"Es gibt eine Energie in mir, die diesen magischem Moment nachspürt, wo diese Musik eigentlich über uns kam wie eine Offenbarung. Das war wie die Posaunen von Jericho und Singen muss man nicht glorifizieren. Es ist keine besondere Stadt, aber ich komme da her, insofern beschäftigt mich das immer noch und vielleicht habe ich auch eine Rechnung offen."
Singen am Hohentwiel in den 50er- und 60er-Jahren. Ein kleiner Industrieort mit großen Fabriken. Eine Stadt ohne Schönheit und Charme. Trotz boomenden Wirtschaftswunders - noch immer ein Provinzkaff. Karl Heinz Bittels Roman beginnt dokumentarisch.
Singen ist in zwei Teile geteilt. Die Nordstadt, die Südstadt. Die Grenze bildet die Eisenbahnlinie. In der Singener Nordstadt wohnen die besseren Leute, die Südstadt war weitgehend proletarisch. Dort wohnten in monotonen Mietskasernen die Arbeiter aus den entlang der Eisenbahn angesiedelten Fabriken: die Aluminiumwerke, die Alu abgekürzt wurden. Die Georg Fischer AG, nach den dort hergestellten Gussteilen, die Fitting genannt, und die Maggi, die von manchen alteingesessenen Singenern Matschi ausgesprochen wurde. In die Fabriken gingen die Leute zum Schaffen. Felix Vater schaffte in der Alu.
Felix ist das Alter Ego des Autors Karl Heinz Bittel. Bevor er im Laufe des Romans erzählt wie die Beatmusik ihn bzw. Felix aus der Enge des einfachen Elternhauses und der repressiven Schule herausreißt, erleben wir Leser dieses Aufwachsen durch die Augen eines staunenden Kindes. Es sind detailreiche und liebevolle Beschreibungen von Familienritualen wie Sonntagsspaziergänge und Ausflüge in den Schwarzwald zur Verwandtschaft.
Gemeinsam mit dem Vater hört Felix den beliebten Schweizer Radiosender Beromünster und wundert sich über die Kommentare des Vaters zum "Sündenkurier" wie dieser die Lokalzeitung Südkurier nennt. Überhaupt sind es die Lebensweisheiten des Vaters die die bedrückende Enge des Arbeiterhaushaltes so richtig spürbar machen. Und man kann sich vorstellen wie sie einen Heranwachsenden wie Felix alias Karl Heinz Bittel, damals aufgeregt haben.
"Das leben ist ein Kampf, Müßiggang ist alles Laster Anfang, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, er hatte eine Vielzahl von Sprichwörtern. Bibelzitate auch. Er war ein regelmäßiger Kirchgänger und er hat diese Zitate regelmäßig eingesetzt und auf konkrete Lebenssituationen angewandt und die dann gerne zu kleinen Predigten ausgeweitet. Das hat ihm sichtlich Freude gemacht. Wenn du all das machst, was ich dir als kluge Verhaltensmaßregeln immer wieder sage und mitgebe, dann kann dir keiner an den karren fahren. Und dass dir keiner an den karren fahre, das ist eine Lebensmaxime."
Karl Heinz Bittel ist 15, 16 Jahre alt, als für ihn endlich eine neue Zeit anbricht. Er spielt Gitarre und hilft gelegentlich in Tanzkapellen und Jazzbands aus. Als dann aber Anfang der 60er-Jahre die Musik der Stones und Beatles auch das Provinzstädtchen Singen erreicht, ist es für Karl Heinz Bittel eine Verheißung – gerade auch zum Trotz gegen die herrschende Meinung der spießigen Erwachsenen.
Der Haartracht wegen wurde die Gruppe in den Zeitungen "Pilzköpfe genannt, was eine Niedertracht war und eine Beleidigung. Aber die, die das sagten, waren von gestern, die Beatles von morgen. Eindeutig von morgen, ihr Sound trug eine süße Verheißung in sich, einen Vorgeschmack von grenzenloser Freiheit. Das spürte Felix und daran glaubte er. Nichts musste so bleiben, wie es war.
Felix gründet mit Freunden die Beatband Ghostriders die bald die Tanzsäle und Dorfhallen der Umgebung unsicher macht. Für Felix ist es die Chance, um aus der Enge einer einfachen Arbeiterfamilie und dem repressiven Schulalltag zu entfliehen.
"Für mich war die Rolle Sologitarist einer Beatband zu sein, das war für mich ein stück Emanzipation auf der Bühne zu stehen, nicht zuletzt auch im Blick auf die Mädchen im Publikum."
Es folgen erste Küsse, feuchte Schwimmbadträume und Petting. Die Beatband ermöglicht Felix einen Sonderstatus mit genügend Taschengeld und Freiheiten, die Gleichaltrige nicht haben. Und dennoch sind die Zeiten hart für den jungen Beatfan. In der Schule und zu Hause gibt es kein Verständnis dafür, dass Felix wegen der Band sitzen bleibt. Und jeder Friseurbesuch ist ein Risiko.
Die Haare wurden länger. Zuerst auf den Schallplattenhüllen der Bands aus England. Aber jetzt begannen die Haare über die Ohren und den Kragen zu wachsen, je länger um so besser, fand Felix. Der Friseur war der Feind. Der machte einen Fassonschnitt, das heißt, er schor die Haare hinten bis hoch zum Wirbel ganz kurz und auch an den Seiten und an den Schläfen bis oben hin. Der Vater sagte zu Felix, so kurz müsse er es ja nicht schneiden lassen, obwohl es am besten so sei, und das nächste Mal sollte er dem Friseur einfach sagen: halblang.
Halblang – wie oft ist dieser bittend vorgebrachte Satz in muffigen Friseursalons der Adenauer-Republik unbeachtet verhallt. Es gibt eine Vielzahl dieser höchst amüsant und hintergründig erzählten Szenen, die die Erfahrungen einer ganzen Generation beschreiben. Fünf Jahre war der Autor dafür bei sich selbst auf Spurensuche.
"Ich habe da nicht geschrieben ordentlich Kapitel um Kapitel, alles schön kontinuierlich chronologisch. Eines fügt sich zum anderen, weil ich finde, so geht das leben nicht. Dinge, die sich chaotisch mischen auf die eine oder andere Weise im Bewusstsein niederschlagen, den roten Faden, wie in manchen Romanen, gibt es im Leben überhaupt nicht. Und deshalb versucht man, eine Vielzahl dieser Kleinsterinnerugen zusammenzusetzen in der Hoffnung, es gibt ein dichtes Bild von der damaligen Zeit."
Und dabei zeigt sich, dass die Erfahrungen seines Helden Felix in Singen durchaus vergleichbar sind mit denen Gleichaltriger in Hamburg, München oder Köln. Karl Heinz Bittel ist deshalb mit "Singen – ein Anfang" viel mehr gelungen als nur ein biografischer Heimatroman der Swinging Sixties in der Provinz. Man spürt, welche Welten da aufeinander krachten, als der Beat in Deutschland die Jugend begeisterte. Dabei biedert sich Karl Heinz Bittel sprachlich nicht an die Wilden 60er-Jahre an, sondern er beschreibt sie dokumentarisch – distanziert.
"Da merkt man den Abstand - 40 Jahre. Ich finde es manchmal besser, Dinge nur anzudeuten und nicht immer aufs Pedal zu drücken, weil ich glaube die Bilder und Szenen verfertigen sich im Grunde im Kopfe des Lesers. Jeder macht sich sein eigenes Bild und insofern finde ich, dass es manchmal klug ist, es bei einer Anspielung auch zu belassen."
Ein bisschen mehr Rhythm and Beat im Text hätte es dann doch manchmal sein dürfen. Das Potenzial ist vorhanden, wie folgendes Beispiel zeigt: Karl Heinz Bittel beschreibt darin die direkte Wirkung der Stones auf ihn und seine Bandkollegen.
Ihre Musik war schwärzer als die aller anderen Gruppen, scharf, ruppig und ungeschliffen. Die Gier nach Sex war darin zu hören und auch zu spüren. Nicht nur bei Satisfaction: Michael der die Autogrammkarten seit kurzem mit "Mick" signierte, meinte, dass "I´m A King Bee" den richtigen Rhythmus vorgäbe, liege man mit einer Frau im Bett.
Karl Heinz Bittel : "Singen – ein Anfang", Osburg Verlag , 205 Seiten , Euro 17,95
Singen am Hohentwiel in den 50er- und 60er-Jahren. Ein kleiner Industrieort mit großen Fabriken. Eine Stadt ohne Schönheit und Charme. Trotz boomenden Wirtschaftswunders - noch immer ein Provinzkaff. Karl Heinz Bittels Roman beginnt dokumentarisch.
Singen ist in zwei Teile geteilt. Die Nordstadt, die Südstadt. Die Grenze bildet die Eisenbahnlinie. In der Singener Nordstadt wohnen die besseren Leute, die Südstadt war weitgehend proletarisch. Dort wohnten in monotonen Mietskasernen die Arbeiter aus den entlang der Eisenbahn angesiedelten Fabriken: die Aluminiumwerke, die Alu abgekürzt wurden. Die Georg Fischer AG, nach den dort hergestellten Gussteilen, die Fitting genannt, und die Maggi, die von manchen alteingesessenen Singenern Matschi ausgesprochen wurde. In die Fabriken gingen die Leute zum Schaffen. Felix Vater schaffte in der Alu.
Felix ist das Alter Ego des Autors Karl Heinz Bittel. Bevor er im Laufe des Romans erzählt wie die Beatmusik ihn bzw. Felix aus der Enge des einfachen Elternhauses und der repressiven Schule herausreißt, erleben wir Leser dieses Aufwachsen durch die Augen eines staunenden Kindes. Es sind detailreiche und liebevolle Beschreibungen von Familienritualen wie Sonntagsspaziergänge und Ausflüge in den Schwarzwald zur Verwandtschaft.
Gemeinsam mit dem Vater hört Felix den beliebten Schweizer Radiosender Beromünster und wundert sich über die Kommentare des Vaters zum "Sündenkurier" wie dieser die Lokalzeitung Südkurier nennt. Überhaupt sind es die Lebensweisheiten des Vaters die die bedrückende Enge des Arbeiterhaushaltes so richtig spürbar machen. Und man kann sich vorstellen wie sie einen Heranwachsenden wie Felix alias Karl Heinz Bittel, damals aufgeregt haben.
"Das leben ist ein Kampf, Müßiggang ist alles Laster Anfang, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, er hatte eine Vielzahl von Sprichwörtern. Bibelzitate auch. Er war ein regelmäßiger Kirchgänger und er hat diese Zitate regelmäßig eingesetzt und auf konkrete Lebenssituationen angewandt und die dann gerne zu kleinen Predigten ausgeweitet. Das hat ihm sichtlich Freude gemacht. Wenn du all das machst, was ich dir als kluge Verhaltensmaßregeln immer wieder sage und mitgebe, dann kann dir keiner an den karren fahren. Und dass dir keiner an den karren fahre, das ist eine Lebensmaxime."
Karl Heinz Bittel ist 15, 16 Jahre alt, als für ihn endlich eine neue Zeit anbricht. Er spielt Gitarre und hilft gelegentlich in Tanzkapellen und Jazzbands aus. Als dann aber Anfang der 60er-Jahre die Musik der Stones und Beatles auch das Provinzstädtchen Singen erreicht, ist es für Karl Heinz Bittel eine Verheißung – gerade auch zum Trotz gegen die herrschende Meinung der spießigen Erwachsenen.
Der Haartracht wegen wurde die Gruppe in den Zeitungen "Pilzköpfe genannt, was eine Niedertracht war und eine Beleidigung. Aber die, die das sagten, waren von gestern, die Beatles von morgen. Eindeutig von morgen, ihr Sound trug eine süße Verheißung in sich, einen Vorgeschmack von grenzenloser Freiheit. Das spürte Felix und daran glaubte er. Nichts musste so bleiben, wie es war.
Felix gründet mit Freunden die Beatband Ghostriders die bald die Tanzsäle und Dorfhallen der Umgebung unsicher macht. Für Felix ist es die Chance, um aus der Enge einer einfachen Arbeiterfamilie und dem repressiven Schulalltag zu entfliehen.
"Für mich war die Rolle Sologitarist einer Beatband zu sein, das war für mich ein stück Emanzipation auf der Bühne zu stehen, nicht zuletzt auch im Blick auf die Mädchen im Publikum."
Es folgen erste Küsse, feuchte Schwimmbadträume und Petting. Die Beatband ermöglicht Felix einen Sonderstatus mit genügend Taschengeld und Freiheiten, die Gleichaltrige nicht haben. Und dennoch sind die Zeiten hart für den jungen Beatfan. In der Schule und zu Hause gibt es kein Verständnis dafür, dass Felix wegen der Band sitzen bleibt. Und jeder Friseurbesuch ist ein Risiko.
Die Haare wurden länger. Zuerst auf den Schallplattenhüllen der Bands aus England. Aber jetzt begannen die Haare über die Ohren und den Kragen zu wachsen, je länger um so besser, fand Felix. Der Friseur war der Feind. Der machte einen Fassonschnitt, das heißt, er schor die Haare hinten bis hoch zum Wirbel ganz kurz und auch an den Seiten und an den Schläfen bis oben hin. Der Vater sagte zu Felix, so kurz müsse er es ja nicht schneiden lassen, obwohl es am besten so sei, und das nächste Mal sollte er dem Friseur einfach sagen: halblang.
Halblang – wie oft ist dieser bittend vorgebrachte Satz in muffigen Friseursalons der Adenauer-Republik unbeachtet verhallt. Es gibt eine Vielzahl dieser höchst amüsant und hintergründig erzählten Szenen, die die Erfahrungen einer ganzen Generation beschreiben. Fünf Jahre war der Autor dafür bei sich selbst auf Spurensuche.
"Ich habe da nicht geschrieben ordentlich Kapitel um Kapitel, alles schön kontinuierlich chronologisch. Eines fügt sich zum anderen, weil ich finde, so geht das leben nicht. Dinge, die sich chaotisch mischen auf die eine oder andere Weise im Bewusstsein niederschlagen, den roten Faden, wie in manchen Romanen, gibt es im Leben überhaupt nicht. Und deshalb versucht man, eine Vielzahl dieser Kleinsterinnerugen zusammenzusetzen in der Hoffnung, es gibt ein dichtes Bild von der damaligen Zeit."
Und dabei zeigt sich, dass die Erfahrungen seines Helden Felix in Singen durchaus vergleichbar sind mit denen Gleichaltriger in Hamburg, München oder Köln. Karl Heinz Bittel ist deshalb mit "Singen – ein Anfang" viel mehr gelungen als nur ein biografischer Heimatroman der Swinging Sixties in der Provinz. Man spürt, welche Welten da aufeinander krachten, als der Beat in Deutschland die Jugend begeisterte. Dabei biedert sich Karl Heinz Bittel sprachlich nicht an die Wilden 60er-Jahre an, sondern er beschreibt sie dokumentarisch – distanziert.
"Da merkt man den Abstand - 40 Jahre. Ich finde es manchmal besser, Dinge nur anzudeuten und nicht immer aufs Pedal zu drücken, weil ich glaube die Bilder und Szenen verfertigen sich im Grunde im Kopfe des Lesers. Jeder macht sich sein eigenes Bild und insofern finde ich, dass es manchmal klug ist, es bei einer Anspielung auch zu belassen."
Ein bisschen mehr Rhythm and Beat im Text hätte es dann doch manchmal sein dürfen. Das Potenzial ist vorhanden, wie folgendes Beispiel zeigt: Karl Heinz Bittel beschreibt darin die direkte Wirkung der Stones auf ihn und seine Bandkollegen.
Ihre Musik war schwärzer als die aller anderen Gruppen, scharf, ruppig und ungeschliffen. Die Gier nach Sex war darin zu hören und auch zu spüren. Nicht nur bei Satisfaction: Michael der die Autogrammkarten seit kurzem mit "Mick" signierte, meinte, dass "I´m A King Bee" den richtigen Rhythmus vorgäbe, liege man mit einer Frau im Bett.
Karl Heinz Bittel : "Singen – ein Anfang", Osburg Verlag , 205 Seiten , Euro 17,95