja immer wieder Studien, die Bertelsmann-Stiftung 2015, die Mitte-Studie 2016, die belegen, dass sich tatsächlich nicht nur etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung so äußern, dass sie sich bedroht fühlen oder sehr bedroht fühlen vom Islam, dass sie sich wie Fremde im eigenen Land fühlen, sondern es ist ja auch so, dass wir tatsächlich auch schlimme Vorfälle schon haben.
Es wurde gerade der 1. Juli, der Tag gegen antimuslimischen Rassismus genannt. Der erinnert ja an den Mord an der Apothekerin Marwa El Sherbini in Dresden 2009, die mit ihrem ungeborenen Kind im Gerichtssaal erstochen wurde - von einem Mann, gegen den Sie Anzeige erstattet hatte und gegen den auch schon ein Urteil gesprochen worden war. Das war eine schlimme Zäsur zu zeigen - auch europaweit wurde das wahrgenommen -, wie schlimm Islamfeindlichkeit sich äußern kann.
"Wenn über Muslime gesprochen wird, dann als Sicherheitsproblem"
Heinlein: Welche Erklärung haben Sie denn für die Zunahme der Islamfeindlichkeit in unserer Gesellschaft, wenn das denn ein Trend ist?
Mühe: Es gibt viele verschiedene Gründe. Ich denke, ein wichtiger Grund ist: Es gibt auch Studien, die besagen, dass 60 bis 80 Prozent der öffentlich-rechtlichen Beiträge beispielsweise, die sich medial auf sehr negative Themen in Bezug auf Islam und Muslime beziehen. Das heißt: Immer wenn von Muslimen berichtet wird, dann ist es im größten Teil der Fälle negativ. Und es ist nicht so, dass natürlich diese negativen Dinge nicht auch stattfinden, aber es ist natürlich ein ganz verzerrter Ausschnitt. Und Menschen, die persönlich keine Muslime kennen, die lassen sich dann ganz stark davon beeinflussen.
Heinlein: Welche Rolle spielen denn die islamistischen Terroranschläge der letzten Wochen und Monate? Hat das die Islamfeindlichkeit grundsätzlich in Deutschland zusätzlich gesteigert?
Mühe: Ja, mit Sicherheit spielt das auch eine Rolle, und das ist natürlich, wie ich schon sagte, das, was bei den Menschen fast schon allein im Kopf bleibt, weil es gibt natürlich diese schlimmen Taten, aber es wird quasi fast nur noch darüber und fast nur noch über einen Sicherheitszusammenhang berichtet, wenn über Muslime gesprochen wird. Muslime ist gleich ein Sicherheitsproblem. Das ist das, was in den Köpfen der Menschen entsteht.
Heinlein: jeder Moslem ein Terrorist - das ist vielleicht in vielen Köpfen. Haben Sie dennoch Verständnis für Menschen, die den Islam insgesamt, angesichts dieser schrecklichen Terrorangriffe, dieser Anschläge in europäischen Städten, als fremd, als bedrohlich und auch als aggressiv empfinden?
Mühe: Ja, sicherlich ist das verständlich. Aber ich glaube, es liegt wirklich viel daran, wie darüber berichtet wird, weil diese schlimmen extremistischen Taten sind natürlich ein winziger Prozentsatz der Muslime, die es in Deutschland, die es auch weltweit gibt. Die Mehrheit der Muslime sprechen sich natürlich gegen so was aus, sind friedliebend, bringen sich in die Gesellschaft ein, und das ist nicht zu sehen. Wenn man selber keine Muslime kennt, dann ist es das, was man als die Norm wahrnimmt und dann generell den Islam und ganz schnell auch die Muslime damit ablehnt, und das halte ich dann für sehr gefährlich.
"Es gibt auch immer wieder Politikerinnen, die Hetze betreiben"
Heinlein: Sie geben uns, den Medien, den Berichterstattern jetzt ein wenig die Schuld für diese Muslimfeindlichkeit. Wieviel Verantwortung tragen denn die Muslime in Deutschland selbst für die Ablehnung durch Teile der Gesellschaft?
Mühe: Ich will nicht nur den Medien die Schuld geben; ich denke, da spielen Medien und Politik, beide eine große Rolle. Es gibt auch immer wieder Politikerinnen -und nicht nur in der AfD -, die dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung bringen, immer wieder auch tatsächlich entweder Muslime in einem sehr negativen Zusammenhang darstellen, oder tatsächlich wirklich Hetze betreiben.
Muslime selber würde ich einfach insofern in die Pflicht nehmen, dass sie sich noch stärker einbringen in die Gesellschaft, dass sie einfach sichtbarer werden, dass sie dadurch einfach auch mehr Normalität schaffen und vielleicht auf positive Weise unsere Gesellschaft verändern können.
"Das sind ganz oft auch Scheindebatten"
Heinlein: Sich einbringen in die Gesellschaft, Frau Mühe, das ist vielleicht ein wichtiges Stichwort. Mädchen, die nicht am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen, Männer, die Frauen nicht die Hand geben - fehlt es auch bei manchen Muslimen an der Bereitschaft, sich zu integrieren, die Normen und Werte unserer westlichen Gesellschaft, unserer deutschen Gesellschaft zu übernehmen? Wird dadurch auch die Islamfeindlichkeit bei vielen Menschen erst geweckt?
Mühe: Ich weiß nicht. Ich glaube, das sind ganz oft auch Scheindebatten, ehrlich gesagt. Sie spielen jetzt ein bisschen vielleicht auf diese Debatte an, die gerade wieder sichtbar war mit diesem Burkini, dass ein Schulleiter, damit Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen, so einen Ganzkörperanzug gekauft hat, was weiblich kritisiert wurde. Ich denke, dass wir nicht zu schnell einfach davon ausgehen sollten, wenn es unterschiedliche Lebensweisen gibt, dass dann generell die Werte unseres Landes abgelehnt werden. Ich fand das zum Beispiel eine sehr pragmatische Lösung. Der Schulleiter hat gesagt, die Mädchen möchten sich nicht ausziehen, sie nehmen dann irgendwie nicht teil am Schwimmunterricht, so kann ich das Problem lösen. Und ehrlich gesagt: Was interessiert es uns, mit was für einer Badebekleidung Mädchen ins Schwimmbad gehen.
Heinlein: Sie meinen also, die deutsche Gesellschaft, die bundesdeutsche Gesellschaft muss die Normen und Werte der islamischen Religion übernehmen und nicht umgekehrt?
Mühe: Nein, natürlich nicht. Aber wir haben ja Religionsfreiheit in unserem Land und jeder Mensch kann individuell wie auch als Gruppe seine eigenen Werte, seine eigenen religiösen Werte leben, seine religiöse Lebensweise leben. Das ist ein ganz wichtiger Bestandteil unseres Grundgesetzes und unserer Verfassung. Es geht ja um leben und leben lassen und nicht darum, irgendwas zu übernehmen.
Heinlein: Frau Mühe, haben Muslime in Deutschland, in deutschen Parteien, in Medien, in der Öffentlichkeit nur selten eine Lobby im deutschen Diskurs, in Politik und Gesellschaft?
Mühe: Das kann man schon sagen. Ich denke, vielleicht um die Medien auch wieder ein positiver reinzunehmen, dass auf jeden Fall seit der Sarrazin-Debatte, die wirklich sehr extrem war, viele Leute auch ein bisschen aufgewacht sind und es immer mehr positive Berichte gibt und immer mehr Politikerinnen und Politiker, die sich auch für Muslime einsetzen. Aber im Allgemeinen könnte es im Vergleich zu der Lage, die wir haben, zu der extremen Stimmung, die sich so stark wandelt in den letzten Jahren, gegen Musliminnen und Muslime, glaube ich, auf jeden Fall noch mehr an Unterstützung sein.
"Islamfeindlichkeit braucht mehr politische Aufmerksamkeit"
Heinlein: Frau Mühe, nach den antisemitischen Vorfällen in Berlin gab es Kippa-Tage in vielen deutschen Städten. Inzwischen gibt es auch einen Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung. Braucht es vielleicht auch einen Beauftragten gegen Islamfeindlichkeit und wünschen Sie sich Kopftuch-Tage als Zeichen der Solidarität?
Mühe: Es gab schon mal tatsächlich den Versuch von einer Gruppe von Menschen, also keine Muslime, die zu einem Kopftuch-Tag in Deutschland aufgerufen haben, quasi aus Solidarität mit Muslimen ein Kopftuch zu tragen. Ein paar Leute sind darauf eingegangen, viele gab es nicht. Ich glaube, was auch immer man macht: Jede Form von Solidarisierung wird einfach positiv aufgenommen auf Seiten von Musliminnen und Muslimen.
Die Idee eines Beauftragten zum Thema Islamfeindlichkeit finde ich tatsächlich nicht schlecht. Ich finde es sehr, sehr begrüßenswert, dass es diesen Antisemitismus-Beauftragten nun endlich gibt. Aber ich denke, wir haben auch ein großes Problem mit Rassismus, mit Islamfeindlichkeit, und auch diese beiden Themen, die ja oft auch nicht so richtig zu trennen sind, brauchen auf jeden Fall mehr politische Aufmerksamkeit.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Nina Mühe, Projektverantwortliche von CLAIM, einer neu gegründeten Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit. Frau Mühe, herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Mühe: Vielen Dank! - Auf Wiederhören!
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