So stellen sich viele einen typischen Hanseaten vor: ein bisschen kühl im Auftritt, weißblondes Haar, etwas distanziert wirkend, aber wache, interessierte Augen – und dann dieser präzise hochdeutsche Sprachduktus. Gewiss, ein bisschen klischeehaft, die Vorstellung, aber hier durchaus in die richtige Richtung weisend. Die Rede ist von Henning Voscherau, geboren am 13. August 1941 in Hamburg, Notar und SPD-Politiker, von 1988 bis 1997 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg.
Nach einem Studium der Volkswirtschaft und der Rechtswissenschaften in seiner Heimatstadt Hamburg, das er mit einer Promotion 1969 abschloss, begann Voscherau seine politische Laufbahn 1970. Er wurde in die Bezirksversammlung Hamburg-Wandsbek gewählt, der er bis 1974 angehörte. Bereits 1981 gehörte er dem Landesvorstand der SPD in Hamburg an, der er 1966 beitrat. 1982 wurde er Fraktionsvorsitzender der SPD und behielt diese Funktion bis 1987, bevor er dann ein Jahr später zum Nachfolger von Klaus von Dohnanyi als Erster Bürgermeister Hamburgs gewählt wurde.
1997 trat Voscherau zurück, nachdem die von ihm gewünschte Koalition mit der Stadtpartei nicht zustande kam und stattdessen ein rot-grünes Bündnis geschlossen wurde, das er nicht guthieß. Er zog sich dann aus der aktiven Politik zurück, blieb aber bis 2001 Mitglied des SPD-Bundesvorstands. Henning Voscherau ist verheiratet und hat drei Kinder.
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"Ich bin kein Anhänger ich sage mal der Illusion, mit Bomben könne man für Menschenrechte eintreten."
Kindheitserinnerungen an Bombennächte – Reflexionen über Krieg und Frieden
Rainer Burchardt: Herr Voscherau, Sie sind Hamburger, Sie sind Hanseat, 1941 geboren, und überwiegend haben Sie in Hamburg gelebt. Eine Untersuchung hat kürzlich festgestellt: Die glücklichsten Menschen in Deutschland sind die Hamburger. Wie glücklich sind Sie?
Voscherau: Also Glück ist ja eine Definitionsfrage, aber es geht mir gut, es geht meiner Familie gut. Meine Frau und ich haben ein erstes Enkelkind und freuen uns jeden Tag darüber. Und unsere alten Freunde von vor 50 Jahren sind immer noch unsere Freunde. Wir sind altersgemäß vergleichsweise gesund und sportlich, wir sind stolz auf unsere Kinder. Was wollen Sie noch mehr? Also ich würde sagen, ich bin so ein bisschen unglücklich über den HSV.
Burchardt: Ja, das kann man verstehen, und das wird sich möglicherweise auch nicht mal ändern. Weniger glücklich ist ja Ihr Geburtsjahr gewesen und auch das, was dann folgte. Sie sind mitten im Krieg sozusagen geboren. Der Hamburger Feuersturm ist sicherlich vielen in Erinnerung, Ihnen nicht, aber gewiss Ihren Eltern. Was für ein Elternhaus hatten Sie?
Voscherau: Mir auch, muss ich zunächst sagen, denn meine ersten Kleinkindheitserinnerungen sind die Geräusche der Bombenangriffe von Alarm über das Anschwellen der Motorengeräusche dieser riesigen Bomberflotten bis zum dem Geräusch fallender Bomben und selten – wir waren in einem Vorort – auch explodierender Bomben bis zur Entwarnung.
Und da man ja Geräusche nicht erzählt bekommen kann, bin ich sicher, dass das originär eigene Erinnerungen sind, und die müssen dann ja wohl in der Zeit von 43 bis 45 entstanden sein.
Burchardt: Aber das hat nicht Ihr Leben maßgeblich beeinflusst, etwa im Faktor Angst, sich zurückziehen, in Deckung gehen?
Voscherau: Nein, aber es hat zum Beispiel etwas zu tun gehabt mit meinem heftigen Widerspruch gegen die deutsche Beteiligung an dem rechtswidrigen NATO-Angriff auf Jugoslawien.
Burchardt: Was haben Sie versucht, dagegen zu unternehmen?
Voscherau: Ich habe damals öffentlich und intern argumentiert, das sei ein völkerrechtswidriger Angriff, und nach den Kriterien des Tribunals von Nürnberg seien die Verursacher, wenn man einerlei Maß anwende und nicht zweierlei, strafbar.
Burchardt: Nun gibt es damals ja die Begründung oder gab es, wenn wir bei diesem Thema schon mal sind, von Fischer insbesondere, der gesagt hat, Auschwitz wäre möglicherweise zu vermeiden gewesen, wenn die Alliierten zuvor, wie jetzt damals dann in Bosnien die Westmächte, eingegriffen hätten.
Voscherau: Das kann man nicht ausschließen, aber es ist doch die Frage, ob der Satz "Durch Krieg wird alles immer noch schlimmer" am Ende nicht doch richtig ist. Wissen Sie, in der Zeit der Vernichtung der europäischen Juden in Auschwitz, da war schon Krieg. Der konnte nicht mehr schlimmer werden, der war schon. Das war bei dem Angriff auf Jugoslawien ja nicht der Fall, und irgendwie hat man auch nicht so richtig den Eindruck, dass Krieg in der Form des Bürgerkriegs in Nordafrika oder Syrien die Dinge leichter gemacht hat.
Also ich bin kein Anhänger ich sage mal der Illusion, mit Bomben könne man für Menschenrechte eintreten. Denn Bomben töten auch immer zahlreiche Unschuldige, die US-amerikanischen Streubomben in Jugoslawien haben unglaublich viele Kinder zerstückelt. Das ist mit nichts zu rechtfertigen. Und in Wahrheit ist die Abwägung zwischen 500.000 auf der Flucht befindlichen Menschen, die beschossen und drangsaliert werden, schrecklich natürlich, und sagen wir 17.000 Toten infolge der NATO-Angriffe auf Jugoslawien – das ist eine Abwägung, in der man nichts richtig, aber viel falsch machen kann. Das ist die Situation der griechischen Tragödie: Wie immer du dich entscheidest, entscheidest du dich falsch und machst dich schuldig.
Burchardt: Herr Voscherau, das bringt mich natürlich zwangsläufig zu der wenig statthaften Ja-Nein-Frage: Sind Sie Pazifist?
Voscherau: Nein.
Burchardt: Sie dürfen auch länger antworten.
Voscherau: Nein, nein, nein. Ich bin nicht Pazifist in dem strengen Sinne, dass man sich nicht einmal selbst verteidigen dürfe. Natürlich würde ich mich selbst verteidigen, meine Familie selbst verteidigen. Ich halte militärische Selbstverteidigung für in jeder Weise, auch moralisch, zulässig.
Also bin ich kein Pazifist. Ich bin aber ein sehr strikter Anhänger der Verrechtlichung des Rechts zum Kriege traditioneller Art, das ja etwa galt bis 1914, jus ad bellum, und glaube, dass es ein großer Fortschritt des 20. Jahrhunderts hätte sein können, die Ächtung des Angriffskrieges durch den Briand-Kellogg-Pakt, dem das Deutsche Reich in der Weimarer Republik ja beigetreten ist, das Emerging International Law infolge des Nürnberger Militärtribunals, das sich auf den Briand-Kellogg-Pakt berief und die UN-Charta mit dem Verbot des Angriffskriegs ohne Mandat des Weltsicherheitsrats, und wer diese ganz formalen Verbote durchbricht, mit noch so gut gemeinten inhaltlichen Argumenten – solche gibt es durchaus –, der muss aber wissen, dass die Aufweichung des Nein teuer bezahlt werden muss. Und das erleben wir jetzt schon jeden Monat.
Burchardt: Wir sind jetzt natürlich voll in der Aktualität, aber warum auch nicht. Was heißt denn das bezogen jetzt auf Syrien? Es gibt beispielsweise ein großes Dilemma, der Internationale Gerichtshof in Den Haag – Sie sind Jurist – sagt: Das soll uns nicht die UNO vor die Füße kippen, die UNO soll ein Mandat finden, und zwar mit Russland und mit China. Es gibt aber im Statut, dem Römerstatut des Internationalen Gerichtshofes, gibt es diesbezüglich kein direktes Verbot auf Präventivschläge.
Voscherau: Also derjenige, der Emerging International Law in Anspruch genommen hat für eine humanitäre Intervention, war Präsident Clinton. Dieser These haben, ich weiß nicht, ich glaube 117 UN-Mitgliedsstaaten scharf widersprochen. Dazu kann man nicht werdendes Völkerrecht sagen, zu so einem Konflikt. Und in der Sache Syrien müsste man ja, wenn man das mit internationalem Strafrecht, Völkerstrafrecht aburteilen wollte, sowohl die eine Bürgerkriegsseite mit einer regulären Armee als auch die andere Bürgerkriegsseite mit einer aufständischen Armee, naturgemäß viel weniger geordnet, die müsste man ja beide vor Gericht bringen, und die müssten ja beide gleichermaßen abgeurteilt werden, ohne dass man so genau weiß, wer nun auf der anderen Seite …
Burchardt: … jus post bellum.
Voscherau: Ja, also jedenfalls nach meiner Auffassung kann man zu Syrien nicht sagen, Arabischer Frühling und ein Aufstand der demokratischen, wohlmeinenden, westlichen, liberalen Bürgerrechtler gegen ein despotisches Regime – das ist ein knallharter Bürgerkriegsmachtkampf um Interessen. Und was man von dem einen wie von dem anderen hätte, kann man im Falle von Präsident Assad ja sehr genau beurteilen. Was aus den anderen werden würde, weiß man nicht. Und ich denke, der Westen müsste wohl auch eine Sekunde innehalten und darüber nachdenken, was eigentlich wäre, wenn da direkt nebenan von Israel ein Regime installiert würde analog Teheran, ob das eigentlich wirklich das kleinere Übel wäre.
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" Der Intendant hat die Aufgabe, den Redaktionsmitgliedern den Rücken freizuhalten."
Als Kind beim Radio, die Verlockungen der Schauspielerei und die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Burchardt: Der Name Voscherau wurde ja besonders prominent noch bevor Sie Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg wurden durch Walter Scherau, der eigentlich auch Voscherau heißt.
Voscherau: Mein Onkel.
Burchardt: Ist ein Onkel von Ihnen und noch mehr: Ich glaube, Ihr Vater hatte auch was mit der Schauspielerei zu tun.
Voscherau: Ja.
Burchardt: Haben Sie auch Gene, die in diese Richtung gehen?
Voscherau: In meiner Generation gab es drei Voscheraus, einen Sohn meines Onkels Walter Scherau und meinen Bruder Eggert und mich, und alle drei wollten phasenweise in ihrer Zeit als Teenager Schauspieler werden. Und ich war ja auch beim Nordwestdeutschen Rundfunk im Kinderfunk vor der Pubertät sehr aktiv, das hat das noch gefördert. Aber die beiden Alten und irgendwie auch unser Großvater haben immer gesagt: Das könnt ihr werden, aber erst lernt ihr was Anständiges. Dazu, zu dem Spruch habe ich, als ich dann in der Politik war, allerdings viel Sarkasmus gehört.
Burchardt: Walter Scherau, das war ja, wenn man das mal, wenn das erlaubt ist, so zu sagen, das war der berühmte Dicke beim Ohnsorg Theater, gemeinsam mit Heidi Kabel und Henry Vahl einer der Großen von damals. Hat es Sie zeitweise vielleicht mal gereut, dass Sie gesagt haben, Mensch, da hätte ich auch gerne mal mit auf der Bühne gestanden? Wäre doch auch möglich gewesen. Oder vielleicht noch andersherum gesagt: Helmut Schmidt hat mal im Zusammenhang von Politikern von Staatsschauspielern gesprochen.
Voscherau: Ja, ja, das habe ich oft gehört, wurde mir auch von Herrn von Beust immer wieder entgegengehalten.
Burchardt: Der hat doch nicht an Sie gedacht dabei, oder meinen Sie doch?
Voscherau: Schmidt nicht, aber Beust. Na gut, dem kann man nur entgegenhalten: Haben Sie was gegen die Bühne, haben Sie was gegen Schauspieler? Dann verstummt so was meistens.
Nein, ich habe es nicht bereut, sondern der Weg, den ich eingeschlagen habe, hat mich dann auch mitgenommen und getragen und hat mich ganz und gar ausgefüllt, und da bleibt für Reue eigentlich nichts übrig. Es gab aber einen Vorgang, bei dem ich sehr gerne auf die Bühne gegangen wäre, und zwar die Aufzeichnung des schönen Stücks "Der Bürgermeisterstuhl" im Ohnsorg Theater.
Da gibt es eine Szene, in der zwei Bühnenarbeiter dann irgendwann diesen Stuhl, ein schweres Monstrum damals, tatsächlich auf die Bühne tragen. Und ich habe immer gedacht, die werden dich doch jetzt anrufen als alten Freund des Hauses und werden sagen: Herr Bürgermeister, aber wenn das aufgezeichnet wird, dann müssen Sie einen der Bühnenarbeiter ersetzen und im Blaumann den Stuhl höchstselbst auf die Bühne tragen.
Burchardt: Wäre doch super gewesen.
Voscherau: Ja, aber angerufen habe ich selber nicht und auf die Idee gekommen ist das Ohnsorg auch nicht.
Burchardt: Da war der Hanseat bei Ihnen durchgekommen.
Voscherau: Das war natürlich sehr schade. Stellen Sie sich mal vor, als Konserve heute in allen Fernsehsendern, würde ja immer wieder mal laufen. Das habe ich nun leider verpasst.
Burchardt: Hätten Sie nicht möglicherweise aber auch Angst davor gehabt, dass man Sie sozusagen auf den Stuhl gesetzt hätte und Sie dann mitsamt des Stuhls aus dem Saal getragen?
Voscherau: Ja, nun gut, irgendwann habe ich ja meinen eigenen Stuhl aus dem Rathaus getragen. Also das hätte die Sache nicht getoppt. Und vor solchen Auftritten hatte ich nie Angst. Ich habe ja mal im Hamburger Kongresszentrum vor tausenden Menschen, in der ersten Reihe mein Kollege Johannes Rau, untergehakt mit Heidi Kabel, ich weiß nicht, zu ihrem 80. oder 85., gesungen im Duett, ohne Probe: "Ick heff mol en Hamburger Veermaster sehn", und Johannes Rau, seine Augen wurden immer größer, das war richtig komisch.
Burchardt: In diesem Zusammenhang sollten wir vielleicht unsere Hörer wissen lassen, dass wir hier in Hamburg beim NDR sind, und der NDR ist ja so etwas wie die Geburtsinstitution des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Voscherau: Der NWDR.
Burchardt: Ja, das habe ich Ihnen auch gerne als Steilpass gegeben, das war die alte Zeit, als es noch gemeinsam einen Nordwestdeutschen Rundfunk gegeben hat.
Voscherau: Ja.
Burchardt: Aber es war eben hier an diesem Orte, und Leute wie Hugh Carleton Greene, das war ja damals der Medienoffizier der britischen Besatzer – und Hamburg gehörte ja zur britischen Besatzungszone – hat im Grunde genommen ja nach dem Vorbild der BBC den Rundfunk aufgebaut.
Wenn Sie sich jetzt überlegen, das alles im öffentlich-rechtlichen Bereich sollte nach BBC-Muster geschehen, und wenn Sie jetzt sehen, wie die Parteien, wie die Politik – und da würde ich Sie auch gar nicht jetzt ausnehmen wollen, wenn auch nicht ad personam, aber immerhin sind Sie auch mit dabei –, wie die Politik die Öffentlich-Rechtlichen okkupiert haben in den letzten Jahrzehnten, wird einem da nicht ganz anders?
Voscherau: Ja, das ist sicherlich nicht im Sinne des Erfinders, aber Bundespräsident von Weizsäcker hat mal ein Gesprächsbuch mit zwei "Zeit"-Redakteuren darüber gemacht, dass die Parteien sich den Staat angeeignet hätten. Das geht ja dann noch weiter. Davon ist die Aneignung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ja nur ein Teil. Und zu diesem Teil würde ich allerdings sagen, dass diese Aneignung deutlich zurückgegangen ist.
Burchardt: Wodurch erkennen Sie das?
Voscherau: Na ja, es war offensichtlich so: Zum Beispiel hier in Hamburg hatte ja der damalige Oppositionsführer Jürgen Echternach im Verwaltungsrat und im Rundfunkrat des NDR eine sehr starke Riege versammelt und hat den Bogen so überspannt, dass das sich nicht weiter durchhalten ließ. Und ich würde mal sagen, dass zum Beispiel in der langen Amtszeit des Intendanten Jobst Plog – und daran hat sich jetzt heute nichts geändert – die Möglichkeit entstand, als ein starker, unerschrockener Intendant den Räten, wenn nötig, trotzen konnte. Und Plog als Diplomat war ja außerdem in der Lage, da auch richtig Überzeugungsarbeit zu leisten. Es gibt immer zwei.
Burchardt: Also Sie wollen sagen, es kommt auch darauf an, wie sehr man sich zur Wehr setzt?
Voscherau: Ja, und zwar mit klugen Mitteln und nicht mit der Keule, und der Intendant hat die Aufgabe, den Redaktionsmitgliedern den Rücken freizuhalten.
Burchardt: Es gab ja in den 80er-Jahren eine Phase, wo Ministerpräsidenten, zum Beispiel Herr Albrecht, Niedersachsen, Herr Stoltenberg, Schleswig-Holstein, immerhin ja das Sendemitglied des Norddeutschen Rundfunks, den Staatsvertrag gekündigt haben und einen anderen Sender wollten.
Voscherau: Richtig.
Burchardt: Letztendlich fiel das ja auch in die Zeit, als wir den Privatrundfunk eingeführt bekommen haben.
Voscherau: Das war etwas früher, und das war in der Amtszeit von Bürgermeister Klose, der diese außerordentliche Kündigung des NDR-Staatsvertrags vor den Verwaltungsgerichten bekämpft und gewonnen hat, und den NDR als Drei-Länder-Anstalt gerettet hat, sodass ich die Chance hatte nach dem Fall der Mauer, darauf hinzuwirken, dass mit Mecklenburg-Vorpommern ein weiteres Land hinzukommt und im Norddeutschen Rundfunk gewissermaßen die frühere Grenze überwunden wird und dass es heute eine Vier-Länder-Anstalt ist. Das war auch Jobst Plog, aber ich hatte damit auch zu tun.
Burchardt: Das gibt mir Anlass zu der Frage, und die schwebt natürlich immer irgendwo auch unausgesprochen im Raum, sowohl im politischen als auch im medienpolitischen Raum, nämlich die Frage der Konzentration, also der Fusionen, etwa von Ländern, von Bundesländern. Wir kriegen ja jetzt einen Bundesverfassungsgerichtsprozess wahrscheinlich, wegen Bayern, Baden-Württemberg, gegen den Länderfinanzausgleich, …
Voscherau: Ja, aber das ist ja schon der fünfte.
Burchardt: … weil, da geht es wieder um die Frage: Wer subventioniert wen, und haben wir nicht zu viele Bundesländer im Zweifel? Dahin wird es ja dann möglicherweise auch kommen. Und es gibt eben Leute, die auch sagen: Haben wir nicht im öffentlich-rechtlichen Bereich zu viele Landessender? Wie ist da Ihre Position?
Voscherau: Ach, ja, also Fusionen sind nur so lange nützlich, wie die Identifikation der Kunden mit dem fusionierten Konstrukt nicht leidet, also unterstellt man, würde Radio Bremen vereingemeinden, …
Burchardt: Beim NDR natürlich.
Voscherau: … ja, wobei: Die Bremer hätten vielleicht sogar eher ein Interesse daran, angedockt zu werden an den WDR, würde ich mal schätzen. Aber die Priorität Nummer eins Bremens ist natürlich, als vergleichsweise kleine Länderstadt, Zwei-Länder-Staat, ihre Selbstständigkeit zu verteidigen. Also die Identifikation ist erforderlich. Ist das nicht gegeben, führen Fusionen eher zur Schwächung. Und im Übrigen darf ich mal etwas sarkastisch sagen: Wenn es um Geld und Effizienz geht für … - Also was hat das Bundesverfassungsgericht jetzt gerade festgestellt? Bis zu 190 Milliarden Euro darf Deutschland haften für so schöne sonnige Gegenden wie den Peloponnes und Kreta und dann vielleicht auch Sizilien, ich weiß es nicht. Das sind ja Größenordnungen – wollen wir im Vergleich dazu wirklich wichtig nehmen, 17,50 Mark zu sparen durch eine Anstalts- oder Länderfusion? Ich weiß nicht.
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"Demokratie ist ja was Schönes, aber einer muss zu sagen haben."
Persönlichkeiten und Führungsstile, der Kampf um die Hamburger Hafenstraße und Gedanken zu Demokratiemodellen
Burchardt: Es steht eine Frage an, die auch noch in Ihre Jugendzeit fällt, nämlich die nach der politischen Sozialisation. Sie sind ja nicht als Sozialdemokrat geboren, will ich mal sagen.
Voscherau: Doch.
Burchardt: Doch?
Voscherau: Letztlich doch.
Burchardt: Dann doch? Das hatte familiäre Gründe, oder politische Gründe? Sie sind ja aufgewachsen zu Zeiten von Bürgermeistern wie Weichmann oder Nevermann, die sich ja auch gut gekannt haben, …
Voscherau: Brauer.
Burchardt: Brauer natürlich nicht zu vergessen. Waren das für Sie die politischen Vorbilder, wo Sie sagten: Da muss es langgehen?
Voscherau: Ja, aber wissen Sie, das fing eigentlich gar nicht im öffentlichen oder politischen Raum an, sondern eher zu Hause, schon als kleines Kind. Also mein Großvater, meine Großeltern, die beiden, die ich erlebt habe, die waren natürlich beide Sozis gewesen. Mein Großvater ist in die SPD eingetreten 1904 und geblieben bis zu seinem Tode. Mein Vater ist in die SPD eingetreten 1918. Die sind beide 33 von den Nazis wegen politischer Unzuverlässigkeit gefeuert worden. Meine Mutter bekam Arbeitsverbot.
Burchardt: Was für Funktionen waren das?
Voscherau: Ja, mein Großvater war Arbeiter im Hafen, auf dem sogenannten Staatszimmerplatz, was heute ein … dann wurde das Strom- und Hafenbau und jetzt neumodisch heißt "Hamburg Port Authority". Also der war Arbeiter im Hafen, wurde aber gefeuert, weil er aktiver Funktionär der SPD auf St. Pauli war, St. Pauli Nord. Mein Vater wurde gefeuert, weil er noch nach der sogenannten Machtergreifung in Berlin öffentlich in Hamburg auf Straßen sammelte für Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, was ja eine aktive bewaffnete Truppe war zur Verteidigung der Weimarer Republik und der Verfassung, und denunziert wurde.
Und meine Mutter kriegte nach der Sippenhafttheorie Arbeitsverbot. Die haben richtig, 33, 34, 35, beide gehungert, und die haben das nur durchgestanden, weil sie einen großen Freundeskreis hatten in der Kulturarbeit der Arbeiterbewegung, in den Volksheimen und in lauter Theatervereinen inklusive Richard Ohnsorg. Und dieser große Freundeskreis, die haben sie über Wasser gehalten, indem die sich eine Scheibe Brot pro Woche vom Munde abgespart haben und kollektiv gewissermaßen die Überwindung des Hungers meiner Eltern bewerkstelligt haben.
Meine Onkel mütterlicherseits – IG Metall plus SPD, mein Urgroßvater mütterlicherseits – Delegierter der Schiffszimmerer Reiherstieg, Wilhelmsburg 1875. Also ich bin nicht parteipolitisch indoktriniert worden von meinen Eltern, aber man hört zu, wenn die inhaltlich reden. Und meine Eltern haben sich unterhalten über die Zurückweisung der sogenannten Stalin-Note, also ein neutrales …
Burchardt: 52.
Voscherau: … also ein neutrales, wiedervereinigtes Deutschland 1952 durch Bundeskanzler Adenauer, und zwar postwendend. Und ich werde nie vergessen, dass meine Mutter dazu … oder dass ihr der Satz entfuhr über Adenauer: "Dieser rheinische, katholische Separatist!"
Und auch die Parteinahme der gesamten Familie 1949, da war ich acht, für Kurt Schumacher, und diese emotionale, ungläubige Enttäuschung über die eine Stimme Mehrheit für Konrad Adenauer, die Konservativen – das sind alles Dinge, die so einsickern.
Burchardt: Gab es nicht in Ihrer heranwachsenden Zeit oder in Ihrer Zeit als Heranwachsender auch Momente, wie sie ja in vielen Familien sind, dass die Kinder exakt eben auch aus der entwicklungsbedingten kritischen Haltung gegenüber den Eltern genau das Gegenteil oder zumindest irgendwas anders machen?
Ich will es mal konkretisieren: Während der 68er-Bewegung – Sie haben promoviert 1969 – waren Sie noch Student sozusagen oder auslaufender Student. Was hat die Studentenbewegung auch auf Sie welchen Einfluss gehabt und ob Sie vielleicht dann irgendwann nach ganz links abgedriftet wären oder vielleicht eher den Konservativen zugeneigt? Oder hat Sie das nicht interessiert damals?
Voscherau: Na ja, alle diese genannten Vorfahren, die sind ja immer bei der Mehrheit Sozialdemokratie geblieben. Die waren nicht bei der USPD und sie waren nicht bei der KPD, sind immer bei M geblieben, so wie ich auch, anders als Herr Lafontaine. Und das ist einfach die Balance zwischen Programmtreue und gesundem Menschenverstand, die Balance muss man haben, und die hatten meine Familienmitglieder auch alle. Im Übrigen ist es so: Mein Vater ist 1963 gestorben, da war ich Student. Wir waren plötzlich vergleichsweise arm und ich musste mich sputen und hatte weder Zeit für politische Avancen noch viel Lust oder Möglichkeit, mich mit meiner Mutter zu streiten. Gut, also war ich 66 fertig, habe von da ab an meiner Doktorarbeit gearbeitet, 67, als mein späterer Staatsrat Hinnerk Behlmer und Detlev Albers, später Vorsitzender SPD Bremen, dieses berühmte …
Burchardt: "Unter den Talaren", ja.
Voscherau: Ja. "Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren" ins Audimax trugen, war ich kein Student mehr, sondern Doktorand, und blickte von der ganzen Höhe meines Vorsprungs auf diese ungebärdigen jungen Leute.
Burchardt: Also Sie waren emotional schon weiter, für sich selbst.
Voscherau: Ja, ja, ja.
Burchardt: Das ist Ihnen aber nicht zum Nachteil gereicht.
Voscherau: Ja, bei den späteren bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen in der Hamburger SPD-Landesorganisation ist mir das sehr wohl zum Nachteil ausgeschlagen, weil ich dadurch ja sozusagen auf der falschen Seite der Barrikade stand aus der Sicht des …
Burchardt: Sie galten als ein rechter, harter Sozialdemokrat.
Voscherau: Ja, der Enkel von Schmidt statt Enkel von Willy Brandt. Und damals gab es den Satz – ich weiß nicht mehr von wem: 'Der Klassenfeind steht mitten in der Partei und heißt Henning.'
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Über die Krise um die Besetzung der Häuser an der Hamburger Hafenstraße und direkte Demokratie
Burchardt: Nicht nur komisch war ja eine Zeit, die dann auch zu überwinden war, dieser sogenannte Nevermann-Eklat, als die Queen zu Besuch kam, einer Ihrer Vorgänger, und Nevermann war gerade frisch in einer Scheidung, hatte wohl auch eine neue Lebensgefährtin, und durfte deshalb die Queen …
Voscherau: Er war noch nicht in einer Scheidung.
Burchardt: Das war doch Heuchelei pur, auch auf der politischen Ebene – oder wie haben Sie das empfunden?
Voscherau: Ach, das ist sehr schwer zu sagen, also als Kind infolge der geschilderten Geschichte meiner Familie kannte ich sowohl Max Brauer wie Paul Nevermann persönlich. Und Paul Nevermann war für mich ein wirklich ganz netter, verlässlicher, uneitler Bürgermeister, an den man sich auch mit seinen Sorgen wenden konnte. Meine Mutter hat das nach dem Tode unseres, meines Vaters auch getan und er hat auch geholfen. Und insofern waren wir not amused über diesen Abgang. Aber das war ja die öffentliche Folge einer Ehekrise, und zu der kann man wenig sagen. Ich vermute, dass ein bisschen kleinbürgerlich-moralischer Mief und eine gewisse politische Kritik an der Amtsausübung zusammenkam.
Burchardt: War das eine innerparteiliche Frontlinie?
Voscherau: Wissen Sie, Paul Nevermann hat das Amt ganz anders ausgeübt als Max Brauer. Max Brauer war eine Art Selbstherrscher, …
Burchardt: Ein Patriarch.
Voscherau: … handlungsstark, alleine entscheidend. Das ging zum Schluss auch nicht mehr. Und vielleicht war bei Nevermann sozusagen das Pendel in die andere Richtung etwas zu weit ausgeschlagen und es war vielleicht etwas zu viel laissez-faire, und die Alten, die waren auch alle eher auf eine klare Autorität programmiert, die fanden das vielleicht falsch. Also es gibt ja von Adolf Schönfelder, Polizeisenator bis 33 und Bürgerschaftspräsident, Zweiter Bürgermeister nach 45, diesen Satz: 'Demokratie ist ja was Schönes, aber einer muss zu sagen haben.'
Burchardt: Können Sie das vielleicht für unsere süddeutschen Hörer – wir sind ja ein Bundessender – vielleicht übersetzen?
Voscherau: Demokratie ist ja was Schönes, aber einer muss zu sagen haben. Das sah Adenauer ja genauso, nehme ich mal an, und Kohl übrigens auch, soweit mein Beobachtungsvermögen damals reichte.
Also natürlich brauchen Sie auch in einer Demokratie Strukturen, und das war vielleicht bei Nevermann etwas zu wenig. Im Rückblick kann man nur sagen: Es war kein Anlass, um zurückzutreten, es war kein Anlass, den Bürgermeister zu stürzen, und es hat – das war der Glückszufall – zu der großen Figur von Herbert Weichmann geführt.
Burchardt: Sie sind der Nachfolger Ihres Vorgängers von Dohnanyi. Dohnanyi hatte ein Riesenproblem unter anderem bei der Bewältigung der sogenannten Krise um die Besetzung der Häuser an der Hafenstraße.
Voscherau: Ja.
Burchardt: Das ging ja in Ihrer Amtszeit dann auch noch weiter. Wie haben Sie das hingekriegt?
Voscherau: Ach, wissen Sie, das war auch so ein Dilemma, in dem man es nicht richtig machen konnte, sowohl bei Klaus von Dohnanyi als auch dann hinterher bei mir, weil einerseits kann man einfach nicht dulden, wenn wildgewordene junge Männer Gehwegplatten, 50 mal 50, von Dächern auf Polizistenköpfe werfen, das kann man nicht hinnehmen, und die Verletzung des Rechtsbewusstseins von anderthalb Millionen Bürgerinnen und Bürgern kann niemand hinnehmen, und andererseits war klar, dass im Falle einer … der Vorbereitung einer gewaltsamen Räumung es zu einem europaweiten … zu einer Mobilmachung aller Autonomen von Dänemark bis Amsterdam kommen würde.
Wir hatten hier mal einen Vorgang mit 1500 schwarzvermummten – mit einem Seil abgesperrten, in einer Großdemonstration – Autonomen. Das ist Bürgerkrieg, da können Sie Angst kriegen. Und man musste davon ausgehen: Ein solcher Bürgerkrieg, 5000 Polizisten gegen 5000 Autonome, da gibt es Tote. Ja, was wollen Sie da machen?
Und also haben wir, erst er auf seine Weise, und ich dann nach Abschluss der sogenannten Friedensverträge auf meine Weise, versucht, auf Zeit zu spielen, die Option Räumung rechtsstaatlich aufzubereiten, aber nicht versessen darauf zu sein, diese Option dann wirklich zu ziehen. Und ich hatte dann einfach Glück - nach Jahren, dass die Schule, die da am Hafenrand in St. Pauli ist, aus allen Nähten platzte und ein unmittelbares Nachbargrundstück an der Hafenstraße für einen Erweiterungsbau, der da auch heute steht, haben wollte. Und damit konfrontiert habe ich dann öffentlich und relativ auf eigene Rechnung einen verkappten Vorschlag gemacht, und zwar habe ich gesagt: Wenn friedlich, dann wohnen, wenn nicht, dann nicht – bezogen auf eine unbehinderte, gewaltfreie Schulbaustelle.
Burchardt: Das war ja eigentlich ein genialer Schachzug, sowohl von der Politik, als auch von der rechtlichen Seite her gesehen. Wenn Sie jetzt, ich sage jetzt mal als Stichwort, Stuttgart 21 nehmen – was haben Sie da gedacht, als dann wirklich, ja, man muss ja schon sagen, auch die Politik das Ganze eskaliert hat?
Voscherau: Ja, nun, wissen Sie, seit der weise, alte, jüdische Bundeskanzler der Republik Österreich, Bruno Kreisky, ein großer Mann, sich einmal aus dem Dilemma um die Inbetriebnahme des fix und fertigen, milliardenteuren Kernkraftwerks in Zwentendorf in Österreich löste, indem er mit diesem Wiener Schmäh, den nur die Wiener können, sagte, ja, dann entscheidet es doch selbst, und die knappe Mehrheit der Österreicher sich gegen die Inbetriebnahme aussprach, da hatte er kein Dilemma mehr.
Das Geld war zwar weg, aber es wurde ihm nicht angehängt, und das Ding steht da heute noch und wird irgendwie anders genutzt. Das war mir eine Lehre. Ich bin ein Anhänger des repräsentativen demokratischen Parlamentarismus, aber je länger man davon weg ist, desto stärker teilt sich auch das einem mit: Die Grenzen der Legitimation, die ein Parlament verleihen kann, gegen große Bürgerprozentsätze – da reicht das Parlament nicht mehr aus. Und dann kann man schon als Schiedsrichter sagen: Dann entscheidet es doch selbst.
Burchardt: Wir haben ja jetzt gerade ausgerechnet hier in Hamburg ein Beispiel, wo eine sogenannte Bürgerbewegung, eine schulpolitische, wollte … gewissermaßen kassiert hat durch ein Referendum allerdings, muss man dazu sagen, mit der massenhaften Beteiligung von 37 Prozent. Da müsste Ihnen doch auch ein bisschen anders werden, wenn man das dann sieht. Kann ja auch bei anderen Themen so geschehen.
Voscherau: Ja, natürlich, also im Hinblick auf die Voraussetzung, die Modalitäten von Regelungen direkter Demokratie, bin ich noch zu meinen aktiven Zeiten und auch kurz danach noch mit Parteiämtern gelegentlich unterlegen mit einer etwas rigideren Haltung.
Zum Beispiel habe ich irgendwann gesagt: Wenn Volksgesetzgebung, dann müsste man eigentlich voraussetzen, dass die stattfindet mit einer Beteiligung, die der letzten Wahlbeteiligung entspricht. Ein Parlament, das mit 58 Prozent gewählt wird, kann sich nicht wirklich beschweren, wenn die Bürger mit 58 Prozent und der Mehrheit davon irgendein anderes Gesetz machen, und umgekehrt: Die Bürger, meinetwegen der Herr Brandt aus Moorburg, der ein Hamburger Vorkämpfer für solche Dinge war oder ist, können nicht wirklich bestreiten, dass das eine gewisse legitime Parallele ist. Warum eigentlich weniger als das Parlament brauchte? Und das hat die Hamburger SPD damals nicht machen mögen, und ja, nun ist es so.
Burchardt: Sollte denn, Beispiel Stuttgart 21, Beispiel Flughafen Schönefeld, Beispiel Elbphilharmonie, da sind wir dann ja vor den Toren, sollte da mehr Volksabstimmung stattfinden, wo die Politik sich ja offensichtlich – aus welchen Gründen auch immer, entweder aus Leichtsinn oder vielleicht auch aus Desinteresse – hat überfahren lassen? Da kommen plötzlich Kosten, Sie haben eben mal diesen Vergleich mit den 190 Milliarden, so viel ist es natürlich nicht, gebracht, aber da geht einem als Bürger doch der Hut hoch, wenn man das mal mitbekommt.
Voscherau: Ja, natürlich. Also trotzdem sind die Fälle natürlich sehr verschieden. In und um Berlin hätte man sehr wohl die verschiedenen Standorte durch das Volk von Berlin – und Brandenburg allerdings – entscheiden lassen können, und ich vermute, dabei wäre ein anderer Standort herausgekommen. Dass Verträge im Bausektor in der Regel nicht wirklich zu 100 Prozent halten, sondern es da irgendwelche Ausweitungen gibt, das kennt ja jeder.
Burchardt: Aber in Hamburg ist das schon ziemlich exotisch.
Voscherau: Ja, natürlich, es ist unannehmbar und ein himmelschreiender Skandal. Wer von 77 Millionen auf 500 Millionen kommt, der hat offenbar einen schlechten Vertrag geschlossen, und ich sage ungeschützt: Der Bauvertrag um die Elbphilharmonie wurde abgeschlossen in einem Zeitpunkt, als das Gebäude noch gar nicht endgültig durchgeplant war, also die Bauleistungen des Konzerns Hochtief nicht abschließend vertraglich definiert werden konnten, dann gab es außerdem noch Gott weiß wie viele nachträgliche Änderungen, weil noch Behörden oder sonst wer sich was Besseres einfallen ließen – ja, da muss man sich nicht wundern. Das ist kein Demokratieskandal, sondern ein Skandal inkompetenter politischer Führung und Kontrolle. Und das ist möglicherweise im Hinblick auf die Kostenüberschreitungen in Berlin beim Flughafen ähnlich. Darüber … an welcher Stelle wollen Sie da das Volk abstimmen lassen?
Burchardt: Auf der einen Seite der Sozialdemokrat, auf der anderen Seite hier in Hamburg der damalige CDU-Bürgermeister von Beust …
Voscherau: Ja, es hilft eben nichts, wissen Sie – als Großstadtbürgermeister: Man braucht den Fleiß, die Härte und die Präzision, sich um große Dinge selbst zu kümmern. Und da nützt nichts, zu präsidieren auf irgendeiner Wolke oder so, sondern da müssen Sie selber reingucken, sich vortragen lassen, das prüfen lassen und im Ernstfall sagen: Das reicht mir noch nicht, auf dieser Basis noch nicht. Und wer das nicht tut, der muss sich nicht wundern.
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Henning Voscherau und Helmut Schmidt – über freundschaftliche Beziehungen in der Politik
Burchardt: Wir müssen leider aus Zeitgründen zum Ende kommen, aber es gibt mir Anlass, noch auf ein Ereignis zu sprechen zu kommen, das auch sicherlich Sie Ihr Leben lang begleitet hat, das ist die persönliche und ich vermute auch die politische Freundschaft zur Familie Schmidt. Bei der Beerdigung, bei der Trauerfeier für Loki Schmidt haben Sie eine sehr anrührende Trauerrede gehalten. Loki Schmidt hatte Sie, wenn ich Ihre Rede richtig interpretiere, selbst darum gebeten, …
Voscherau: Ja.
Burchardt: … nach dem Motto, darf ich noch was bei dir bestellen? Die Frage ist, die ich daran knüpfen möchte: Wie weit gehen politische und persönliche Freundschaften zusammen?
Voscherau: Kann man nicht über einen Leisten schlagen. Also je jünger man ist, desto leichter geht man dauerhafte Freundschaften ein. Und so wie ich als Kind infolge meiner Familie schon Max Brauer traf und Paul Nevermann, so weiß ich wie heute, dass wie heute: Meine erste entfernte Begegnung mit dem Ehepaar Schmidt fand statt im Thalia Theater, die Lichter waren gerade verloschen – da bin ich oft gewesen mit meiner Mutter in Premieren natürlich, also viele, viele Jahre –, und dann öffnete sich vorne die erste Tür rechts zur Garderobe noch mal, es fiel ein Lichtschein hinein und es erschienen Helmut und Loki Schmidt, er damals noch kohlpechrabenschwarz mit diesem Linealscheitel.
Burchardt: Sie meinen das Haar, nicht seine politische Einstellung.
Voscherau: Nein, nein, an seinem Kopf natürlich. Und meine Mutter sagte zu mir, wer das sei, und es fiel das Wort "Hoffnungsträger".
Burchardt: War das vor 62, vor der Sturmflut?
Voscherau: Ja, ja, er war Bundestagsabgeordneter …
Burchardt: … denn er galt ja als der große Dirigent der Hamburger Sturmflut.
Voscherau: Das war in den 50ern. Er wurde glaube ich gewählt 53 in den Bundestag, also wird wahrscheinlich gewesen sein zwischen 53 und 57, in der Zeit. Da sozusagen erschienen diese beiden in meinem Leben, und 53 war ich 12 oder 13, 57 war ich 15 oder 16, je nachdem, wann das war, und da hat sich so mit den Jahren eine Vertrautheit eingestellt.
Später dann, in der zweiten Hälfte der 60er, war er mit seinem Wahlkreis auch in meinem Unterbezirk Wandsbek zum Teil vertreten, und ich musste Wahlkundgebungen mit ihm machen und die auch leiten, blickte natürlich zu ihm auf, wie viele. Loki war der ausgleichende, segenspendende, herzliche, natürliche Faktor. Und schon damals haben wir nach großen Kundgebungen – die Kundgebungen von Helmut Schmidt waren ja einfach unfassbar, unvergesslich –, haben wir da in irgendeiner Kneipe gesessen und ein Bier miteinander getrunken. So ist das langsam gewachsen.
Ich vermute nicht, dass er mich damals besonders auf der Reihe hatte, weil natürlich er ja deutschlandweit solche Kundgebungen hatte, und überall kam irgendwo ein junger Genosse und war der Wahlkampf- oder Veranstaltungsleiter. Also die kann man ja nicht alle behalten. In meinem Fall wird er vermutlich anhand des Nachnamens was identifiziert haben.
Burchardt: Würden Sie ihn als Freund bezeichnen?
Voscherau: Ja, würde ich heute ja, soweit man sagen kann, ein 93-Jähriger und ein 71-Jähriger, also in dem Vater-und-Sohn-Abstand, können auf Augenhöhe befreundet sein. Auf Augenhöhe würde ich bis heute nicht sagen, sondern ich blicke immer noch etwas zu ihm auf.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Nach einem Studium der Volkswirtschaft und der Rechtswissenschaften in seiner Heimatstadt Hamburg, das er mit einer Promotion 1969 abschloss, begann Voscherau seine politische Laufbahn 1970. Er wurde in die Bezirksversammlung Hamburg-Wandsbek gewählt, der er bis 1974 angehörte. Bereits 1981 gehörte er dem Landesvorstand der SPD in Hamburg an, der er 1966 beitrat. 1982 wurde er Fraktionsvorsitzender der SPD und behielt diese Funktion bis 1987, bevor er dann ein Jahr später zum Nachfolger von Klaus von Dohnanyi als Erster Bürgermeister Hamburgs gewählt wurde.
1997 trat Voscherau zurück, nachdem die von ihm gewünschte Koalition mit der Stadtpartei nicht zustande kam und stattdessen ein rot-grünes Bündnis geschlossen wurde, das er nicht guthieß. Er zog sich dann aus der aktiven Politik zurück, blieb aber bis 2001 Mitglied des SPD-Bundesvorstands. Henning Voscherau ist verheiratet und hat drei Kinder.
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"Ich bin kein Anhänger ich sage mal der Illusion, mit Bomben könne man für Menschenrechte eintreten."
Kindheitserinnerungen an Bombennächte – Reflexionen über Krieg und Frieden
Rainer Burchardt: Herr Voscherau, Sie sind Hamburger, Sie sind Hanseat, 1941 geboren, und überwiegend haben Sie in Hamburg gelebt. Eine Untersuchung hat kürzlich festgestellt: Die glücklichsten Menschen in Deutschland sind die Hamburger. Wie glücklich sind Sie?
Voscherau: Also Glück ist ja eine Definitionsfrage, aber es geht mir gut, es geht meiner Familie gut. Meine Frau und ich haben ein erstes Enkelkind und freuen uns jeden Tag darüber. Und unsere alten Freunde von vor 50 Jahren sind immer noch unsere Freunde. Wir sind altersgemäß vergleichsweise gesund und sportlich, wir sind stolz auf unsere Kinder. Was wollen Sie noch mehr? Also ich würde sagen, ich bin so ein bisschen unglücklich über den HSV.
Burchardt: Ja, das kann man verstehen, und das wird sich möglicherweise auch nicht mal ändern. Weniger glücklich ist ja Ihr Geburtsjahr gewesen und auch das, was dann folgte. Sie sind mitten im Krieg sozusagen geboren. Der Hamburger Feuersturm ist sicherlich vielen in Erinnerung, Ihnen nicht, aber gewiss Ihren Eltern. Was für ein Elternhaus hatten Sie?
Voscherau: Mir auch, muss ich zunächst sagen, denn meine ersten Kleinkindheitserinnerungen sind die Geräusche der Bombenangriffe von Alarm über das Anschwellen der Motorengeräusche dieser riesigen Bomberflotten bis zum dem Geräusch fallender Bomben und selten – wir waren in einem Vorort – auch explodierender Bomben bis zur Entwarnung.
Und da man ja Geräusche nicht erzählt bekommen kann, bin ich sicher, dass das originär eigene Erinnerungen sind, und die müssen dann ja wohl in der Zeit von 43 bis 45 entstanden sein.
Burchardt: Aber das hat nicht Ihr Leben maßgeblich beeinflusst, etwa im Faktor Angst, sich zurückziehen, in Deckung gehen?
Voscherau: Nein, aber es hat zum Beispiel etwas zu tun gehabt mit meinem heftigen Widerspruch gegen die deutsche Beteiligung an dem rechtswidrigen NATO-Angriff auf Jugoslawien.
Burchardt: Was haben Sie versucht, dagegen zu unternehmen?
Voscherau: Ich habe damals öffentlich und intern argumentiert, das sei ein völkerrechtswidriger Angriff, und nach den Kriterien des Tribunals von Nürnberg seien die Verursacher, wenn man einerlei Maß anwende und nicht zweierlei, strafbar.
Burchardt: Nun gibt es damals ja die Begründung oder gab es, wenn wir bei diesem Thema schon mal sind, von Fischer insbesondere, der gesagt hat, Auschwitz wäre möglicherweise zu vermeiden gewesen, wenn die Alliierten zuvor, wie jetzt damals dann in Bosnien die Westmächte, eingegriffen hätten.
Voscherau: Das kann man nicht ausschließen, aber es ist doch die Frage, ob der Satz "Durch Krieg wird alles immer noch schlimmer" am Ende nicht doch richtig ist. Wissen Sie, in der Zeit der Vernichtung der europäischen Juden in Auschwitz, da war schon Krieg. Der konnte nicht mehr schlimmer werden, der war schon. Das war bei dem Angriff auf Jugoslawien ja nicht der Fall, und irgendwie hat man auch nicht so richtig den Eindruck, dass Krieg in der Form des Bürgerkriegs in Nordafrika oder Syrien die Dinge leichter gemacht hat.
Also ich bin kein Anhänger ich sage mal der Illusion, mit Bomben könne man für Menschenrechte eintreten. Denn Bomben töten auch immer zahlreiche Unschuldige, die US-amerikanischen Streubomben in Jugoslawien haben unglaublich viele Kinder zerstückelt. Das ist mit nichts zu rechtfertigen. Und in Wahrheit ist die Abwägung zwischen 500.000 auf der Flucht befindlichen Menschen, die beschossen und drangsaliert werden, schrecklich natürlich, und sagen wir 17.000 Toten infolge der NATO-Angriffe auf Jugoslawien – das ist eine Abwägung, in der man nichts richtig, aber viel falsch machen kann. Das ist die Situation der griechischen Tragödie: Wie immer du dich entscheidest, entscheidest du dich falsch und machst dich schuldig.
Burchardt: Herr Voscherau, das bringt mich natürlich zwangsläufig zu der wenig statthaften Ja-Nein-Frage: Sind Sie Pazifist?
Voscherau: Nein.
Burchardt: Sie dürfen auch länger antworten.
Voscherau: Nein, nein, nein. Ich bin nicht Pazifist in dem strengen Sinne, dass man sich nicht einmal selbst verteidigen dürfe. Natürlich würde ich mich selbst verteidigen, meine Familie selbst verteidigen. Ich halte militärische Selbstverteidigung für in jeder Weise, auch moralisch, zulässig.
Also bin ich kein Pazifist. Ich bin aber ein sehr strikter Anhänger der Verrechtlichung des Rechts zum Kriege traditioneller Art, das ja etwa galt bis 1914, jus ad bellum, und glaube, dass es ein großer Fortschritt des 20. Jahrhunderts hätte sein können, die Ächtung des Angriffskrieges durch den Briand-Kellogg-Pakt, dem das Deutsche Reich in der Weimarer Republik ja beigetreten ist, das Emerging International Law infolge des Nürnberger Militärtribunals, das sich auf den Briand-Kellogg-Pakt berief und die UN-Charta mit dem Verbot des Angriffskriegs ohne Mandat des Weltsicherheitsrats, und wer diese ganz formalen Verbote durchbricht, mit noch so gut gemeinten inhaltlichen Argumenten – solche gibt es durchaus –, der muss aber wissen, dass die Aufweichung des Nein teuer bezahlt werden muss. Und das erleben wir jetzt schon jeden Monat.
Burchardt: Wir sind jetzt natürlich voll in der Aktualität, aber warum auch nicht. Was heißt denn das bezogen jetzt auf Syrien? Es gibt beispielsweise ein großes Dilemma, der Internationale Gerichtshof in Den Haag – Sie sind Jurist – sagt: Das soll uns nicht die UNO vor die Füße kippen, die UNO soll ein Mandat finden, und zwar mit Russland und mit China. Es gibt aber im Statut, dem Römerstatut des Internationalen Gerichtshofes, gibt es diesbezüglich kein direktes Verbot auf Präventivschläge.
Voscherau: Also derjenige, der Emerging International Law in Anspruch genommen hat für eine humanitäre Intervention, war Präsident Clinton. Dieser These haben, ich weiß nicht, ich glaube 117 UN-Mitgliedsstaaten scharf widersprochen. Dazu kann man nicht werdendes Völkerrecht sagen, zu so einem Konflikt. Und in der Sache Syrien müsste man ja, wenn man das mit internationalem Strafrecht, Völkerstrafrecht aburteilen wollte, sowohl die eine Bürgerkriegsseite mit einer regulären Armee als auch die andere Bürgerkriegsseite mit einer aufständischen Armee, naturgemäß viel weniger geordnet, die müsste man ja beide vor Gericht bringen, und die müssten ja beide gleichermaßen abgeurteilt werden, ohne dass man so genau weiß, wer nun auf der anderen Seite …
Burchardt: … jus post bellum.
Voscherau: Ja, also jedenfalls nach meiner Auffassung kann man zu Syrien nicht sagen, Arabischer Frühling und ein Aufstand der demokratischen, wohlmeinenden, westlichen, liberalen Bürgerrechtler gegen ein despotisches Regime – das ist ein knallharter Bürgerkriegsmachtkampf um Interessen. Und was man von dem einen wie von dem anderen hätte, kann man im Falle von Präsident Assad ja sehr genau beurteilen. Was aus den anderen werden würde, weiß man nicht. Und ich denke, der Westen müsste wohl auch eine Sekunde innehalten und darüber nachdenken, was eigentlich wäre, wenn da direkt nebenan von Israel ein Regime installiert würde analog Teheran, ob das eigentlich wirklich das kleinere Übel wäre.
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" Der Intendant hat die Aufgabe, den Redaktionsmitgliedern den Rücken freizuhalten."
Als Kind beim Radio, die Verlockungen der Schauspielerei und die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Burchardt: Der Name Voscherau wurde ja besonders prominent noch bevor Sie Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg wurden durch Walter Scherau, der eigentlich auch Voscherau heißt.
Voscherau: Mein Onkel.
Burchardt: Ist ein Onkel von Ihnen und noch mehr: Ich glaube, Ihr Vater hatte auch was mit der Schauspielerei zu tun.
Voscherau: Ja.
Burchardt: Haben Sie auch Gene, die in diese Richtung gehen?
Voscherau: In meiner Generation gab es drei Voscheraus, einen Sohn meines Onkels Walter Scherau und meinen Bruder Eggert und mich, und alle drei wollten phasenweise in ihrer Zeit als Teenager Schauspieler werden. Und ich war ja auch beim Nordwestdeutschen Rundfunk im Kinderfunk vor der Pubertät sehr aktiv, das hat das noch gefördert. Aber die beiden Alten und irgendwie auch unser Großvater haben immer gesagt: Das könnt ihr werden, aber erst lernt ihr was Anständiges. Dazu, zu dem Spruch habe ich, als ich dann in der Politik war, allerdings viel Sarkasmus gehört.
Burchardt: Walter Scherau, das war ja, wenn man das mal, wenn das erlaubt ist, so zu sagen, das war der berühmte Dicke beim Ohnsorg Theater, gemeinsam mit Heidi Kabel und Henry Vahl einer der Großen von damals. Hat es Sie zeitweise vielleicht mal gereut, dass Sie gesagt haben, Mensch, da hätte ich auch gerne mal mit auf der Bühne gestanden? Wäre doch auch möglich gewesen. Oder vielleicht noch andersherum gesagt: Helmut Schmidt hat mal im Zusammenhang von Politikern von Staatsschauspielern gesprochen.
Voscherau: Ja, ja, das habe ich oft gehört, wurde mir auch von Herrn von Beust immer wieder entgegengehalten.
Burchardt: Der hat doch nicht an Sie gedacht dabei, oder meinen Sie doch?
Voscherau: Schmidt nicht, aber Beust. Na gut, dem kann man nur entgegenhalten: Haben Sie was gegen die Bühne, haben Sie was gegen Schauspieler? Dann verstummt so was meistens.
Nein, ich habe es nicht bereut, sondern der Weg, den ich eingeschlagen habe, hat mich dann auch mitgenommen und getragen und hat mich ganz und gar ausgefüllt, und da bleibt für Reue eigentlich nichts übrig. Es gab aber einen Vorgang, bei dem ich sehr gerne auf die Bühne gegangen wäre, und zwar die Aufzeichnung des schönen Stücks "Der Bürgermeisterstuhl" im Ohnsorg Theater.
Da gibt es eine Szene, in der zwei Bühnenarbeiter dann irgendwann diesen Stuhl, ein schweres Monstrum damals, tatsächlich auf die Bühne tragen. Und ich habe immer gedacht, die werden dich doch jetzt anrufen als alten Freund des Hauses und werden sagen: Herr Bürgermeister, aber wenn das aufgezeichnet wird, dann müssen Sie einen der Bühnenarbeiter ersetzen und im Blaumann den Stuhl höchstselbst auf die Bühne tragen.
Burchardt: Wäre doch super gewesen.
Voscherau: Ja, aber angerufen habe ich selber nicht und auf die Idee gekommen ist das Ohnsorg auch nicht.
Burchardt: Da war der Hanseat bei Ihnen durchgekommen.
Voscherau: Das war natürlich sehr schade. Stellen Sie sich mal vor, als Konserve heute in allen Fernsehsendern, würde ja immer wieder mal laufen. Das habe ich nun leider verpasst.
Burchardt: Hätten Sie nicht möglicherweise aber auch Angst davor gehabt, dass man Sie sozusagen auf den Stuhl gesetzt hätte und Sie dann mitsamt des Stuhls aus dem Saal getragen?
Voscherau: Ja, nun gut, irgendwann habe ich ja meinen eigenen Stuhl aus dem Rathaus getragen. Also das hätte die Sache nicht getoppt. Und vor solchen Auftritten hatte ich nie Angst. Ich habe ja mal im Hamburger Kongresszentrum vor tausenden Menschen, in der ersten Reihe mein Kollege Johannes Rau, untergehakt mit Heidi Kabel, ich weiß nicht, zu ihrem 80. oder 85., gesungen im Duett, ohne Probe: "Ick heff mol en Hamburger Veermaster sehn", und Johannes Rau, seine Augen wurden immer größer, das war richtig komisch.
Burchardt: In diesem Zusammenhang sollten wir vielleicht unsere Hörer wissen lassen, dass wir hier in Hamburg beim NDR sind, und der NDR ist ja so etwas wie die Geburtsinstitution des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Voscherau: Der NWDR.
Burchardt: Ja, das habe ich Ihnen auch gerne als Steilpass gegeben, das war die alte Zeit, als es noch gemeinsam einen Nordwestdeutschen Rundfunk gegeben hat.
Voscherau: Ja.
Burchardt: Aber es war eben hier an diesem Orte, und Leute wie Hugh Carleton Greene, das war ja damals der Medienoffizier der britischen Besatzer – und Hamburg gehörte ja zur britischen Besatzungszone – hat im Grunde genommen ja nach dem Vorbild der BBC den Rundfunk aufgebaut.
Wenn Sie sich jetzt überlegen, das alles im öffentlich-rechtlichen Bereich sollte nach BBC-Muster geschehen, und wenn Sie jetzt sehen, wie die Parteien, wie die Politik – und da würde ich Sie auch gar nicht jetzt ausnehmen wollen, wenn auch nicht ad personam, aber immerhin sind Sie auch mit dabei –, wie die Politik die Öffentlich-Rechtlichen okkupiert haben in den letzten Jahrzehnten, wird einem da nicht ganz anders?
Voscherau: Ja, das ist sicherlich nicht im Sinne des Erfinders, aber Bundespräsident von Weizsäcker hat mal ein Gesprächsbuch mit zwei "Zeit"-Redakteuren darüber gemacht, dass die Parteien sich den Staat angeeignet hätten. Das geht ja dann noch weiter. Davon ist die Aneignung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ja nur ein Teil. Und zu diesem Teil würde ich allerdings sagen, dass diese Aneignung deutlich zurückgegangen ist.
Burchardt: Wodurch erkennen Sie das?
Voscherau: Na ja, es war offensichtlich so: Zum Beispiel hier in Hamburg hatte ja der damalige Oppositionsführer Jürgen Echternach im Verwaltungsrat und im Rundfunkrat des NDR eine sehr starke Riege versammelt und hat den Bogen so überspannt, dass das sich nicht weiter durchhalten ließ. Und ich würde mal sagen, dass zum Beispiel in der langen Amtszeit des Intendanten Jobst Plog – und daran hat sich jetzt heute nichts geändert – die Möglichkeit entstand, als ein starker, unerschrockener Intendant den Räten, wenn nötig, trotzen konnte. Und Plog als Diplomat war ja außerdem in der Lage, da auch richtig Überzeugungsarbeit zu leisten. Es gibt immer zwei.
Burchardt: Also Sie wollen sagen, es kommt auch darauf an, wie sehr man sich zur Wehr setzt?
Voscherau: Ja, und zwar mit klugen Mitteln und nicht mit der Keule, und der Intendant hat die Aufgabe, den Redaktionsmitgliedern den Rücken freizuhalten.
Burchardt: Es gab ja in den 80er-Jahren eine Phase, wo Ministerpräsidenten, zum Beispiel Herr Albrecht, Niedersachsen, Herr Stoltenberg, Schleswig-Holstein, immerhin ja das Sendemitglied des Norddeutschen Rundfunks, den Staatsvertrag gekündigt haben und einen anderen Sender wollten.
Voscherau: Richtig.
Burchardt: Letztendlich fiel das ja auch in die Zeit, als wir den Privatrundfunk eingeführt bekommen haben.
Voscherau: Das war etwas früher, und das war in der Amtszeit von Bürgermeister Klose, der diese außerordentliche Kündigung des NDR-Staatsvertrags vor den Verwaltungsgerichten bekämpft und gewonnen hat, und den NDR als Drei-Länder-Anstalt gerettet hat, sodass ich die Chance hatte nach dem Fall der Mauer, darauf hinzuwirken, dass mit Mecklenburg-Vorpommern ein weiteres Land hinzukommt und im Norddeutschen Rundfunk gewissermaßen die frühere Grenze überwunden wird und dass es heute eine Vier-Länder-Anstalt ist. Das war auch Jobst Plog, aber ich hatte damit auch zu tun.
Burchardt: Das gibt mir Anlass zu der Frage, und die schwebt natürlich immer irgendwo auch unausgesprochen im Raum, sowohl im politischen als auch im medienpolitischen Raum, nämlich die Frage der Konzentration, also der Fusionen, etwa von Ländern, von Bundesländern. Wir kriegen ja jetzt einen Bundesverfassungsgerichtsprozess wahrscheinlich, wegen Bayern, Baden-Württemberg, gegen den Länderfinanzausgleich, …
Voscherau: Ja, aber das ist ja schon der fünfte.
Burchardt: … weil, da geht es wieder um die Frage: Wer subventioniert wen, und haben wir nicht zu viele Bundesländer im Zweifel? Dahin wird es ja dann möglicherweise auch kommen. Und es gibt eben Leute, die auch sagen: Haben wir nicht im öffentlich-rechtlichen Bereich zu viele Landessender? Wie ist da Ihre Position?
Voscherau: Ach, ja, also Fusionen sind nur so lange nützlich, wie die Identifikation der Kunden mit dem fusionierten Konstrukt nicht leidet, also unterstellt man, würde Radio Bremen vereingemeinden, …
Burchardt: Beim NDR natürlich.
Voscherau: … ja, wobei: Die Bremer hätten vielleicht sogar eher ein Interesse daran, angedockt zu werden an den WDR, würde ich mal schätzen. Aber die Priorität Nummer eins Bremens ist natürlich, als vergleichsweise kleine Länderstadt, Zwei-Länder-Staat, ihre Selbstständigkeit zu verteidigen. Also die Identifikation ist erforderlich. Ist das nicht gegeben, führen Fusionen eher zur Schwächung. Und im Übrigen darf ich mal etwas sarkastisch sagen: Wenn es um Geld und Effizienz geht für … - Also was hat das Bundesverfassungsgericht jetzt gerade festgestellt? Bis zu 190 Milliarden Euro darf Deutschland haften für so schöne sonnige Gegenden wie den Peloponnes und Kreta und dann vielleicht auch Sizilien, ich weiß es nicht. Das sind ja Größenordnungen – wollen wir im Vergleich dazu wirklich wichtig nehmen, 17,50 Mark zu sparen durch eine Anstalts- oder Länderfusion? Ich weiß nicht.
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"Demokratie ist ja was Schönes, aber einer muss zu sagen haben."
Persönlichkeiten und Führungsstile, der Kampf um die Hamburger Hafenstraße und Gedanken zu Demokratiemodellen
Burchardt: Es steht eine Frage an, die auch noch in Ihre Jugendzeit fällt, nämlich die nach der politischen Sozialisation. Sie sind ja nicht als Sozialdemokrat geboren, will ich mal sagen.
Voscherau: Doch.
Burchardt: Doch?
Voscherau: Letztlich doch.
Burchardt: Dann doch? Das hatte familiäre Gründe, oder politische Gründe? Sie sind ja aufgewachsen zu Zeiten von Bürgermeistern wie Weichmann oder Nevermann, die sich ja auch gut gekannt haben, …
Voscherau: Brauer.
Burchardt: Brauer natürlich nicht zu vergessen. Waren das für Sie die politischen Vorbilder, wo Sie sagten: Da muss es langgehen?
Voscherau: Ja, aber wissen Sie, das fing eigentlich gar nicht im öffentlichen oder politischen Raum an, sondern eher zu Hause, schon als kleines Kind. Also mein Großvater, meine Großeltern, die beiden, die ich erlebt habe, die waren natürlich beide Sozis gewesen. Mein Großvater ist in die SPD eingetreten 1904 und geblieben bis zu seinem Tode. Mein Vater ist in die SPD eingetreten 1918. Die sind beide 33 von den Nazis wegen politischer Unzuverlässigkeit gefeuert worden. Meine Mutter bekam Arbeitsverbot.
Burchardt: Was für Funktionen waren das?
Voscherau: Ja, mein Großvater war Arbeiter im Hafen, auf dem sogenannten Staatszimmerplatz, was heute ein … dann wurde das Strom- und Hafenbau und jetzt neumodisch heißt "Hamburg Port Authority". Also der war Arbeiter im Hafen, wurde aber gefeuert, weil er aktiver Funktionär der SPD auf St. Pauli war, St. Pauli Nord. Mein Vater wurde gefeuert, weil er noch nach der sogenannten Machtergreifung in Berlin öffentlich in Hamburg auf Straßen sammelte für Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, was ja eine aktive bewaffnete Truppe war zur Verteidigung der Weimarer Republik und der Verfassung, und denunziert wurde.
Und meine Mutter kriegte nach der Sippenhafttheorie Arbeitsverbot. Die haben richtig, 33, 34, 35, beide gehungert, und die haben das nur durchgestanden, weil sie einen großen Freundeskreis hatten in der Kulturarbeit der Arbeiterbewegung, in den Volksheimen und in lauter Theatervereinen inklusive Richard Ohnsorg. Und dieser große Freundeskreis, die haben sie über Wasser gehalten, indem die sich eine Scheibe Brot pro Woche vom Munde abgespart haben und kollektiv gewissermaßen die Überwindung des Hungers meiner Eltern bewerkstelligt haben.
Meine Onkel mütterlicherseits – IG Metall plus SPD, mein Urgroßvater mütterlicherseits – Delegierter der Schiffszimmerer Reiherstieg, Wilhelmsburg 1875. Also ich bin nicht parteipolitisch indoktriniert worden von meinen Eltern, aber man hört zu, wenn die inhaltlich reden. Und meine Eltern haben sich unterhalten über die Zurückweisung der sogenannten Stalin-Note, also ein neutrales …
Burchardt: 52.
Voscherau: … also ein neutrales, wiedervereinigtes Deutschland 1952 durch Bundeskanzler Adenauer, und zwar postwendend. Und ich werde nie vergessen, dass meine Mutter dazu … oder dass ihr der Satz entfuhr über Adenauer: "Dieser rheinische, katholische Separatist!"
Und auch die Parteinahme der gesamten Familie 1949, da war ich acht, für Kurt Schumacher, und diese emotionale, ungläubige Enttäuschung über die eine Stimme Mehrheit für Konrad Adenauer, die Konservativen – das sind alles Dinge, die so einsickern.
Burchardt: Gab es nicht in Ihrer heranwachsenden Zeit oder in Ihrer Zeit als Heranwachsender auch Momente, wie sie ja in vielen Familien sind, dass die Kinder exakt eben auch aus der entwicklungsbedingten kritischen Haltung gegenüber den Eltern genau das Gegenteil oder zumindest irgendwas anders machen?
Ich will es mal konkretisieren: Während der 68er-Bewegung – Sie haben promoviert 1969 – waren Sie noch Student sozusagen oder auslaufender Student. Was hat die Studentenbewegung auch auf Sie welchen Einfluss gehabt und ob Sie vielleicht dann irgendwann nach ganz links abgedriftet wären oder vielleicht eher den Konservativen zugeneigt? Oder hat Sie das nicht interessiert damals?
Voscherau: Na ja, alle diese genannten Vorfahren, die sind ja immer bei der Mehrheit Sozialdemokratie geblieben. Die waren nicht bei der USPD und sie waren nicht bei der KPD, sind immer bei M geblieben, so wie ich auch, anders als Herr Lafontaine. Und das ist einfach die Balance zwischen Programmtreue und gesundem Menschenverstand, die Balance muss man haben, und die hatten meine Familienmitglieder auch alle. Im Übrigen ist es so: Mein Vater ist 1963 gestorben, da war ich Student. Wir waren plötzlich vergleichsweise arm und ich musste mich sputen und hatte weder Zeit für politische Avancen noch viel Lust oder Möglichkeit, mich mit meiner Mutter zu streiten. Gut, also war ich 66 fertig, habe von da ab an meiner Doktorarbeit gearbeitet, 67, als mein späterer Staatsrat Hinnerk Behlmer und Detlev Albers, später Vorsitzender SPD Bremen, dieses berühmte …
Burchardt: "Unter den Talaren", ja.
Voscherau: Ja. "Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren" ins Audimax trugen, war ich kein Student mehr, sondern Doktorand, und blickte von der ganzen Höhe meines Vorsprungs auf diese ungebärdigen jungen Leute.
Burchardt: Also Sie waren emotional schon weiter, für sich selbst.
Voscherau: Ja, ja, ja.
Burchardt: Das ist Ihnen aber nicht zum Nachteil gereicht.
Voscherau: Ja, bei den späteren bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen in der Hamburger SPD-Landesorganisation ist mir das sehr wohl zum Nachteil ausgeschlagen, weil ich dadurch ja sozusagen auf der falschen Seite der Barrikade stand aus der Sicht des …
Burchardt: Sie galten als ein rechter, harter Sozialdemokrat.
Voscherau: Ja, der Enkel von Schmidt statt Enkel von Willy Brandt. Und damals gab es den Satz – ich weiß nicht mehr von wem: 'Der Klassenfeind steht mitten in der Partei und heißt Henning.'
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Über die Krise um die Besetzung der Häuser an der Hamburger Hafenstraße und direkte Demokratie
Burchardt: Nicht nur komisch war ja eine Zeit, die dann auch zu überwinden war, dieser sogenannte Nevermann-Eklat, als die Queen zu Besuch kam, einer Ihrer Vorgänger, und Nevermann war gerade frisch in einer Scheidung, hatte wohl auch eine neue Lebensgefährtin, und durfte deshalb die Queen …
Voscherau: Er war noch nicht in einer Scheidung.
Burchardt: Das war doch Heuchelei pur, auch auf der politischen Ebene – oder wie haben Sie das empfunden?
Voscherau: Ach, das ist sehr schwer zu sagen, also als Kind infolge der geschilderten Geschichte meiner Familie kannte ich sowohl Max Brauer wie Paul Nevermann persönlich. Und Paul Nevermann war für mich ein wirklich ganz netter, verlässlicher, uneitler Bürgermeister, an den man sich auch mit seinen Sorgen wenden konnte. Meine Mutter hat das nach dem Tode unseres, meines Vaters auch getan und er hat auch geholfen. Und insofern waren wir not amused über diesen Abgang. Aber das war ja die öffentliche Folge einer Ehekrise, und zu der kann man wenig sagen. Ich vermute, dass ein bisschen kleinbürgerlich-moralischer Mief und eine gewisse politische Kritik an der Amtsausübung zusammenkam.
Burchardt: War das eine innerparteiliche Frontlinie?
Voscherau: Wissen Sie, Paul Nevermann hat das Amt ganz anders ausgeübt als Max Brauer. Max Brauer war eine Art Selbstherrscher, …
Burchardt: Ein Patriarch.
Voscherau: … handlungsstark, alleine entscheidend. Das ging zum Schluss auch nicht mehr. Und vielleicht war bei Nevermann sozusagen das Pendel in die andere Richtung etwas zu weit ausgeschlagen und es war vielleicht etwas zu viel laissez-faire, und die Alten, die waren auch alle eher auf eine klare Autorität programmiert, die fanden das vielleicht falsch. Also es gibt ja von Adolf Schönfelder, Polizeisenator bis 33 und Bürgerschaftspräsident, Zweiter Bürgermeister nach 45, diesen Satz: 'Demokratie ist ja was Schönes, aber einer muss zu sagen haben.'
Burchardt: Können Sie das vielleicht für unsere süddeutschen Hörer – wir sind ja ein Bundessender – vielleicht übersetzen?
Voscherau: Demokratie ist ja was Schönes, aber einer muss zu sagen haben. Das sah Adenauer ja genauso, nehme ich mal an, und Kohl übrigens auch, soweit mein Beobachtungsvermögen damals reichte.
Also natürlich brauchen Sie auch in einer Demokratie Strukturen, und das war vielleicht bei Nevermann etwas zu wenig. Im Rückblick kann man nur sagen: Es war kein Anlass, um zurückzutreten, es war kein Anlass, den Bürgermeister zu stürzen, und es hat – das war der Glückszufall – zu der großen Figur von Herbert Weichmann geführt.
Burchardt: Sie sind der Nachfolger Ihres Vorgängers von Dohnanyi. Dohnanyi hatte ein Riesenproblem unter anderem bei der Bewältigung der sogenannten Krise um die Besetzung der Häuser an der Hafenstraße.
Voscherau: Ja.
Burchardt: Das ging ja in Ihrer Amtszeit dann auch noch weiter. Wie haben Sie das hingekriegt?
Voscherau: Ach, wissen Sie, das war auch so ein Dilemma, in dem man es nicht richtig machen konnte, sowohl bei Klaus von Dohnanyi als auch dann hinterher bei mir, weil einerseits kann man einfach nicht dulden, wenn wildgewordene junge Männer Gehwegplatten, 50 mal 50, von Dächern auf Polizistenköpfe werfen, das kann man nicht hinnehmen, und die Verletzung des Rechtsbewusstseins von anderthalb Millionen Bürgerinnen und Bürgern kann niemand hinnehmen, und andererseits war klar, dass im Falle einer … der Vorbereitung einer gewaltsamen Räumung es zu einem europaweiten … zu einer Mobilmachung aller Autonomen von Dänemark bis Amsterdam kommen würde.
Wir hatten hier mal einen Vorgang mit 1500 schwarzvermummten – mit einem Seil abgesperrten, in einer Großdemonstration – Autonomen. Das ist Bürgerkrieg, da können Sie Angst kriegen. Und man musste davon ausgehen: Ein solcher Bürgerkrieg, 5000 Polizisten gegen 5000 Autonome, da gibt es Tote. Ja, was wollen Sie da machen?
Und also haben wir, erst er auf seine Weise, und ich dann nach Abschluss der sogenannten Friedensverträge auf meine Weise, versucht, auf Zeit zu spielen, die Option Räumung rechtsstaatlich aufzubereiten, aber nicht versessen darauf zu sein, diese Option dann wirklich zu ziehen. Und ich hatte dann einfach Glück - nach Jahren, dass die Schule, die da am Hafenrand in St. Pauli ist, aus allen Nähten platzte und ein unmittelbares Nachbargrundstück an der Hafenstraße für einen Erweiterungsbau, der da auch heute steht, haben wollte. Und damit konfrontiert habe ich dann öffentlich und relativ auf eigene Rechnung einen verkappten Vorschlag gemacht, und zwar habe ich gesagt: Wenn friedlich, dann wohnen, wenn nicht, dann nicht – bezogen auf eine unbehinderte, gewaltfreie Schulbaustelle.
Burchardt: Das war ja eigentlich ein genialer Schachzug, sowohl von der Politik, als auch von der rechtlichen Seite her gesehen. Wenn Sie jetzt, ich sage jetzt mal als Stichwort, Stuttgart 21 nehmen – was haben Sie da gedacht, als dann wirklich, ja, man muss ja schon sagen, auch die Politik das Ganze eskaliert hat?
Voscherau: Ja, nun, wissen Sie, seit der weise, alte, jüdische Bundeskanzler der Republik Österreich, Bruno Kreisky, ein großer Mann, sich einmal aus dem Dilemma um die Inbetriebnahme des fix und fertigen, milliardenteuren Kernkraftwerks in Zwentendorf in Österreich löste, indem er mit diesem Wiener Schmäh, den nur die Wiener können, sagte, ja, dann entscheidet es doch selbst, und die knappe Mehrheit der Österreicher sich gegen die Inbetriebnahme aussprach, da hatte er kein Dilemma mehr.
Das Geld war zwar weg, aber es wurde ihm nicht angehängt, und das Ding steht da heute noch und wird irgendwie anders genutzt. Das war mir eine Lehre. Ich bin ein Anhänger des repräsentativen demokratischen Parlamentarismus, aber je länger man davon weg ist, desto stärker teilt sich auch das einem mit: Die Grenzen der Legitimation, die ein Parlament verleihen kann, gegen große Bürgerprozentsätze – da reicht das Parlament nicht mehr aus. Und dann kann man schon als Schiedsrichter sagen: Dann entscheidet es doch selbst.
Burchardt: Wir haben ja jetzt gerade ausgerechnet hier in Hamburg ein Beispiel, wo eine sogenannte Bürgerbewegung, eine schulpolitische, wollte … gewissermaßen kassiert hat durch ein Referendum allerdings, muss man dazu sagen, mit der massenhaften Beteiligung von 37 Prozent. Da müsste Ihnen doch auch ein bisschen anders werden, wenn man das dann sieht. Kann ja auch bei anderen Themen so geschehen.
Voscherau: Ja, natürlich, also im Hinblick auf die Voraussetzung, die Modalitäten von Regelungen direkter Demokratie, bin ich noch zu meinen aktiven Zeiten und auch kurz danach noch mit Parteiämtern gelegentlich unterlegen mit einer etwas rigideren Haltung.
Zum Beispiel habe ich irgendwann gesagt: Wenn Volksgesetzgebung, dann müsste man eigentlich voraussetzen, dass die stattfindet mit einer Beteiligung, die der letzten Wahlbeteiligung entspricht. Ein Parlament, das mit 58 Prozent gewählt wird, kann sich nicht wirklich beschweren, wenn die Bürger mit 58 Prozent und der Mehrheit davon irgendein anderes Gesetz machen, und umgekehrt: Die Bürger, meinetwegen der Herr Brandt aus Moorburg, der ein Hamburger Vorkämpfer für solche Dinge war oder ist, können nicht wirklich bestreiten, dass das eine gewisse legitime Parallele ist. Warum eigentlich weniger als das Parlament brauchte? Und das hat die Hamburger SPD damals nicht machen mögen, und ja, nun ist es so.
Burchardt: Sollte denn, Beispiel Stuttgart 21, Beispiel Flughafen Schönefeld, Beispiel Elbphilharmonie, da sind wir dann ja vor den Toren, sollte da mehr Volksabstimmung stattfinden, wo die Politik sich ja offensichtlich – aus welchen Gründen auch immer, entweder aus Leichtsinn oder vielleicht auch aus Desinteresse – hat überfahren lassen? Da kommen plötzlich Kosten, Sie haben eben mal diesen Vergleich mit den 190 Milliarden, so viel ist es natürlich nicht, gebracht, aber da geht einem als Bürger doch der Hut hoch, wenn man das mal mitbekommt.
Voscherau: Ja, natürlich. Also trotzdem sind die Fälle natürlich sehr verschieden. In und um Berlin hätte man sehr wohl die verschiedenen Standorte durch das Volk von Berlin – und Brandenburg allerdings – entscheiden lassen können, und ich vermute, dabei wäre ein anderer Standort herausgekommen. Dass Verträge im Bausektor in der Regel nicht wirklich zu 100 Prozent halten, sondern es da irgendwelche Ausweitungen gibt, das kennt ja jeder.
Burchardt: Aber in Hamburg ist das schon ziemlich exotisch.
Voscherau: Ja, natürlich, es ist unannehmbar und ein himmelschreiender Skandal. Wer von 77 Millionen auf 500 Millionen kommt, der hat offenbar einen schlechten Vertrag geschlossen, und ich sage ungeschützt: Der Bauvertrag um die Elbphilharmonie wurde abgeschlossen in einem Zeitpunkt, als das Gebäude noch gar nicht endgültig durchgeplant war, also die Bauleistungen des Konzerns Hochtief nicht abschließend vertraglich definiert werden konnten, dann gab es außerdem noch Gott weiß wie viele nachträgliche Änderungen, weil noch Behörden oder sonst wer sich was Besseres einfallen ließen – ja, da muss man sich nicht wundern. Das ist kein Demokratieskandal, sondern ein Skandal inkompetenter politischer Führung und Kontrolle. Und das ist möglicherweise im Hinblick auf die Kostenüberschreitungen in Berlin beim Flughafen ähnlich. Darüber … an welcher Stelle wollen Sie da das Volk abstimmen lassen?
Burchardt: Auf der einen Seite der Sozialdemokrat, auf der anderen Seite hier in Hamburg der damalige CDU-Bürgermeister von Beust …
Voscherau: Ja, es hilft eben nichts, wissen Sie – als Großstadtbürgermeister: Man braucht den Fleiß, die Härte und die Präzision, sich um große Dinge selbst zu kümmern. Und da nützt nichts, zu präsidieren auf irgendeiner Wolke oder so, sondern da müssen Sie selber reingucken, sich vortragen lassen, das prüfen lassen und im Ernstfall sagen: Das reicht mir noch nicht, auf dieser Basis noch nicht. Und wer das nicht tut, der muss sich nicht wundern.
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Henning Voscherau und Helmut Schmidt – über freundschaftliche Beziehungen in der Politik
Burchardt: Wir müssen leider aus Zeitgründen zum Ende kommen, aber es gibt mir Anlass, noch auf ein Ereignis zu sprechen zu kommen, das auch sicherlich Sie Ihr Leben lang begleitet hat, das ist die persönliche und ich vermute auch die politische Freundschaft zur Familie Schmidt. Bei der Beerdigung, bei der Trauerfeier für Loki Schmidt haben Sie eine sehr anrührende Trauerrede gehalten. Loki Schmidt hatte Sie, wenn ich Ihre Rede richtig interpretiere, selbst darum gebeten, …
Voscherau: Ja.
Burchardt: … nach dem Motto, darf ich noch was bei dir bestellen? Die Frage ist, die ich daran knüpfen möchte: Wie weit gehen politische und persönliche Freundschaften zusammen?
Voscherau: Kann man nicht über einen Leisten schlagen. Also je jünger man ist, desto leichter geht man dauerhafte Freundschaften ein. Und so wie ich als Kind infolge meiner Familie schon Max Brauer traf und Paul Nevermann, so weiß ich wie heute, dass wie heute: Meine erste entfernte Begegnung mit dem Ehepaar Schmidt fand statt im Thalia Theater, die Lichter waren gerade verloschen – da bin ich oft gewesen mit meiner Mutter in Premieren natürlich, also viele, viele Jahre –, und dann öffnete sich vorne die erste Tür rechts zur Garderobe noch mal, es fiel ein Lichtschein hinein und es erschienen Helmut und Loki Schmidt, er damals noch kohlpechrabenschwarz mit diesem Linealscheitel.
Burchardt: Sie meinen das Haar, nicht seine politische Einstellung.
Voscherau: Nein, nein, an seinem Kopf natürlich. Und meine Mutter sagte zu mir, wer das sei, und es fiel das Wort "Hoffnungsträger".
Burchardt: War das vor 62, vor der Sturmflut?
Voscherau: Ja, ja, er war Bundestagsabgeordneter …
Burchardt: … denn er galt ja als der große Dirigent der Hamburger Sturmflut.
Voscherau: Das war in den 50ern. Er wurde glaube ich gewählt 53 in den Bundestag, also wird wahrscheinlich gewesen sein zwischen 53 und 57, in der Zeit. Da sozusagen erschienen diese beiden in meinem Leben, und 53 war ich 12 oder 13, 57 war ich 15 oder 16, je nachdem, wann das war, und da hat sich so mit den Jahren eine Vertrautheit eingestellt.
Später dann, in der zweiten Hälfte der 60er, war er mit seinem Wahlkreis auch in meinem Unterbezirk Wandsbek zum Teil vertreten, und ich musste Wahlkundgebungen mit ihm machen und die auch leiten, blickte natürlich zu ihm auf, wie viele. Loki war der ausgleichende, segenspendende, herzliche, natürliche Faktor. Und schon damals haben wir nach großen Kundgebungen – die Kundgebungen von Helmut Schmidt waren ja einfach unfassbar, unvergesslich –, haben wir da in irgendeiner Kneipe gesessen und ein Bier miteinander getrunken. So ist das langsam gewachsen.
Ich vermute nicht, dass er mich damals besonders auf der Reihe hatte, weil natürlich er ja deutschlandweit solche Kundgebungen hatte, und überall kam irgendwo ein junger Genosse und war der Wahlkampf- oder Veranstaltungsleiter. Also die kann man ja nicht alle behalten. In meinem Fall wird er vermutlich anhand des Nachnamens was identifiziert haben.
Burchardt: Würden Sie ihn als Freund bezeichnen?
Voscherau: Ja, würde ich heute ja, soweit man sagen kann, ein 93-Jähriger und ein 71-Jähriger, also in dem Vater-und-Sohn-Abstand, können auf Augenhöhe befreundet sein. Auf Augenhöhe würde ich bis heute nicht sagen, sondern ich blicke immer noch etwas zu ihm auf.
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