"Mein Schlesierland – mein Heimatland" schallt es aus dem CD-Player im Physiotherapie-Raum. Vor der Sprossenleiter sitzt eine weißhaarige Frau im Rollstuhl. Unter Anleitung der Krankengymnastin versucht sie Sprosse um Sprosse nach oben zu greifen. Daneben stemmt eine Seniorin ihren Gehstock wie eine Turnstange hoch und wieder herunter.
Latifa Dehbi nickt freundlich durch den breiten Türrahmen hindurch in Richtung der beiden Damen und ihrer Therapeutin. Dann wird sie unterbrochen. Ein Mann, etwa Mitte 60, mit orangenem T-Shirt und starrem Blick, nähert sich mit tapsigen Schritten und greift nach der Hand der jungen Heimleiterin.
Dehbi führt weiter durch das oberste Stockwerk des Pflegeheims. Zwölf Jahre lang hat Latifa Dehbi in Pflegeheimen in Deutschland gearbeitet. Dort teilweise bis zu zehn Patienten gleichzeitig versorgt. Dann kam das Angebot des Vaters einer Schulfreundin, die Leitung in dem neu erbauten Heim zu übernehmen. Mit einem besseren Personalschlüssel und damit mehr Zeit für die Patienten.
Alle 40 Bewohner sind aus Deutschland
Latifa Dehbi führt am Fahrstuhl vorbei, eine breite Treppe hinab.
"Das ist der mittlere Bereich, hier wohnen 16 Bewohner, mehr demente als orientierte, natürlich sind hier auch Orientierte, aber das sind hier überwiegend Demente."
Eine schmale Frau, um die 70, im grauen Strickkleid schlurft heran. Sie trägt eine bunte Harlekin-Puppe unter dem Arm und hakt sich bei der Besucherin ein. Führt sie erst den breiten, hellen Flur hinunter, dann wieder zurück.
Im Aufenthaltsraum fällt das Tageslicht durch bodenhohe Fenster auf hell gestrichene Wände. Sechs bis acht Stühle gruppieren sich jeweils um einen der drei Esstische aus hellem Holz. Gerade wird das Mittagessen verteilt.
"Komm, Schatz", sagt die polnische Pflegerin und nimmt den Arm der dementen Bewohnerin, geleitet sie zu ihrem Sitzplatz. Latifa Dehbi lächelt. Alle vierzig Bewohner kommen aus Deutschland. Die wenigsten haben das selbst entschieden. Ihre Angehörigen haben sie hierher gebracht.
"Wir haben eine deutschsprachige Ärztin hier, die regelmäßig kommt, die war gestern hier, die wird am Donnerstag und Freitag nochmal kommen, und wenn irgendetwas notfallmäßig ist, dann kann man sie auch anrufen."
20 polnische Pflegekräfte mit Deutschkenntnissen
Im Notfall allerdings bedeutet das auch: eine Einweisung in das nächstgelegene polnische Krankenhaus. 20 polnische Pflegekräfte mit deutschen Sprachkenntnissen kümmern sich um 40 deutsche Bewohner, von denen nur ganz wenige Polnisch verstehen. Der gute Personalschlüssel erlaubt Zeit für Aktivitäten. Kleine Dinge, wie Latifa Dehbi sagt, die sie aber wichtig findet:
"Die Ausflüge, die stattfinden hier, oder die Kino-Abende, dass man einfach zusammen in einer Gemeinschaft zusammensitzt, Knabberzeug isst oder Spiele, nach draußen in den Garten, sitzen – das, was man alltäglich auch zu Hause machen würde."
Mittagsruhe. Die meisten Bewohner sind in ihren Zimmern. Im Gemeinschaftsraum räumt eine Pflegerin Gläser in die Spülmaschine. "Mariola Drewicz" ist auf ihr beiges Polo-Shirt gestickt. Sie geht hinüber zu einer alten Dame, die noch im Rollstuhl am Tisch sitzt, vor sich ein halbvolles Glas. Mariola Drewicz drängelt nicht. Holt stattdessen Besen und Kehrblech aus dem Schrank und beginnt zu fegen.
"Ich warte jetzt, dass die Frau ausgetrunken hat. Dann begleite ich sie zur Toilette und anschließend zu ihrem Zimmer. Und um 3 Uhr dann gibt es Kaffee", erklärt die Pflegerin.
Mariola arbeitet lieber in diesem Heim
Früher war die 38-Jährige Gardinen-Verkäuferin in der nahe gelegenen Kleinstadt Raciborz. Ein Beruf ohne Perspektive, also hat sie die Altenpflegeschule besucht und im Anschluss einige Monate in München in einem privaten Altenheim gearbeitet. Zu dritt waren sie für 28 Bewohner zuständig. Die Dienstpläne waren chaotisch, nie war Zeit, erinnert sich die alleinerziehende Mutter. Und dann war da noch ihre 11-jährige Tochter, die sie bei ihrer Schwester in Polen zurückgelassen hatte.
"Das ist einer der Gründe, warum ich zurückkam nach Polen. Aber auch meine Mutter und mein pflegebedürftiger Bruder brauchen Hilfe. Ich kann hier mein Geld als Pflegerin verdienen und ich kann zu Hause helfen."
Nach drei Monaten kehrt Mariola Drewicz aus München zurück nach Raciborz. Dort hätte sie sofort in einem polnischen Pflegeheim anfangen können, denn auch in Polen sind Pflegekräfte knapp.
"Ich habe ein Praktikum in einem polnischen Altersheim absolviert. Und ich hätte dort auch weiter arbeiten können. Aber die Ausstattung war viel schlechter als hier, und das sowohl für die Bewohner als auch für das Personal. Das polnische Heim ist nur fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt, aber ich fahre lieber die 25 Kilometer hierher, weil es mir hier viel besser gefällt."
In Polen werden Angehörige möglichst zu Hause gepflegt
In ein Heim wie dieses würde sie unter Umständen sogar ihre Mutter geben. In eines der staatlichen polnischen aber auf keinen Fall, ist sich Mariola sicher. In Polen sei es nahezu undenkbar, die Angehörigen nicht selbst zu pflegen.
"Das kann man nur rechtfertigen, wenn man wirklich arbeiten muss und keine andere Möglichkeit hat, sich um die Eltern zu kümmern. Ansonsten sollte man sie zu Hause pflegen. Ich würde sie niemals weggeben."
Dieser Beitrag wurde erstmals gesendet am 12. Juli 2014.