Die Fußgängerzone einer Kleinstadt im Süden Mailands an einem Wochentag. Es ist zehn Uhr morgens und die Straßencafés sind voller Kinderwagen. Neugierige Ein- bis Zweijährige knabbern an Keksen, während ihre Großmütter einen Cappuccino trinken - die Omas! Denn die betreuen in Italien oft genug die Enkel, während die Eltern arbeiten. Zwei ergraute Endsechzigerinnen lächeln verschmitzt.
"Damen wie wir sind heutzutage doch Vollzeit-Enkelbetreuerinnen. Das macht den Tag ganz schön turbulent. Meine Tochter bringt mir ihren Sohn um acht Uhr morgens, mein Sohn zieht seine Tochter nicht mal an, das mache ich und behalte sie bei mir bis Mama von der Arbeit kommt. Das schöne ist, ich habe fünf Enkelkinder zu hüten."
Ein Vollzeitjob. Und das im Rentenalter. Straffe Tagesplanung statt Schlendrian. Die italienischen Großmütter gleichen aus, was der Staat nicht leistet. Doch die wenigsten Seniorinnen beschweren sich. Sie gehen in ihrer Rolle auf, einer Rolle, die für die italienische Gesellschaft selbstverständlich und für die Wirtschaft inzwischen unverzichtbar ist. Ohne die Betreuungshilfe der Eltern sind Familie und Beruf für die meisten Frauen in Italien schlicht nicht zu vereinbaren. Kinderkrippen sind rar und teuer. Francesca Del Moro gab ihren Arbeitsplatz auf, weil ihre Mutter schwer erkrankt war und sie sich deshalb nicht mehr um die Enkel kümmern konnte.
"Wir Frauen sind fast schon gezwungen, der Familie zuliebe zuhause zu bleiben. Es ist schwierig eine Teilzeitstelle zu finden oder Arbeitgeber, die uns Müttern flexible Arbeitszeiten anbieten. Für das Hausfrauendasein kann man sich nur selten freiwillig entscheiden."
Junge Generation wird von der alten großgezogen
Italiens junge Generation wird von der alten großgezogen, weil die Mütter neben Erwerbsarbeit und Hausarbeit kaum dazu kommen. Die Mailänder Wirtschaftswissenschaftlerin Paola Profeta schlägt deshalb Alarm:
"Berufstätige Frauen arbeiten pro Tag im Durchschnitt 80 Minuten länger als Männer, weil sie doppelte Arbeit leisten müssen. Die italienischen Männer beteiligen sich kaum an der Hausarbeit."
Väter, die den Kindern zuliebe gar für eine gewisse Zeit zuhause bleiben, sind seltene Ausnahmen. Auch der Staat schafft dafür keinerlei Anreize, Elternzeit ist in Italien unbekannt. Ohne die tatkräftige Unterstützung der Großeltern würde so manche junge Familie an den alltäglichen Belastungen scheitern. Für die Enkelkinder sind Oma und Opa daher von Geburt an wichtige Bezugspersonen. Und sie bleiben es manchmal noch sehr lange: Leonardo Papini ist 32 Jahre alt, Marketingdirektor und Teilhaber eines Onlineshops für italienische Feinkost. Mit seiner Großmutter spricht er täglich.
"Ich bitte sie, das ein oder andere Produkt zu testen und mir ehrlich ihre Meinung zu sagen, und ihr Feedback ist sehr wichtig für uns."
Die Großmutter ist fester Bestandteil des Teams
Die 80-jährige Anna Mancelli tritt als "Nonna Anna" regelmäßig in den Marketingkampagnen von "ByItaly" auf. Sie ist für die Qualitätskontrolle des jungen E-Commerce-Unternehmens zuständig und hat auch schon Produkte abgelehnt, die ihr Enkel ins Sortiment aufnehmen wollte. Leonardo Papini nimmt ihr das nicht übel – im Gegenteil. Er wusste genau, wen er sich ins Boot holt, als er seine Großmutter bat, im Unternehmen mit anzupacken.
"Ich erinnere mich noch genau: Wir saßen zusammen beim Mittagessen, ich hatte gerade eine Konferenz mit meinen Unternehmenspartnern hinter mir, wo es um die Frage ging, wie wir für unseren Onlineshop ein wirklichkeitsgetreues Bild Italiens entwickeln könnten, und da hab ich sie spontan um Hilfe gebeten. Als ich ihr dann erklärt habe, wie E-Commerce funktioniert, hat sie nicht lange gebraucht, um das zu verstehen."
Mittlerweile ist Anna Mancelli fester Bestandteil des Teams und ziemlich beschäftigt. Ein Glück, dass Enkel Leonardo Papini noch nicht an Nachwuchs denkt. Zum Kinderhüten hat "Nonna Anna" nämlich keine Zeit.
Dieser Beitrag wurde erstmals gesendet am 9. Februar 2016.