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Als der Mensch wieder Mensch wurde

Noltze: : Jetzt aber nach London, wo heute in der National Gallery der vermutliche Blockbuster der Saison aller Ausstellungen schon mal zur Vorbesichtigung freigegeben wurde, "Raffael, from Urbino to Rome", eine Großschau für einen der größten Maler aller Zeiten, jenen Raffael Santi, geboren 1483 in eben Urbino. 1504 kam er nach Florenz, wo schon die Herren Michelangelo und Leonardo tätig waren, und 1508 nach Rom, wo Michelangelo schon an der sixtinischen Decke arbeitete und bald Raffael ein paar Räume weiter an den Stanzen. Das alles ist höchst kanonisierte Kunstgeschichte. Stefan Koldehoff in London, was wussten wir über Raffael noch nicht, das wir jetzt wissen?

Stefan Koldehoff im Gespräch |
    Koldehoff: Wir wussten nicht, wie sich dieser Weg nun genau vollzogen hat von Urbino nach Rom und wie sich der Stil Raffaels da verändert hat. Es liegt ganz banal daran, dass es in den vergangenen Jahrzehnten nicht möglich war, die Hauptwerke aus diesem relativ schmalen Zeitraum zwischen 1500 und 1508 in der Zusammenschau zu sehen, und das liegt daran, dass diese Bilder hochfragil sind, in der Regel auf Holztafeln gemalt, die wiederum aus kleineren Holzbrettern zusammengestückt sind. Schon geringste Temperaturunterschiede sorgen dafür, dass sich dieses Holz verzieht und die Farbe absplittert. Deswegen lassen viele diese Bilder nicht mehr reisen, die sie besitzen.

    Noltze: : Das heißt, die Sensation ist jetzt erst mal eine organisatorische, konservatorische und versicherungstechnische?

    Koldehoff: Es ist eigentlich in jeder Hinsicht eine Ausstellung, die einem das Herz überfließen lässt. Es sind wunderbare Bilder, ganz wunderbar präsentiert, nämlich chronologisch und didaktisch, hervorragend kommentiert und erklärt, wenn man diese Räume betritt und anfängt in diesem ersten Raum, in dem die frühesten Zeichnungen und Gemälde des vierzehn- bis siebzehnjährigen Raffaels zu sehen sind, dann weitergeht über den nächsten Raum, in dem seine Lehrer gezeigt werden, von denen er die ersten Techniken übernimmt, die er noch sehr steif und ungelenk in biblischen Szenen umsetzt. Trotzdem bekommt er öffentliche Aufträge, vor allen Dingen aus der benachbarten, Città di Castello, auch erste private. Man sieht sehr schön, wie er sich für die öffentlichen Aufträge, in der Regel Altarbilder für Kirchen, ans ganz große Format heranwagte, drei, vier Meter hohe Gemälde, die er da schon als Siebzehnjähriger malt, während natürlich für den privaten Gebrauch, für die Fürsten und die anderen, die sich die Bilder leisten konnten, eher das kleinere Format angesagt war. Man sieht auch, wie unprätentiös damals mit diesem heute millionenteuren Meisterwerken umgegangen wurde. Eines des frühesten Gemälde, die zu sehen sind, ist ein doppelseitiges Banner für eine religiöse Bruderschaft. Das ist ein total zerschlissenes Bild, weil es tatsächlich als Fahne bei Prozessionen rumgetragen wurde. Man erkennt fast nichts mehr vom Bild, aber dennoch sieht man da schon die Meisterschaft, die kommen wird.

    Noltze: : Was ist zu sehen von den großen Meisterwerken? Also die Stanzen aus Rom kann man natürlich nicht transportieren, aber sind sozusagen die Hauptwerke vertreten in London?

    Koldehoff: Ja. Es ist den Machern tatsächlich gelungen, all das zu bekommen, was für die letzte große Raffael-Ausstellung, die 1983/1984 durch die Welt getourt ist, nicht zu bekommen war. Damals hatten sich drei große staatliche Museen zusammengetan, die alle Raffael-Bilder besitzen, nämlich die Nationalgalerie in London, die National Gallery in Washington und der Louvre in Paris, und in diesen drei Stationen war er eben auch zu sehen, aber eben nur aus den Beständen dieser drei Häuser. Nun hat man es tatsächlich geschafft, private Sammler, denn es gibt - man höre und staune - noch Raffaels in Privatbesitz, zu überzeugen, und auch kleinere italienische Museen, Museen in Frankreich ihre kostbaren Schätze auszuleihen. Das heißt, es ist zu sehen die "Alba Madonna" aus der Nationalgalerie in Washington, es ist die " Conestabile Madonna", der "Ermitage" aus Sankt Petersburg zu sehen, der Russland noch nie verlassen hat. Es ist der heilige St. Georg aus dem Louvre zu sehen. Also es reiht sich eigentlich Meisterwerk an Meisterwerk, natürlich auch die neun Werke, die die Nationalgalerie in London selbst besitzt, darunter auch die "Nelkenmadonna", ein sehr liebliches kleines Bildnis, um das es Anfang dieses Jahres viel Wirbel gegeben hat, weil der adlige Besitzer es gerne ans Getty-Museum in den USA verkaufen wollte. In einer großen Anstrengung ist es mit öffentlichen Mitteln und einem Aufruf an private Geldgeber tatsächlich gelungen, dieses kleine Bildchen hier zu halten. Ein sehr liebliches Bild, und das ist eigentlich das Erstaunliche an der Entwicklung. Man sieht wunderbar Schritt für Schritt, wie dieser sehr steif beginnende Raffael, als er nach Florenz kommt und da die Auseinandersetzung zwischen Leonardo Da Vinci und Michelangelo mitbekommt und später die Selbstsicherheit hat, der Hofmaler von Papst Julius II in Rom zu sein, immer lockerer wird und fast impressionistisch malt. Eine Ausstellung, die das zu zeigen schafft, hat natürlich ihre Berechtigung. Auch wenn man Raffaels Bilder schon 100.000 Mal als Reproduktion gesehen hat, an den Originalen kann man das jetzt nachvollziehen.

    Noltze: : Wenn man vielleicht anlässlich einer solchen Ausstellung noch mal in die "Große Kunstgeschichte" von Ernst Gommrich schaut, liest man da den interessanten Gedanken, Raffael wirke so natürlich, so perfekt, so allgemeinverständlich schön, dass man fast schon auf die Idee kommen könnte, das sei banal, in Wahrheit aber das Ergebnis größter Raffinesse. Vermittelt sich so eine Idee im Angesicht der Originale?

    Koldehoff: Man sieht hier wirklich die Anstrengung. Man sieht, dass auch dieser Raffael keiner war, dem das Können in den Schoss gefallen wäre, sondern man sieht, wie er sich vom Siebzehnjährigen bis zum vollendeten Meister entwickelt durch Anstrengung. Man darf nicht vergessen, er ist mit 37 Jahren gestorben, das heißt, er war sehr früh vollendet, aber das, wie gesagt, nicht durch Gottes Fügung, sondern einfach, weil er permanent an sich gearbeitet hat, und das ist es, glaube ich, was die großen Künstler bis heute auszeichnet.