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"Als Schriftstellerin ist man kein Popstar"

In ihren beiden ersten Kinderbüchern geht es um den Tod, und auch das dritte, noch ungeschriebene Werk von Sally Nicholls wird sich mit dem Tod beschäftigen, verrät die Autorin. Denn sie liebt die großen Themen und ist davon überzeugt, dass es Kindern genauso geht.

Mit Tanya Lieske |
    Tanya Lieske: Sally Nicholls, Sie waren 25, als Ihr erster Roman erschien. "Wie man unsterblich wird" wurde gleich in 16 Sprachen übersetzt und Ihr Name war in aller Munde. Wie sind Sie damit zurechtgekommen?

    Sally Nicholls: Ich hatte Zeit mit an die Vorstellungen zu gewöhnen, es dauerte ja ein Bisschen, bis das Buch wirklich auf dem Markt war. Außerdem ist der ganze Rummel sehr weit weg von meinem Alltagsleben, ich lebe in einer kleinen WG in London und fühle mich noch als Studentin. Ich führe mein normales Leben weiter, nur passieren manchmal schöne Dinge, ich gewinne einen Preis oder jemand schreibt einen Artikel über mich in einer großen Zeitung, und das ist dann für den Moment sehr schön und aufregend, aber dann ist alles wie immer, ich sitze wieder hinter meinem Computer und bestelle Pizza.

    Lieske: Ihr normales Leben erdet Sie?

    Nicholls: Ja, als Schriftstellerin ist man kein Popstar. Man sitzt wirklich viele Stunden allein hinter einem Computer. Wenn man ein glamouröses Leben führen will, wird man besser nicht Schriftstellerin!

    Lieske: Sie wurden 1983 in Stockton on Tees geboren, haben Philosophie und Literatur studiert, dann einen Kurs Kreatives Schreiben für Jugendliteratur belegt - hatten Sie immer schon den Wunsch, Schriftstellerin zu werden?

    Nicholls: Auf jeden Fall, ich habe Geschichten geschrieben und erzählt, seit ich vier Jahre alt bin. Ich wollte Schriftstellerin werden, bevor ich überhaupt wusste, was das bedeutet.

    Lieske: Zwei Bücher liegen von Ihnen vor: "Zeit der Geheimnisse" und "Wie man unsterblich wird", beide übersetzt von Birgit Kollmann. In beiden sind Ihre Hauptfiguren zwischen zehn und zwölf Jahren alt, warum interessiert Sie diese Altersgruppe besonders?

    Nicholls: Ich habe starke Erinnerungen an diese Zeit. Ich erinnere mich, dass ich so alt war wie Molly, die Hauptfigur aus meinem neuen Roman, und dass ich wollte, dass die Welt so funktioniert, wie ich es in dem Buch beschreibe: Molly glaubt, dass alles möglich ist, wenn sie sich nur genug anstrengt. Ich erinnere mich auch, wie ich gespielt habe und an die Bücher, die ich damals gelesen habe, die begleiten mich bis heute. Viele Dinge, die mich heute begeistern, gehen auf diese Zeit und meine Lektüre damals zurück. Es ist außerdem auch praktisch, für diese Altersgruppe zu schreiben, denn die Bücher sind kurz, man kann einen realistischen Roman schreiben oder Fantasy oder einen historischen Roman, und alle stehen nebeneinander im Regal und werden hoffentlich von den gleichen Kindern gelesen, und keiner findet das merkwürdig. Als Autorin für Erwachsene ist man viel festgelegter. Kinder haben da keine Berührungsängste, und das ist für mich als Autorin sehr beglückend.

    Lieske: Sam aus "Wie man unsterblich wird" ist elf Jahre alt. Er weiß, dass er an Leukämie sterben muss und er wird auch sterben. Auch in Ihrem neuen Buch "Zeit der Geheimnisse" spielt der Tod eine Rolle. Was hat es auf sich mit Ihnen und dem Thema des Todes?

    Nicholls: Ich liebe die ganz großen Fragen und große Emotionen. Ich würde nicht so gerne über den Verlust einer Katze schreiben, oder wie ich mich in den Jungen aus meiner Klasse verliebe. Ich brauche die großen Fragen und ich glaube, die Kinder brauchen sie auch. Ich gebe auch Unterricht im Kreativen Schreiben für Kinder, und meistens kommen sie selbst mit diesen Themen an, dann schreiben sie, wie die Mafia ihre ganze Familie umgebracht hat und jetzt sind sie ein Waisenkind und jemand ist ihnen mit einer Kanone auf den Fersen. Kinder lieben die großen Geschichten und die großen Emotionen.

    Lieske: Molly ist zehn Jahre alt, lebt mit ihren Großeltern auf dem Land, denn die Mutter ist gestorben. Vor allem der Vater hat Schwierigkeiten, mit der neuen Situation fertig zu werden. Bevor wir weiterreden, möchte hören wir eine Passage aus Ihrem neuen Buch "Zeit der Geheimnisse". Molly und Hannah kehren an einem Wochenende zurück in ihr Elternhaus, sie finden dieses Haus verschmutzt vor und verwaist, denn der Vater führt dort eine Art Junggesellenleben. Diese Verfremdung einer vertrauten Umgebung ist für Kinder sehr verstörend.

    Nicholls: Zeit der Geheimnisse, S. 100-101



    "Dad. Können wir Monopoly spielen?"
    Hannah richtet sich auf.
    "Au ja!", sagt sie. "Können wir? Kann ich die Bank sein? Krieg ich den Hund?"
    "Nein", sagt Dad, ohne einen Blick vom Fernseher zu wenden.
    Dabei mag er die Simpsons nicht mal.
    "Oh Mann!", stöhnt Hannah. "Wieso denn nicht?"
    "Weil die Pizza jeden Moment hier ist."
    "Können wir Karten spielen?", frage ich.
    "Nein."
    "Nach dem Essen?"
    "Nein."
    Ich bohre meine Finger in das Loch im Polster. Ich weiß, was ich jetzt sage, ist verkehrt, aber alles ist verkehrt.
    "Mum hätte mit uns gespielt."
    Hannah schnappt nach Luft. Dad sitzt regungslos da. Er starrt immer weiter auf den Fernseher, so als hätte er mich nicht gehört.
    "Mum hätte mit uns Monopoly gespielt. Und sie hätte uns richtiges Abendessen gemacht. Du hast ja nicht mal was zum Frühstück im Haus! Mum hätte nicht einfach dagesessen."
    "Eure Mum ist tot", sagt Dad.
    "Ich weiß, dass sie tot ist. Meinst du, ich weiß das nicht? Aber sie wäre wenigstens nett zu uns gewesen! Sie hätte uns wenigstens angeguckt! Sie hätte nicht einfach so dagesessen!" Jetzt weine ich, dicke Tränen mit tiefen Schluchzern. "Ich wünschte, du wärst gestorben", sage ich. "Und Mum wäre noch am Leben. Mum hätte uns nicht verlassen."
    Dad steht auf, so plötzlich, dass ich glaube, jetzt schlägt er mich, mein wunderbarer Dad schlägt mich gleich.
    "Das ist alles so lächerlich", sagt er.
    Ich halte inne, mitten im Schluchzen.
    "Ich weiß nicht, wie eure Grandma sich das denkt. Ich weiß nicht, wie ihr euch das denkt. Bildet euch ein, ihr könnt einfach so zurückkommen und hier wohnen."



    Lieske: Dieses Buch und auch das Vorhergehende sind aus der Sicht des Kindes mit der Stimme des Kindes erzählt. Warum diese Ich-Perspektive?

    Nicholls: In meinem ersten Buch "Wie man unsterblich wird" funktionierte die Erzählung in der ersten Person hervorragend. Ich hatte es erst in der dritten Person versucht, aber es war zu traurig, vor allem, weil die Erwachsenen mit der Wahrheit hinter dem Berg halten und nicht zugeben wollen, dass ihr Kind stirbt. Ihr Schweigen hat alles verdeckt und die Erzählung überschattet. Als ich es dann mit Sams Stimme erzählte, hat sich die Stimmung sofort aufgehellt. Sam weiß natürlich, dass er sterben wird, aber im Alltag interessiert er sich viel mehr dafür, Horrorfilme anzuschauen und Mädchen zu küssen. Es wird alles viel leichter aus seiner Sicht, weil ich mich nicht als Erwachsene darüber stülpe und sage: Sam wird sterben! Er ist elf, er sagt, wie es ist, und er kann auch sagen, dass er sich über die Erwachsenen aufregt. Das macht alles viel leichter. In "Zeit der Geheimnisse" liegen die Dinge ganz ähnlich, ich brauchte Mollys Stimme, sonst war die ganze Sache nicht lebendig. Wenn ich aus ihrer Sicht erzähle, gibt es da diese Grauzone, man weiß nie ganz genau, wie viel sie sich einbildet, und wo sie die Wahrheit sagt, und das klappt in der ersten Person einfach viel besser.

    Lieske: In der Passage, die wir eben gehört haben, führen Sie Molly eigentlich an den Rand des Erträglichen. Sie trauen und muten Ihren jungen Lesern viel zu. Wie sind die Reaktionen auf Ihr Buch?

    Nicholls: Kinder reagieren in der Regel sehr positiv, aber sie würden auch nicht sagen, ich finde dein Buch langweilig! Der Abschnitt, den ich eben gelesen habe, macht vor allem Erwachsene traurig, ich habe mit Lesern gesprochen, die beim ersten Buch nicht geweint haben, aber diese Szene mit dem Vater, der ganz verschlossen ist, hat sie wirklich berührt. Mich hat das überrascht, denn es ist doch ein Grundgefühl der Kindheit, dass man von einem Elternteil nicht verstanden wird oder nicht die Unterstützung bekommt, die man sich wünscht. Das passiert sogar in den ganz intakten Familien, man fragt sich, lieben die Eltern mein Geschwister mehr als mich, denn ich muss ins Sommerferienlager oder es wird ein Baby geboren, heißt das, sie wollen mich nicht mehr? Kinder sind da sehr verwundbar, aber ich denke, sie verstehen es auch, wenn ein Vater, der sie sehr liebt, ihnen jetzt nicht die Unterstützung geben kann, die sie eigentlich brauchen.

    Lieske: Ich finde, Sie haben noch einen unglaublich offenen Zugang zur Welt des Kindes. Hängt das mit Ihrem Alter zusammen oder damit, wie Sally Nicholls ist?

    Nicholls: Vielleicht ein wenig von beidem. Ich habe einen Vortrag von einer Bilderbuchautorin gehört, die gesagt hat, dass sie sich gut daran erinnert, wie die Welt sich anfühlt, wenn man drei oder vier Jahre alt ist. Und ich habe gedacht, genau deswegen kann ich keine Bilderbücher malen und schreiben! Ich habe nur noch verschwommene Erinnerungen an diese Zeit und keinen frischen Zugang. Aber ich weiß ganz genau, wie kompliziert die Welt ist, wenn man 9 oder 10 oder 11 ist, denn die Welt wird von anderen Menschen kontrolliert, aber man selbst hat ganz genaue Vorstellungen davon, wie es zugehen sollte in der Welt. Wenn eine Geburtstagsfeier kommt, dann soll sie ganz perfekt sein, und wenn man nicht genau das richtige, passende rote Kleid findet, kann das ein großes Unglück sein. ... Mich haben diese starken Emotionen bei Kindern immer sehr beeindruckt, vor allem, wenn es um etwas geht, was für Erwachsene ganz trivial ist, es ist doch nur irgendein Kleid! Und diese Dringlichkeit wollte ich in meinen Büchern vermitteln, wie kompliziert die Gefühlswelt von Kindern sein kann. Ella, die Schwester von Sam in "Wie man unsterblich wird" hat auch so komplexe Emotionen, sie ist eifersüchtig und wütend und manchmal wünscht sie sogar, er wäre schon tot, denn er bringt ihr Leben durcheinander, aber sie liebt ihn auch und will, dass er gesund wird, und sie hat Schuldgefühle. Die Gefühle sind so stark wie bei Erwachsenen, und das soll in meinen Büchern deutlich werden.


    Lieske: Molly in der ganzen Komplexität ihrer Gefühle bleibt ja nicht ohne Trost, es gibt den Eichenkönig und den Stechpalmenkönig, was hat es auf sich mit diesen beiden Figuren?

    Nicholls: Zuerst habe ich den Mythos vom Eichenkönig gehört, und dann, als ich anfing zu recherchieren, kam der Stechpalmenkönig dazu. Und was mich an beiden Figuren interessiert hat, ist die Tatsache, dass sie so beschädigt sind. Ich liebe beschädigte Figuren in der Literatur. Der Eichenkönig hat so viel Macht! Allein dadurch, dass er existiert, verändert er die Welt. Aber er ist auch verwundbar, denn jedes Jahr muss er den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt durchlaufen. Das ist in vielen Mythen ein sehr starkes Thema. Ich schreibe in meinem Buch ja auch über Demeter und Persephone, und in der üblichen Auslegung konzentriert man sich auf Persephone, aber eigentlich ist es der Kummer der Mutter Demeter, der bewirkt, dass sich die Welt zusammenzieht und stirbt. Und auch in der Sage vom Heiligen Gral gibt es eine Figur, die an den Beinen verwundet wird wie mein Eichenkönig, und wenn er verwundet ist, stirbt die Welt. Mich hat diese Beschädigung interessiert, ein Gott, der nicht intakt ist, sondern gebrochen. Das Grundthema meines Buches ist ja die Gebrochenheit von Menschen, der Vater, Molly und Hannah entwickeln unterschiedliche Strategien, um damit zurechtzukommen.

    Lieske: Der Eichenkönig bringt den Frühling, der Stechpalmenkönig den Winter, Sie sagten es schon, es sind beschädigte Figuren, sie riechen auch und sind unheimlich. Sie brechen mit der Konvention des imaginären Gefährten in der Kinderliteratur, denn diese Gefährten sind nicht nur angenehm, sondern auch bedrohlich, kam es Ihnen darauf an, das Niedliche auf jeden Fall zu vermeiden?

    Nicholls: Ich bin nicht gut im Niedlichsein. Es ist ein Buch, das genau hinschaut, es gibt da das Blut des Eichenkönigs und auch den Mythos von der Wilden Jagd und die starken Emotionen der Kinder. Es war gar nicht so schwierig, das Niedliche zu vermieden, sondern eher, die Gefühle im Zaum zu halten. Sam aus "Wie man unsterblich wird" war ja ein sehr praktischer Typ, er nimmt die Dinge, wie sie sind, und wird damit fertig. Aber Molly ist sehr emotional, und in meiner ersten Fassung war sie ständig am Jammern, denn ihre Mutter ist gestorben und sie will nicht bei den Großeltern sein. Ich musste da viel stutzen, denn die Geschichte war zu traurig und hätte nicht funktioniert.

    Lieske: Ich würde uns diese beiden Figuren gerne noch mal vor Augen führen, den Stechpalmenkönig und den Eichenkönig, jeweils zur Sonnenwende macht der eine auf den anderen Jagd, es liest die Autorin Sally Nicholls:

    Nicholls: Zeit der Geheimnisse, S. 19/20

    Er ist nicht der Jäger. Er ist der andere. Der Mann, hinter dem sie her waren.
    Plötzlich muss ich weinen, ich schluchze abgehackt, schaudere.
    Der Gejagte lehnt sich zurück und beobachtet mich. Trotz der Dunkelheit sehe ich, dass er sehr jung ist, dass sein Gesicht nass ist von Schweiß und Regen, dass seine Haare sich locken.
    "Na siehst du", sagt er mit seiner tiefen Stimme. "Niemand ist verletzt. Niemand tut dir etwas."
    "Aber du bist verletzt", sage ich.
    Das stimmt. Seine Beine sind zerfleischt von den Wolfshunden. Dunkles Blut quillt aus den Wunden, rinnt über den zerfetzten Stoff seiner Hose. Regen und Stoff und Blut.
    Wieder spüre ich Schluchzer in meiner Kehle aufsteigen und sehe schnell weg.
    "Niemand ist verletzt", sagt er. Dann sieht er mich an. "Hast du es weit bis nach Hause?" Ich schüttele den Kopf, und er sagt:
    "Geh nach Hause. Du solltest so spät nicht mehr draußen sein. Hat deine Mutter dir das nicht beigebracht?"
    "Meine Mutter ist tot", sage ich und fange gleich wieder an zu weinen.
    Ich höre ein Geräusch von der Straße, ein Rascheln im Gebüsch, und werde ganz starr vor Schreck. Ich spanne den Bauch fest an, damit die Tränen unten bleiben. Der Mann packt mich am Arm und reckt die Nase in die Luft, wie ein Tier, das Gefahr wittert.
    Wieder raschelt es im Gebüsch, und ein Vogel steigt auf; eine krähe, denke ich, während der Vogel wild mit den Flügeln schlägt. Gleich darauf ist er verschwunden. Der Mann lockert seinen Griff, und während ich hickse, wird mir auf einmal klar, wie dumm ich aussehen muss, lehmbeschmiert und das Gesicht voller Rotz und Tränen. Der Gejagte beugt sich vor. "Geh nach Hause", sagt er wieder, jetzt schon drängender. "Oder soll die Wilde Jagd dich finden?" Vor lauter Angst antworte ich nicht.
    Er packt mich am Arm. "Sei vorsichtig, pass gut auf. Aber geh jetzt."
    Außer uns beiden ist niemand in der Dunkelheit, niemand auf der ganzen Welt. Ich will ihn nicht verlassen, aber bleiben will ich auch nicht. Ich komme mühsam auf die Füße und stolpere die Straße hinunter, nach Hause.


    Lieske: Ein sehr starkes, ein vorchristliches Bild: Wenn der Eichenkönig stirbt, wird es Winter, eine Zeit der Trauer, eine Zeit des Todes. Die fällt ihn Ihrem Buch überein mit der Zeit der Trauer der Familie. Wenn der Eichenkönig wieder erwacht, hat in der Familie eine Heilung stattgefunden. Das sind fast schon therapeutische Bilder. Wie ist Ihr eigener Bezug zum Leben und zum Sterben?

    Nicholls: Ich weiß nicht, was mit uns geschieht, wenn wir sterben. Und ich weiß auch nicht, ob wir es wissen müssen. Manchmal reichen ja auch die Fragen aus, man muss nicht alle Antworten kennen. Der Tod sollte uns keine Angst machen, aber die Trauer ist wirklich schrecklich. Ich sage den Kindern immer, sie ist wie der Winter, die Trauer verschwindet, aber sie geht nie ganz. Es gibt einen Satz, den die Quäker benutzen: Man soll in seiner persönlichen Ganzheit die eigene Gebrochenheit akzeptieren. Man muss, um sich ganz zu fühlen, nicht auch ganz sein, es genügt, die eigenen Brüche zu akzeptieren. Und das gilt auch für den Tod und das Leben. Wenn man die eigene Sterblichkeit nicht akzeptiert, dann kann man auch nicht ganz sein. Ich behaupte jetzt nicht, dass das leicht umzusetzen ist, ich bin da keine Expertin! Diese Akzeptanz ist aber sehr wichtig, vor allem in einer Kultur, in der Erwachsene es sehr schwierig finden, mit Kindern über den Tod zu sprechen. Ich habe Eltern kennengelernt, die ihren Kindern sagen: Du wirst nicht sterben! Nur alte Leute und Tiere sterben! Einfach weil sie zu viel Angst davor haben, dass ihre Kinder sterben könnten, oder sie haben Angst vor dem Gespräch über den Tod. Das ist aber eine schreckliche Botschaft für Kinder: Dass man über den Tod nicht nachdenken soll, sondern ihn verdrängen soll. Ich finde, das Leben muss den Tod akzeptieren.

    Lieske: Ich habe mich bei der Lektüre gefragt, ob Sie Märchen lieben, und welches wohl Ihr liebstes Märchen ist?

    Nicholls: Eines meiner liebsten Märchen sind: Die zertanzten Schuhe. Da gibt es zwölf Prinzessinnen, und immer wenn sie aufwachsen, findet ihr Vater, dass die Schuhe durchgetanzt sind. Und tagsüber sind sie so müde und können kaum noch arbeiten und schlafen ständig ein. Und dann bestellt er einen Prinzen, der rausfinden soll, was los ist. Und jede Nacht öffnen sie ein Falltür in ihrem Schrank und steigen in ein Boot und fahren in ein Land, wo sie die ganze Nacht durchtanzen! Darüber würde ich gerne schreiben!

    Lieske: Sally Nicholls, Sie schreiben für Kinder in dieser magischen Spanne zwischen zehn und zwölf, noch nicht für Jugendliche, wird sich das ändern?

    Nicholls: In England sieht man "Wie man unsterblich wird" als ein Buch für Teenager an, und in Spanien sogar als ein Buch für Erwachsene! Also habe ich in gewisser Weise schon für ältere Leser geschrieben. Ich würde gerne auch mal ganz gezielt für Teenager schreiben, denn man kann sie anders ansprechen als Kinder. Aber ich bin noch nicht so weit, im Augenblick möchte ich bei den Zehn- bis Zwölfjährigen bleiben. Meine Bücher scheinen ohnehin verschiedene Altersgruppen anzusprechen.

    Lieske: Verraten Sie uns, ob sie schon an einem dritten Buch schreiben?

    Nicholls: Ja, auch in meinem dritten Buch geht es wieder um den Tod. Das steht sogar in dem Vertrag mit meinem englischen Verlag Scholastic: Ich muss noch ein drittes Buch darüber schreiben, wie junge Leute mit dem Tod fertig werden. Diesmal geht es aber ins Mittelalter und zum Schwarzen Tod. Als ich selbst ein Teenager war, haben mich Weltuntergangsszenarien besonders interessiert. Genau so wurde damals die Pest gesehen, sie war das Ende der Welt. Und mich interessiert es sehr, wie sich die Menschen verhalten, wenn diese Annahme im Raum steht, dass die Welt untergeht. Das war übrigens ganz anders, als es in Filmen und Büchern dargestellt wird, da kämpfen die Menschen um ihre Nahrung und das Überleben. Aber im Mittelalter gab es großen Überfluss, denn die Hälfte der Menschheit war gestorben. Der Schwarze Tod war furchtbar, aber für alle, die ihn überlebten, zum Beispiel für die Bauern, war das Leben danach viel besser, es gab mehr Freiheit, ihre Arbeitskraft wurde plötzlich geschätzt, denn zum ersten Mal gab es weniger Arbeitskräfte als Arbeit. Mein Verlag will sogar, dass ich das mit dem Thema der Erderwärmung verbinde, denn unerwartete Dinge können sehr gesetzte Gesellschaften aufrütteln. Oft, wenn man etwas ganz Schreckliches erlebt, kommt man raus und findet sich in einer besseren Welt, genau so, wie es Molly ergeht in "Zeit der Geheimnisse". Man ist nicht zerstört, und es kommt ein besseres Leben, eine neue Gesellschaft mit mehr Hoffnung.