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Als gäbe es mich nicht

Dieses Buch ist problematisch. Es erzählt die Geschichte einer 29 Jahre alten bosnischen Lehrerin, die im Frühsommer 1992 von serbischen Soldaten in ein Frauenkonzentrationslager verschleppt wird, über Monate hin die Folter der Vergewaltigung erleidet und im März 'l 993 in einem Stockholmer Krankenhaus ein Kind zur Welt bringt, für dessen Vaterschaft nicht ein Mann, sondern eine anonyme Masse von Soldaten verantwortlich ist. Für eine Frau dürfte es nichts Schlimmeres, für ihr Körperschicksal nichts Vernichtenderes geben. Doch, vermittelt dieses Buch, es gibt vielleicht noch Schlimmeres. Der am Rande miterzählte Fall einer Frau, deren 12jährige Tochter im Lager zu Tode vergewaltigt wird, könnte noch schlimmer sein. Oder die Geschichte des bosnischen Mädchens, das nach tagelangem Martyrium an den kreuzförmigen Fleischwunden stirbt, die ihr serbische Soldaten an vier Stellen in den Körper geschnitten haben.

Ursula März |
    "Diese Schrecken lassen sich nicht vergleichen, das kann man nicht", schreibt die 1949 in Kroatien geborene Schriftstellerin Slavenka Drakulic. Aber sie legt, ob sie will oder nicht, den Vergleich der Schrecken nahe. Denn sie bedient sich wesentlicher Mittel der dramatischen Spannungssteigerung und nähert sich dabei gleichsam automatisch der Logik der Klimax der Gewalt, Diese Logik aber entspricht der sadistischen Phantasie der Täter, die an der Dramaturgie des Buches folglich strukturell beteiligt ist. Und das ist problematisch. Vermutlich ist das Problem bereits bei der Wahl der Gattung entstanden, bei Slavenka Drakulics Entscheidung, einen Roman über dieses verdunkelte Kapitel des Bosnienkrieges zu schreiben, keinen sachlich- journalistischen Text, keinen Band mit Protokollen oder einen politischen Essay.

    Die Entscheidung der Autorin für die literarische Erzählweise dürfte zwei Gründe haben. Zum einen das Verstummen der vergewaltigten Frauen, die wissen und zu Recht befürchten, daß jede in den Bereich der Sexualität fallende, von ihnen erlittene Foltermethode das Erleiden einer speziellen Stigmatisierung der sozialen Umwelt nach sich zieht. Zum anderen Slavenka Drakulics konventionelle Überzeugung, daß moralische Eindringlichkeit am stärksten durch jene Gemütsbewegung der Leserschaft zu erreichen ist, die auf Identifizierung mit Furcht und Schrecken beruht.

    Der Lageraufenthalt der S. genannten Lehrerin wird retrospektiv berichtet. Den Ausgangspunkt der Erzählung stellt die Stockholmer Geburt des Kindes dar, das ungewollt zu nennen euphemistisch wäre. Für S. ist dieses Kind ein sich in ihr vergrößernder, parasitärer Klumpen, für den sie nichts als Haß empfindet. Sie hat erlebt und zu begreifen gelernt, daß bosnische Frauen, denen dasselbe wie ihr geschah, solche sogenannten "Kriegskinder" unmittelbar nach der Geburt umbrachten. Sie selbst hat sich dafür entschieden, das Kind in Schweden sofort zur Adoption freizugeben. Sie will es nicht ansehen und nicht berühren. Mit diesem Vorwissen um das Ende kehrt die Erzählung, und mit ihr der Leser, zeitlich an den Beginn des Leidensweges und den Beginn der Etappen des Terrors zurück. Sein furchtsam erwartetes Eintreffen hat zwangsläufig einen seltsam kathartischen Effekt. Slavenka Drakulics Spannungsdramaturgie unterscheidet sich genau genommen nur wenig von der Erzählweise einer üblichen Kriminalgeschichte. Der Leser wird mit dem Opfer und dessen Schädigung bekannt gemacht und liest sich nun aufgeregt Tat und Täter entgegen. Wann und unter welchen Umständen spielt sich die erste Vergewaltigung ab? Wieviele Soldaten werden es sein, werden sie S. schlagen, verunstalten, zu Perversitäten zwingen ?

    In der ersten Zeit im Lager sieht es so aus, als käme sie davon. Die Lichtkegel der Taschenlampen, mit denen sich die betrunkenen Soldaten nachts ihre Opfer aussuchen, gleiten über sie hinweg. Vielleicht ist sie nicht mehr jung genug, vielleicht als studierte Lehrerin suspekt. Aber eines Nachts ist es so weit. Slavenka Drakulic entläßt den Leser auch bei Details der Handlung nicht aus dem identifizierenden, abstandslosen Sog der Angst. Als S. zum ersten mal daliegt, beobachtet sie, wie die drei Soldaten ihre Hosengürtel aus den Schlaufen ziehen. Das Bangen, daß sie damit geschlagen werden wird, teilt sich durch die Spannungsmethode der Mitteilungsverzögerung unmittelbar mit. Die Schriftstellerin Slavenka Drakulic bemüht sich vehement und natürlich vollkommen zu Recht um Aufklärung. Aber sie ignoriert dabei, daß die Gefühlsnähe zu den Ereignissen, die sie herstellt, nicht nur unangenehm, sondern unangemessen ist. Andere Autoren wie Gustaw Herling, dessen 1953 erschienenes Buch "Welt ohne Erbarmen" fatalerweise in Vergessenheit geraten ist, haben ihre Lagererzählungen bewußt Bericht oder Aufzeichnung genannt, haben sie versachlicht, entliterarisiert und entfiktionalisiert, um die Distanz zwischen der Welt draußen und der vergleichslosen Gegenwelt des Lagers einzuhalten und die Kluft dazwischen als - auch mit den Mitteln der Literatur - unüberbrückbar zu markieren, wohl wissend, wie leicht die Literatur der Kompensation dienen kann. Daß sie es im Falle dieses Buches tut, zeigt sich in der kolportagehaften Geschichte von S.'s rettendem Aufstieg vom mißbrauchten Stück Fleisch zur schauspielenden Geliebten des kulturell und als Mann anspruchsvollen serbischen Lagerkommandanten. Und es zeigt sich am tränenerweichenden Kitsch des Romanendes. In der Nacht nach der Geburt des gehaßten Kindes vollzieht sich an S. eine Wandlung, eine Rehumanisierung, die einer Heilung gleichkommt. Sie nimmt das Kind in den Arm legt es an die Brust. Sie ist Mutter geworden.