September 2013. Es ist ein Fest für die Boulevard-Presse in Ungarn. Ráhel, die älteste Tochter des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, heiratet István Tiborcz. Er ist Geschäftsführer einer Tochterfirma von Közgép. Das ist ein Mischkonzern, der von Oligarchen geführt wird, die der ungarischen Regierungspartei Fidesz nahe stehen. Közgép hat seinen Umsatz seit Machtantritt des Brautvaters Viktor Orbán vervielfacht - durch öffentliche Aufträge. Die Traumhochzeit ist auch eine zwischen Politik und Geld.
Ein ungarisches Nachrichtenmagazin verspottet die Eheschließung als "Royal Wedding". Aktivisten der linken Opposition malen entsprechende Graffiti auf den Asphalt. Szelim Simándi ist einer der Aktivisten, per Telefon erklärt er einem Fernsehsender die Beweggründe.
"Wir wollten dagegen protestieren, dass der Regierungschef für eine private Hochzeit öffentliches Geld ausgibt. Er betrachtet das Land als sein persönliches Reich, deshalb haben wir die Aufschrift 'Royal Wedding' in den frisch gegossenen Asphalt geritzt."
Ein ungarisches Nachrichtenmagazin verspottet die Eheschließung als "Royal Wedding". Aktivisten der linken Opposition malen entsprechende Graffiti auf den Asphalt. Szelim Simándi ist einer der Aktivisten, per Telefon erklärt er einem Fernsehsender die Beweggründe.
"Wir wollten dagegen protestieren, dass der Regierungschef für eine private Hochzeit öffentliches Geld ausgibt. Er betrachtet das Land als sein persönliches Reich, deshalb haben wir die Aufschrift 'Royal Wedding' in den frisch gegossenen Asphalt geritzt."
Die neue Elite Ungarns
Kritische Internetblogs in Ungarn spotten: Wohin die 24-jährige Rahél den Fuß setzt, wird Ungarn schöner. Denn kurz vor der Traumhochzeit wurden Fassaden verschönert, Blumenrabatte erneuert, Schlaglöcher asphaltiert: vor der Kirche – und in der Nähe des Tiborcz-Anwesens. Staatliche Bautrupps führten die Arbeiten aus, bestätigten die Behörden.
Die Braut trägt ein feines, weißes Hochzeitskleid, schulterfrei, aber züchtig. Am Tag der Hochzeit selbst wollen viele Schaulustige mit eigenen Augen die prominente Braut sehen. Auch dieser Mann ist zum Promi-Gucken vor die kleine Franziskaner-Kirche am Margaretengürtel in Budapest gekommen.
"Ich war neugierig, wie die Tochter des Regierungschefs aussieht und auch ihr Mann. Naja, wie sie halt aussehen. Ich habe nur die Köpfe gesehen, als sie sich beim Ja-Wort die Ringe ansteckten."
Unzählige Fotografen drücken auf den Auslöser, als die frisch Vermählten die Kirche verlassen.
Im silbernen Jaguar fährt die Hochzeitsgesellschaft weiter. Ziel ist das Anwesen der Familie des Bräutigams in Tükröspuszta, 50 Kilometer südwestlich von Budapest. Serviert wird den mehr als 120 Gästen Rehgulasch, Hühnersuppe und Schnaps. Die Hochzeitsgesellschaft ist die neue Elite Ungarns. Und seit der Brautvater eine Flat Tax, eine Einheitssteuer von 16 Prozent eingeführt hat, hat sie ihre Einkommen fast verdoppeln können. Ein Grund mehr also zum Feiern für sie.
h4> Die andere Seite Budapests Budapest, zehnter Bezirk, das Arbeiterviertel Köbánya. Aufgeplatzter Asphalt. Eine Tankstelle. Plattenbauten. Viele Autos. Und ein kleines Waldstück: Terebesi Erdö nennen es die Budapester. Hier leben etwa 50 Obdachlose. Auch Andrea. Die kleine Frau mit dem Gesicht eines uralten Gnoms stammt aus dem Norden Ungarns. Sie ist nicht einmal 50 Jahre alt. Andrea zeigt auf ein verfallenes Haus am Waldrand.
"In diesem Gebäude wohnen sehr viele Menschen. Auch Paare, da weiter oben auch."
Sie deutet auf zwei weitere Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
"Da drüben ist das Holzhaus, wo ich mir das Wasser hole. Einmal am Tag geben sie uns ein Frühstück. Wer keine Tuberkulose hat und seine Papiere vorweisen kann, kriegt an jedem Wochentag ein kleines Essen. Hier kann man sich auch waschen, auch die Wäsche. Im anderen Gebäude war mal eine Autowaschanlage. Dort haben auch viele gewohnt, einige tun es noch immer."
Andrea führt in den Wald hinein. Überall liegt Müll herum: Plastikflaschen und Papierfetzen. Hinter dem Wald rattert ein Zug in Richtung Norden vorbei. Die Züge fahren auch nach Gödöllö – dort hatte die Kaiserin Sissi ein Lustschloss. Andrea wird von ihren drei Hunden begrüßt.
Auch um Andreas Holzhütte herum liegt Müll. Nicht ihrer, betont sie. Andrea legt Wert auf Ordnung - und etwas Heimeligkeit. Den kleinen Holzverschlag, in dem sie mit ihrem Partner Zoltán lebt, hat sie geschmückt. Kleine Deckchen, ein selbstgebauter Ofen, sogar ein Bücherregal gibt es. Ihr Freund Zoltán lese gerne, sagt sie.
"Wir haben uns im Obdachlosenasyl kennengelernt. Und wir haben entschieden, dass wir dort nicht bleiben wollen und auf die Straße gehen. Wir haben nach etwas gesucht, wo man kochen kann, spülen und waschen. Ich trage lieber Wasser durch die Gegend und wasche hier, als irgendwo mit Hunderten auf die Waschmaschine zu warten. Wir haben hier unser kleines Zuhause, und hier leben wir wie eine kleine Familie."
Aus einem Kanister schüttet sie Wasser in einen Teekessel, macht mit ein paar Ästen Feuer. Die Feuerstelle ist neben einem Plumpsklo, das mit einer Decke verhangen ist. An der Hütte ist eine Art Anrichte aus Ästen gebaut, ihre Freiluft-Küche. Eine richtige Familie hat Andrea auch, erwachsene Kinder, aber sie hat keinen Kontakt. Sie war verheiratet, nähte zu Hause. Ein kleines Zubrot. Ihr Mann verdiente sein Geld als Briefträger, nebenbei reparierte er Fernseher. Vor 18 Jahren starb er.
"Als mein Mann starb, mit 42 Jahren, konnte ich die Kreditraten nicht mehr zahlen und musste die Wohnung verkaufen. Und so wurde ich obdachlos."
Mit ihrem jetzigen Freund Zoltán lebt sie jetzt schon seit sieben Jahren zusammen. Er habe einen kleinen Job beim Roten Kreuz, erzählt sie. Auch Andrea springt dort gelegentlich ein.
"Gebäudereinigung. Bürohäuser ausfegen, Müll runterbringen, nach den Malern sauber machen. Alles, damit im Gebäude Ordnung ist."
An solche Jobs zu kommen ist nicht einfach, weiß sie zu berichten. Denn auch auf dem Markt für gemeinnützige Arbeiten sind die Reviere abgesteckt. Selbst ganz unten gebe es Vetternwirtschaft, sagt sie.
"Es war Winter, es schneite, es war kalt, wir gingen zum Schneeschippen. Da kam der Chef raus. Wir waren 60. Und das geht dann nicht der Reihe nach – nein, Bekannte: Joska, Pista, Gyuri – kommt rein. Also nicht mal zum Straßenfegen nehmen sie einen."
Das Leben draußen hat in Andreas Gesicht tiefe Furchen hinterlassen. Das Leben im Wald sei hart, sagt sie, während sie eine Alutasse mit einem schmutzigen Lappen spült.
"Ich gehe zum Beispielen Dosen sammeln. Wir haben ausgerechnet: 100 Dosen – das ist ungefähr ein Kilo. Dafür gibt es umgerechnet etwa 45 Cent. Dann können wir uns ausrechnen, wie viele Dosen, wie viele Flaschen haben wir? Wie viel kriegen wir zusammen, damit wir über den Tag kommen?"
Die Braut trägt ein feines, weißes Hochzeitskleid, schulterfrei, aber züchtig. Am Tag der Hochzeit selbst wollen viele Schaulustige mit eigenen Augen die prominente Braut sehen. Auch dieser Mann ist zum Promi-Gucken vor die kleine Franziskaner-Kirche am Margaretengürtel in Budapest gekommen.
"Ich war neugierig, wie die Tochter des Regierungschefs aussieht und auch ihr Mann. Naja, wie sie halt aussehen. Ich habe nur die Köpfe gesehen, als sie sich beim Ja-Wort die Ringe ansteckten."
Unzählige Fotografen drücken auf den Auslöser, als die frisch Vermählten die Kirche verlassen.
Im silbernen Jaguar fährt die Hochzeitsgesellschaft weiter. Ziel ist das Anwesen der Familie des Bräutigams in Tükröspuszta, 50 Kilometer südwestlich von Budapest. Serviert wird den mehr als 120 Gästen Rehgulasch, Hühnersuppe und Schnaps. Die Hochzeitsgesellschaft ist die neue Elite Ungarns. Und seit der Brautvater eine Flat Tax, eine Einheitssteuer von 16 Prozent eingeführt hat, hat sie ihre Einkommen fast verdoppeln können. Ein Grund mehr also zum Feiern für sie.
h4> Die andere Seite Budapests Budapest, zehnter Bezirk, das Arbeiterviertel Köbánya. Aufgeplatzter Asphalt. Eine Tankstelle. Plattenbauten. Viele Autos. Und ein kleines Waldstück: Terebesi Erdö nennen es die Budapester. Hier leben etwa 50 Obdachlose. Auch Andrea. Die kleine Frau mit dem Gesicht eines uralten Gnoms stammt aus dem Norden Ungarns. Sie ist nicht einmal 50 Jahre alt. Andrea zeigt auf ein verfallenes Haus am Waldrand.
"In diesem Gebäude wohnen sehr viele Menschen. Auch Paare, da weiter oben auch."
Sie deutet auf zwei weitere Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
"Da drüben ist das Holzhaus, wo ich mir das Wasser hole. Einmal am Tag geben sie uns ein Frühstück. Wer keine Tuberkulose hat und seine Papiere vorweisen kann, kriegt an jedem Wochentag ein kleines Essen. Hier kann man sich auch waschen, auch die Wäsche. Im anderen Gebäude war mal eine Autowaschanlage. Dort haben auch viele gewohnt, einige tun es noch immer."
Andrea führt in den Wald hinein. Überall liegt Müll herum: Plastikflaschen und Papierfetzen. Hinter dem Wald rattert ein Zug in Richtung Norden vorbei. Die Züge fahren auch nach Gödöllö – dort hatte die Kaiserin Sissi ein Lustschloss. Andrea wird von ihren drei Hunden begrüßt.
Auch um Andreas Holzhütte herum liegt Müll. Nicht ihrer, betont sie. Andrea legt Wert auf Ordnung - und etwas Heimeligkeit. Den kleinen Holzverschlag, in dem sie mit ihrem Partner Zoltán lebt, hat sie geschmückt. Kleine Deckchen, ein selbstgebauter Ofen, sogar ein Bücherregal gibt es. Ihr Freund Zoltán lese gerne, sagt sie.
"Wir haben uns im Obdachlosenasyl kennengelernt. Und wir haben entschieden, dass wir dort nicht bleiben wollen und auf die Straße gehen. Wir haben nach etwas gesucht, wo man kochen kann, spülen und waschen. Ich trage lieber Wasser durch die Gegend und wasche hier, als irgendwo mit Hunderten auf die Waschmaschine zu warten. Wir haben hier unser kleines Zuhause, und hier leben wir wie eine kleine Familie."
Aus einem Kanister schüttet sie Wasser in einen Teekessel, macht mit ein paar Ästen Feuer. Die Feuerstelle ist neben einem Plumpsklo, das mit einer Decke verhangen ist. An der Hütte ist eine Art Anrichte aus Ästen gebaut, ihre Freiluft-Küche. Eine richtige Familie hat Andrea auch, erwachsene Kinder, aber sie hat keinen Kontakt. Sie war verheiratet, nähte zu Hause. Ein kleines Zubrot. Ihr Mann verdiente sein Geld als Briefträger, nebenbei reparierte er Fernseher. Vor 18 Jahren starb er.
"Als mein Mann starb, mit 42 Jahren, konnte ich die Kreditraten nicht mehr zahlen und musste die Wohnung verkaufen. Und so wurde ich obdachlos."
Mit ihrem jetzigen Freund Zoltán lebt sie jetzt schon seit sieben Jahren zusammen. Er habe einen kleinen Job beim Roten Kreuz, erzählt sie. Auch Andrea springt dort gelegentlich ein.
"Gebäudereinigung. Bürohäuser ausfegen, Müll runterbringen, nach den Malern sauber machen. Alles, damit im Gebäude Ordnung ist."
An solche Jobs zu kommen ist nicht einfach, weiß sie zu berichten. Denn auch auf dem Markt für gemeinnützige Arbeiten sind die Reviere abgesteckt. Selbst ganz unten gebe es Vetternwirtschaft, sagt sie.
"Es war Winter, es schneite, es war kalt, wir gingen zum Schneeschippen. Da kam der Chef raus. Wir waren 60. Und das geht dann nicht der Reihe nach – nein, Bekannte: Joska, Pista, Gyuri – kommt rein. Also nicht mal zum Straßenfegen nehmen sie einen."
Das Leben draußen hat in Andreas Gesicht tiefe Furchen hinterlassen. Das Leben im Wald sei hart, sagt sie, während sie eine Alutasse mit einem schmutzigen Lappen spült.
"Ich gehe zum Beispielen Dosen sammeln. Wir haben ausgerechnet: 100 Dosen – das ist ungefähr ein Kilo. Dafür gibt es umgerechnet etwa 45 Cent. Dann können wir uns ausrechnen, wie viele Dosen, wie viele Flaschen haben wir? Wie viel kriegen wir zusammen, damit wir über den Tag kommen?"
Die soziale Not in Ungarn ist groß
So wie Andrea ergeht es vielen – und es werden immer mehr seit der politischen Wende 1989. Fast jeder zweite Ungar lebt bereits unterhalb des Existenzminimums. Der sozialistische Abgeordnete Lajos Korózs rechnet vor.
"4,3 Millionen Ungarn leben unter dem Existenzminimum. Bei den Kindern ist es mehr als die Hälfte. Das Existenzminimum für eine vierköpfige Familie beträgt etwa 830 Euro im Monat, bei einem Ein-Personen-Haushalt sind es 283 Euro, einem Rentner-Haushalt 258 Euro. 2012 lebten 41 Prozent der Bevölkerung unter dem Existenzminimum."
Regierungschef Viktor Orbán hat eine Million Jobs versprochen. Entstanden sind bisher vor allem schlechtbezahlte gemeinnützige Jobs. Gut 300.000 Ungarn arbeiten heute für einen Lohn von nicht einmal 200 Euro. Kein Wunder, dass die Obdachlose Andrea beim Eintauschen von Pfandflaschen und Dosen immer öfter auch Menschen trifft, die nicht auf der Straße leben.
"Gestern zum Beispiel habe ich Flaschen weggebracht. Und da war eine Dame, die hat das genauso gemacht. Dafür hat sie dann umgerechnet drei Euro bekommen. Also das macht nicht nur unsere Schicht, sondern das machen auch andere. Genauso beim Altwarenhändler. Da hat jemand genau wie wir 20 Bierdosen gesammelt – das wird dann nicht weggeworfen, sondern die stellen sich genauso an wie wir."
Die Regierung ist sich dessen durchaus bewusst. Zoltán Balog ist Minister für sogenannte Humanressourcen. Der calvinistische Geistliche ist das soziale Gewissen der Regierung Orbán. Als Superminister ist Balog auch für das Soziale und die etwa 600.000 Roma in Ungarn zuständig. Armut fällt in sein Ressort. Seine Diagnose:
"Die untere Mittelklasse der Nicht-Roma-Ungarn ist fast auf das Niveau der Roma herabgerutscht. Ein Durchschnittsungar verdient heute 750 Euro. Die Durchschnittsrente liegt bei 250 Euro. Und wir sind inmitten von Europa, und die Preise sind ähnlich wie in Deutschland oder Österreich. Was soll ich diesen Leuten sagen, die nach 20 Jahren fragen: Wofür habe ich geschuftet?"
Daran knüpft Ministerpräsident Viktor Orbán an. Er verwendet in seinen Reden eine stark antikapitalistische Rhetorik: Gegen internationale Konzerne, gegen die Finanzmärkte, gegen die EU. Das falle auf fruchtbaren Boden, meint der Journalist Attila Mong.
"Orbán redet nicht ins Nichts. Denn in Ungarn – und das geht zurück bis zur Wende – gab es das Versprechen: Ungarn wird schnell der EU beitreten und so reich wie Österreich sein. Alle Daten zeigen: Im Verlauf der 90er-Jahre haben die Ungarn sämtliche Illusionen verloren. Die Ungarn sind enttäuscht – vom Kapitalismus und von der Demokratie, weil die Versprechen nicht eingehalten wurden.
"4,3 Millionen Ungarn leben unter dem Existenzminimum. Bei den Kindern ist es mehr als die Hälfte. Das Existenzminimum für eine vierköpfige Familie beträgt etwa 830 Euro im Monat, bei einem Ein-Personen-Haushalt sind es 283 Euro, einem Rentner-Haushalt 258 Euro. 2012 lebten 41 Prozent der Bevölkerung unter dem Existenzminimum."
Regierungschef Viktor Orbán hat eine Million Jobs versprochen. Entstanden sind bisher vor allem schlechtbezahlte gemeinnützige Jobs. Gut 300.000 Ungarn arbeiten heute für einen Lohn von nicht einmal 200 Euro. Kein Wunder, dass die Obdachlose Andrea beim Eintauschen von Pfandflaschen und Dosen immer öfter auch Menschen trifft, die nicht auf der Straße leben.
"Gestern zum Beispiel habe ich Flaschen weggebracht. Und da war eine Dame, die hat das genauso gemacht. Dafür hat sie dann umgerechnet drei Euro bekommen. Also das macht nicht nur unsere Schicht, sondern das machen auch andere. Genauso beim Altwarenhändler. Da hat jemand genau wie wir 20 Bierdosen gesammelt – das wird dann nicht weggeworfen, sondern die stellen sich genauso an wie wir."
Die Regierung ist sich dessen durchaus bewusst. Zoltán Balog ist Minister für sogenannte Humanressourcen. Der calvinistische Geistliche ist das soziale Gewissen der Regierung Orbán. Als Superminister ist Balog auch für das Soziale und die etwa 600.000 Roma in Ungarn zuständig. Armut fällt in sein Ressort. Seine Diagnose:
"Die untere Mittelklasse der Nicht-Roma-Ungarn ist fast auf das Niveau der Roma herabgerutscht. Ein Durchschnittsungar verdient heute 750 Euro. Die Durchschnittsrente liegt bei 250 Euro. Und wir sind inmitten von Europa, und die Preise sind ähnlich wie in Deutschland oder Österreich. Was soll ich diesen Leuten sagen, die nach 20 Jahren fragen: Wofür habe ich geschuftet?"
Daran knüpft Ministerpräsident Viktor Orbán an. Er verwendet in seinen Reden eine stark antikapitalistische Rhetorik: Gegen internationale Konzerne, gegen die Finanzmärkte, gegen die EU. Das falle auf fruchtbaren Boden, meint der Journalist Attila Mong.
"Orbán redet nicht ins Nichts. Denn in Ungarn – und das geht zurück bis zur Wende – gab es das Versprechen: Ungarn wird schnell der EU beitreten und so reich wie Österreich sein. Alle Daten zeigen: Im Verlauf der 90er-Jahre haben die Ungarn sämtliche Illusionen verloren. Die Ungarn sind enttäuscht – vom Kapitalismus und von der Demokratie, weil die Versprechen nicht eingehalten wurden.
Die Lebenshaltungskosten sind hoch
Wer kann, sucht sein Glück im Ausland. Mehr als 300.000 Ungarn haben das Land in den vergangenen drei Jahren verlassen, obwohl die Regierung den Mindestlohn auf umgerechnet 350 bis 400 Euro erhöht hat und das Existenzminimum auf knapp 160 Euro. Doch das Leben in Ungarn ist teuer: An der Supermarktkasse werden 27 Prozent Mehrwertsteuer fällig, die höchste Quote in der EU. Auch Strom und Wasser sind teuer. Mit Blick auf die Wahlen im nächsten Jahr senkt die Regierung nun die Betriebskosten, um die gröbsten Härten zu mildern. Die Rechnung gehe auf, meint der politische Analyst György Odze.
"Orbán hat sich damit etwas ausgedacht, was noch keinem einfiel. Ich sehe auf meiner Strom- und Wasserrechnung, dass ich einen Monat umsonst bekomme. Bisher wurde immer erhöht, 20, 30 Prozent – jetzt sind es zehn Prozent weniger. Und es steht auf den Abrechnungen, wie viel man ohne Senkung zahlen müsste. Die Leute glauben: Jetzt passiert wenigstens etwas."
Die Betriebskosten-Abrechnungen sind Wahlwerbung für jeden Haushalt. Denn im Frühjahr 2014 möchte Viktor Orbán wieder gewählt werden. Doch wo ein kleiner Haushalt ein paar Euro spart, wird an anderer Stelle geklotzt: Hunderte Millionen Euro werden in den nächsten Jahren in Ungarn für Fußballstadien ausgegeben.
Anfang September 2013: Hunderte Obdachlose demonstrieren vor dem Parlament. Die ungarische Regierung hat beschlossen, dass Obdachlose von öffentlichen Plätzen verjagt werden können, insbesondere von wertvollen kulturellen Stätten wie dem Parlament und dem Burgberg. Wer mehrfach im Freien nächtigt, kann bestraft werden: Mit Geldstrafen, die in gemeinnütziger Arbeit abgegolten werden können. Oder – im Wiederholungsfall – mit Gefängnis. Dieser Obdachlose ist schon Opfer der Maßnahmen geworden.
"Sie haben das Gesetz ja im letzten Jahr schon einmal in Kraft gesetzt. Da sollte ich über 200 Euro zahlen. Das Verfassungsgericht hat die Zahlungsaufforderung gekippt. Begründung: Man muss die Obdachlosen leben lassen. Aber der Oberbürgermeister hat so lange Druck gemacht, bis sie das Gesetz erneut verabschiedet haben."
Die Regierung änderte mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament die Verfassung. Das Obdachlosengesetz – vorher verfassungswidrig - steht jetzt im Grundgesetz. Das Verfassungsgericht wurde von der Regierung kurzerhand entmachtet. Die Folgen spürt dieser Budapester Obdachlose.
"Ich habe zwei Würstchen und ein halbes Kilo Brot aus dem Mülleimer geholt: 30 Euro Geldstrafe."
Ein neuer Stil macht sich breit: Die Regierung setzt auf Zuckerbrot und Peitsche im Umgang mit den Obdachlosen. Gergely Gulyás, Abgeordneter der Regierungspartei Fidesz, zur Regierungslinie.
"Wir möchten, dass - entgegen der vorherigen Entscheidung des Verfassungsgerichtes - die Kommunen nicht nur die Pflicht zur Unterbringung der Obdachlosen haben, sondern dass der Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen verboten wird."
In der Parlamentsdebatte ging es emotional zu. Der sozialistische Abgeordnete Gergely Bárándy schimpfte auf führende Mitglieder der Regierungspartei.
"János Lázár sagt: Wer nichts hat, ist genau so viel wert. Aus einer solchen Mentalität heraus ist so ein Gesetzesvorschlag, den sie im Parlament vorgelegt haben, die logische Folge. Das werden wir garantiert nicht unterstützen. Einen Vorschlag, der die Obdachlosen als schmutzige, aus der Öffentlichkeit zu entfernende Menschen betrachtet. Schämen Sie sich!"
"Orbán hat sich damit etwas ausgedacht, was noch keinem einfiel. Ich sehe auf meiner Strom- und Wasserrechnung, dass ich einen Monat umsonst bekomme. Bisher wurde immer erhöht, 20, 30 Prozent – jetzt sind es zehn Prozent weniger. Und es steht auf den Abrechnungen, wie viel man ohne Senkung zahlen müsste. Die Leute glauben: Jetzt passiert wenigstens etwas."
Die Betriebskosten-Abrechnungen sind Wahlwerbung für jeden Haushalt. Denn im Frühjahr 2014 möchte Viktor Orbán wieder gewählt werden. Doch wo ein kleiner Haushalt ein paar Euro spart, wird an anderer Stelle geklotzt: Hunderte Millionen Euro werden in den nächsten Jahren in Ungarn für Fußballstadien ausgegeben.
Anfang September 2013: Hunderte Obdachlose demonstrieren vor dem Parlament. Die ungarische Regierung hat beschlossen, dass Obdachlose von öffentlichen Plätzen verjagt werden können, insbesondere von wertvollen kulturellen Stätten wie dem Parlament und dem Burgberg. Wer mehrfach im Freien nächtigt, kann bestraft werden: Mit Geldstrafen, die in gemeinnütziger Arbeit abgegolten werden können. Oder – im Wiederholungsfall – mit Gefängnis. Dieser Obdachlose ist schon Opfer der Maßnahmen geworden.
"Sie haben das Gesetz ja im letzten Jahr schon einmal in Kraft gesetzt. Da sollte ich über 200 Euro zahlen. Das Verfassungsgericht hat die Zahlungsaufforderung gekippt. Begründung: Man muss die Obdachlosen leben lassen. Aber der Oberbürgermeister hat so lange Druck gemacht, bis sie das Gesetz erneut verabschiedet haben."
Die Regierung änderte mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament die Verfassung. Das Obdachlosengesetz – vorher verfassungswidrig - steht jetzt im Grundgesetz. Das Verfassungsgericht wurde von der Regierung kurzerhand entmachtet. Die Folgen spürt dieser Budapester Obdachlose.
"Ich habe zwei Würstchen und ein halbes Kilo Brot aus dem Mülleimer geholt: 30 Euro Geldstrafe."
Ein neuer Stil macht sich breit: Die Regierung setzt auf Zuckerbrot und Peitsche im Umgang mit den Obdachlosen. Gergely Gulyás, Abgeordneter der Regierungspartei Fidesz, zur Regierungslinie.
"Wir möchten, dass - entgegen der vorherigen Entscheidung des Verfassungsgerichtes - die Kommunen nicht nur die Pflicht zur Unterbringung der Obdachlosen haben, sondern dass der Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen verboten wird."
In der Parlamentsdebatte ging es emotional zu. Der sozialistische Abgeordnete Gergely Bárándy schimpfte auf führende Mitglieder der Regierungspartei.
"János Lázár sagt: Wer nichts hat, ist genau so viel wert. Aus einer solchen Mentalität heraus ist so ein Gesetzesvorschlag, den sie im Parlament vorgelegt haben, die logische Folge. Das werden wir garantiert nicht unterstützen. Einen Vorschlag, der die Obdachlosen als schmutzige, aus der Öffentlichkeit zu entfernende Menschen betrachtet. Schämen Sie sich!"
In Budapest gibt es bis zu 10.000 Obdachlose
Für ihre Law-and-Order-Politik hat sich die Regierung Orbán, die sich als Erneuerer des Christentums in Europa versteht, auch weitere Werkzeuge geschaffen. Im Juli trat bereits ein neues Strafrecht in Kraft. Ein Obdachloser, der wenige Euro und eine Decke gestohlen hatte, wurde danach zu elf Jahren Haft verurteilt. Gábor Iványi, methodistischer Geistlicher, empört sich.
"Das nennt sich christliches Ungarn. Aber ich glaube, das ist eine christliche Karikatur, was sich unter dem Oberbürgermeister von Budapest, der sich für einen besonders guten Christen hält, in der Stadt abzeichnet oder unter einem ähnlich christlichen Ministerpräsidenten im ganzen Land - wenn jeder Beamte, unter dem aufgehängten Kreuz, alles in teuflischer Weise verzerrt, wovon in den Evangelien die Rede ist."
Iványis Stiftung "Obhut" betreibt ein Obdachlosenasyl in der Dankóstraße im achten Bezirk. Das ist das Roma-Viertel von Budapest. Bis zu 600 Obdachlose übernachten hier im Winter, in einer ehemaligen Autowerkstatt. Das Geld dafür komme derzeit nur aus Spenden zusammen, erzählt Iványi. Mit der Verfassungsänderung im März verlor Iványi staatliche Zuwendungen. An den Wänden seines Obdachlosenasyls stehen Stockbetten. Die abgewetzten blauen Spinde der Kfz-Mechaniker dienen heute zum Verstauen der wenigen Habseligkeiten.
Die Regierung sagt: Die 6.000 Schlafplätze in Budapest reichen aus. Doch die Vereinten Nationen schätzen: Alleine in der ungarischen Hauptstadt gibt es 10.000 Obdachlose, im ganzen Land mindestens drei Mal so viele. Und die Unterkünfte sind – trotz Dachs über dem Kopf und Essen – nicht sehr beliebt.
Auch Waldbewohnerin Andrea und ihr Freund haben sich in der Dankó-Straße im Asyl von Iványi kennengelernt. Sie zieht das Leben im Wald der Obdachlosenunterkunft aber vor.
"Hier sind wir zu zweit. Dort sind sehr viele. Lärm. Alle reden durcheinander. Wenn man was liegen lässt, aufs Klo geht, findet man es nicht wieder. Letzten Winter hätten wir in einer Unterkunft zusammen sein können. Aber wie? Da gibt es nur ein Zimmer, darin drei Paare, dazwischen je ein Paravent. Ist das ein Leben?"
Auch Andrea ist Aktivistin der Organisation "Die Stadt gehört allen", die gegen das neue Obdachlosengesetz demonstriert hat. Die Gruppierung hat in Straßburg vor dem Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde eingelegt. Ihre Schlussfolgerung:
Die Regierenden interessieren sich nur dafür, dass es ihnen an nichts fehlt. Die wollen uns wegfegen wie Dreck. Ihre Politik ist einfach zum Aufregen.
"Das nennt sich christliches Ungarn. Aber ich glaube, das ist eine christliche Karikatur, was sich unter dem Oberbürgermeister von Budapest, der sich für einen besonders guten Christen hält, in der Stadt abzeichnet oder unter einem ähnlich christlichen Ministerpräsidenten im ganzen Land - wenn jeder Beamte, unter dem aufgehängten Kreuz, alles in teuflischer Weise verzerrt, wovon in den Evangelien die Rede ist."
Iványis Stiftung "Obhut" betreibt ein Obdachlosenasyl in der Dankóstraße im achten Bezirk. Das ist das Roma-Viertel von Budapest. Bis zu 600 Obdachlose übernachten hier im Winter, in einer ehemaligen Autowerkstatt. Das Geld dafür komme derzeit nur aus Spenden zusammen, erzählt Iványi. Mit der Verfassungsänderung im März verlor Iványi staatliche Zuwendungen. An den Wänden seines Obdachlosenasyls stehen Stockbetten. Die abgewetzten blauen Spinde der Kfz-Mechaniker dienen heute zum Verstauen der wenigen Habseligkeiten.
Die Regierung sagt: Die 6.000 Schlafplätze in Budapest reichen aus. Doch die Vereinten Nationen schätzen: Alleine in der ungarischen Hauptstadt gibt es 10.000 Obdachlose, im ganzen Land mindestens drei Mal so viele. Und die Unterkünfte sind – trotz Dachs über dem Kopf und Essen – nicht sehr beliebt.
Auch Waldbewohnerin Andrea und ihr Freund haben sich in der Dankó-Straße im Asyl von Iványi kennengelernt. Sie zieht das Leben im Wald der Obdachlosenunterkunft aber vor.
"Hier sind wir zu zweit. Dort sind sehr viele. Lärm. Alle reden durcheinander. Wenn man was liegen lässt, aufs Klo geht, findet man es nicht wieder. Letzten Winter hätten wir in einer Unterkunft zusammen sein können. Aber wie? Da gibt es nur ein Zimmer, darin drei Paare, dazwischen je ein Paravent. Ist das ein Leben?"
Auch Andrea ist Aktivistin der Organisation "Die Stadt gehört allen", die gegen das neue Obdachlosengesetz demonstriert hat. Die Gruppierung hat in Straßburg vor dem Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde eingelegt. Ihre Schlussfolgerung:
Die Regierenden interessieren sich nur dafür, dass es ihnen an nichts fehlt. Die wollen uns wegfegen wie Dreck. Ihre Politik ist einfach zum Aufregen.