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Alltagsgeschichten und politische Fakten

Pünktlich zur Volljährigkeit der Wiedervereinigung erscheinen zwei Bücher, die gut lesbar Kluges zum untergegangenen anderen Deutschland sagen - das eine bietet den kritisch-historischen Abriss der Geschichte, das andere einen tief gehenden, analytischen Einblick in den Alltag der Diktatur. Beide sind unbedingt empfehlenswert. Günther Wessel hat für uns beide gelesen:

    "Euer Gral ist ein Phantom, dem ihr ein Leben lang hinterhergejagt seid",

    so zitiert Rolf Hosfeld aus Christoph Heins Theaterstück "Die Ritter von der Tafelrunde". Es spricht Mordret, der Sohn von König Artus. Er sagt über den Gral:

    "Ein Hirngespinst, um das ihr euch die Köpfe blutig geschlagen habt. Sieh dir deine Gralsritter an. Verstörte, unzufriedene, ratlose Greise, die das Leben verklagen. Was, glaubst du, sollt mich dazu bringen, auch so zu werden?"

    Uraufgeführt wurde das Stück im April 1989 in Dresden - es ist ein Abgesang auf den real existierenden Sozialismus und die DDR, ein Abgesang auf einen untergehenden Staat, der weder seinen internationalen Zahlungsverpflichtungen nachkommen, noch seine Bevölkerung vernünftig versorgen konnte, ein Staat, in dem Häuser und Straßen zerfielen und sich die Bevölkerung nicht mehr länger gängeln lassen wollte.

    Hosfeld beschreibt gut lesbar und nüchtern, wie es dazu kommen konnte, erzählt wie der Staat gegründet wurde und an welchen Widersprüchen er scheiterte. Er beschreibt, wie Walter Ulbricht aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland zurückkommt, voller Misstrauen gegenüber den Landsleuten, da die deutsche Arbeiterklasse nicht imstande gewesen war ...

    " ... die Kriegsvorbereitungen des Hitlerfaschismus zu durchkreuzen und den Überfall auf das Land des Sozialismus zu verhindern"

    wie es in seinem Tagebuch Ende Juni 1941 heißt. Daraus resultiert für Hosfeld, dass Ulbricht ...

    " ... jetzt alles richtig machen wollte. Er wollte Stalins treuer Diener sein, die berechtigten Reparationsforderungen unterstützen, die Deutschen von ihrer Schuld überzeugen und gleichzeitig demonstrieren, dass Deutschland trotz der Schmach der letzten zwölf Jahre für die rote Fahne nicht immer verloren sein musste, wobei er nicht selten und fast zwangsläufig, nach den Worten Waldimir Semjonows, des politischen Beraters der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, über das Ziel der von Moskau jeweils aktuell vorgegebenen Linie hinausschoss."

    Rolf Hosfeld ist kein Historiker - und mitunter ist man geneigt zu sagen: glücklicherweise kein Historiker. Er erzählt szenisch, verzichtet mitunter auch auf die Chronologie und auch auf die Fußnoten - leider auch auf eine Zeittafel - gliedert aber dennoch genau, setzt Schwerpunkte und hält sich angenehm mit Deutungen zurück. Er berichtet statt Daten zu reihen, von der Berliner Blockade, davon wie Walter Ulbricht in einer acht Stunden langen Rede in der Berliner Seelebinderhalle am 9. Juli 1952 davon spricht, den Sozialismus aufzubauen und wie sich Stalins Tod in der Führung der DDR auswirkte.

    Größter Einschnitt für die DDR war der 17. Juni 1953. Verärgerung über politische Bevormundung, verbunden mit der Erhöhung der Leistungsnormen in den Betrieben - was faktisch einer Lohnsenkung gleichkam - führten zu Unmut, der die Menschen zu Streiks und Demonstrationen trieb. Und daraus wurde bald ein Aufstand für politische Freiheit, den die Sowjetunion mit militärischen Mitteln niederschlug - ein Trauma, von dem sich die DDR-Führung nie wieder erholte.

    Denn da sie dem Volk politische Freiheit weder geben wollte noch konnte - beides hätte den Staat gefährdet -, musste sie alles vermeiden, was zu einem neuen 17. Juni hätte führen können: Das hieß zum einen verstärkte politische Kontrolle - Mauerbau und Staatssicherheit waren die sichtbarsten und restriktivsten Mittel - zum anderen mussten die Bürger durch eine bessere Wirtschafts- und Sozialpolitik ruhig gestellt werden.

    Wie die genau auszusehen hatte, darüber gab es innerparteiliche Auseinandersetzungen, vor allem zwischen Walter Ulbricht, der sich wirtschaftlich und politisch mehr dem Westen öffnen wollte und auf die Förderung von Wissenschaft und Technologie setzte, und seinem Nachfolger Honecker, der eine enge politische und wirtschaftliche Anlehnung an die Sowjetunion befürwortete.

    Wirtschaftlich scheiterten beide. Ulbricht investierte erfolglos in Zukunftstechnologien zu Lasten des Konsums, und im Winter 1969/70 gab es dramatische Versorgungsengpässe: Schulen mussten deshalb geschlossen werden, der Fahrplan der Reichbahn brach zusammen, Silvester war es in den meisten DDR-Städten stockdunkel, nicht einmal Kartoffeln gab es in ausreichender Menge. Honecker warf hingegen das Ruder herum: Er ließ die Preise für Grundnahrungsmittel und Energie einfrieren, startete ehrgeizige Wohnungsbauprojekte, erhöhte die Mindestrenten und -löhne und die Zahl der Urlaubstage - allerdings hielt die Produktivität nicht damit Schritt. Im Gegenteil, sie sank:
    Hosfeld:

    ,,In den Achtzigerjahren wurden 40 Prozent der Staatsplanpositionen nicht erfüllt. ( ... ) Statistiken wurden bewusst gefälscht, Melkmaschinen darin als Industrieroboter ausgewiesen, Erfolge frei erfunden, fundamentale Fehlentwicklungen und die rapide wachsende Rückständigkeit verschwiegen und Mängel aller Art verharmlost. Niemand, auch niemand im Westen, konnte das nachprüfen. Die Westverschuldung der DDR nahm 1989 monatlich um fünfhundert Millionen DM zu."

    Hosfeld beschreibt auch die innere Opposition gegen die DDR, die Gängelung der Künstler, die Allgegenwart der Stasi und die Auseinandersetzungen um die Biermann-Ausweisung sowie die Nischengesellschaft, in die sich viel DDR-Bürger zurückzogen -in die Datschen-Welt an den Brandenburger oder Mecklenburger Seen oder den Wäldern im Süden.

    Diese Rückzugswelt ist auch ein Thema vom Mary Fulbrooks Buch "Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR." Sie betrachtet das Leben der Menschen, die in den meisten Geschichtsbüchern, wie auch dem von Hosfeld, zu kurz kommen: In diesen geht es fast immer um hohe Funktionäre auf der einen und profilierte Intellektuelle auf der anderen Seite - die so normalen Menschen, etwa 80 Prozent der Bevölkerung, kommen nie als Handelnde vor.

    Der Ausgangspunkt von Fulbrooks Überlegungen ist ein Paradoxon:

    "Zwischen Analysen des diktatorischen politischen Systems der verblichenen DDR einerseits und den Erfahrungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen vieler, die sie erlebten, andererseits scheint sich ein gewaltiger Abgrund aufgetan zu haben. Die institutionalisierte Verweigerung der Grundrechte erhielt in der Mauer eine ganz konkrete Verkörperung; trotzdem erschien die DDR während langer Zeitabschnitte vielen ihrer Bürger als ganz normal und selbstverständlich."

    Fulbrook untersucht den Alltag in der Diktatur - sie schaut auf das Alltagsleben zu Haus und am Arbeitsplatz, auf Geschlechterrollen und die Freizeit, auf die Zirkel der Macht und der Intelligenz - und verweist darauf, dass es dieser Diktatur gelang, ...

    " ... zahlreiche Bürger in ihre politische Strukturen und Prozesse einzubeziehen. Jeder fünfte Erwachsene trat in die SED ein. Während langer Zeit funktionierte die DDR nicht in erster Linie durch Ausübung von Zwang - obwohl (wiederum paradoxerweise) der Zwangsapparat und die verschleierte Fähigkeit zur Unterdrückung rasant wuchsen -, sondern eher durch eine Internalisierung der ungeschriebenen Spielregeln beziehungsweise durch die Bereitschaft, sich an diese zu halten."

    Gleichzeitig war Fulbrooks Meinung nach die Ausübung von Macht in der DDR komplexer und vielschichtiger und sogar auch weniger bedrohlich als es der immer wieder kommende Verweis auf Mauer, Todesstreifen und Stasi glauben lässt. Es gab viele gemeinsame Ziele zwischen Staat und Bürger etwa in Teilen der Gesundheitspolitik, des Wohnungsbaus oder der Gleichberechtigung der Geschlechter. Es gab auch Diskussion; eine Diskussion, die sowohl das Regime veränderte als auch den teilnehmenden Bürger. Letztere waren laut Fulbrook auch nie blind gegenüber den Problemen der DDR: die fehlende Freiheit der Rede und der Reise oder auch die Versorgungsmängel wurden bemerkt und man litt darunter, gleichzeitig hatten sich die Ostdeutschen aber an eine Gesellschaft gewöhnt, die vieles garantierte: Plätze für Kinderbetreuung und Urlaub, Erziehung, Ausbildung und einen sicheren Arbeitsplatz.

    So löst sich das Paradoxon auf: Wo es noch Mitwirkungsmöglichkeiten in dieser Menge gibt, verschwimmen die Kategorien von Macht, Staat und Bürger, es verschwimmt auch der Gegensatz zwischen dem Regime und den Unterdrückten, und es muss ihrer Meinung nach nicht wundern, dass viele Ostdeutsche heute von einem "ganz normalen Leben" in der Diktatur sprechen.

    Das Fazit: Pünktlich zur Volljährigkeit der Wiedervereinigung erscheinen zwei Bücher, die gut lesbar Kluges zum untergegangenen anderen Deutschland sagen - das eine bietet den kritisch-historischen Abriss der Geschichte, das andere einen tief gehenden, analytischen Einblick in den Alltag der Diktatur. Beide sind unbedingt empfehlenswert.

    Rolf Hosfeld: Was war die DDR? Die Geschichte eines anderen Deutschlands. Kiepenheuer und Witsch Köln 2008, 304 Seiten, 19,95 Euro

    Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Primus Verlag Darmstadt, 364 Seiten, 29,90 Euro