Cesária Pencas sucht in ihrem Wohnzimmer nach einer Urkunde. Durch ein kleines Fenster in der Wohnungstür fällt der Blick auf die Hauptstraße von São Miguel de Machede, einem kleinen Dorf in der ländlichen Alentejo-Region im Süden Portugals. Die 86-Jährige schaut auf ein paar Familienfotos, die auf einer Anrichte stehen.
Ihr Mann und ihr Sohn sind schon vor langer Zeit gestorben, die Schwester im vergangen Jahr. Ihre Tochter, eine Krankenschwester, lebt in einer Stadt rund 100 Kilometer entfernt. Einsam fühle sie sich, sagt die kleine Frau mit den gefärbten welligen Haaren, das Leben sei manchmal sehr hart gewesen.
Schließlich findet sie in einer Schublade die Teilnahmebestätigung eines Senioren-Kurses. Sie schaut durch ihre schmale Brille und liest flüssig vor.
Vor ein paar Jahren wäre das noch unmöglich gewesen. Denn Cesária Pencas konnte fast ihr ganzes Leben lang weder schreiben noch lesen.
Damals: Feldarbeit statt Schulbesuch
"Ein paar Monate bin ich in die erste Klasse gegangen, aber damals gab es keine Schulpflicht. Als mein Vater und meine Mutter als Erntehelfer angestellt wurden, musste ich zu Hause bleiben und auf meine Geschwister aufpassen. So war das damals: Ich war schließlich die Älteste. Mit 13 habe ich dann selbst angefangen, auf den Feldern zu arbeiten."
Erst mit über 70 hat Cesária Pencas das Alphabet gelernt, nachdem ein Hochschullehrer aus ihrem Dorf einen Kulturverein gründete und sich speziell um die vielen, überwiegend älteren Analphabeten in der Region kümmerte.
Cesária Pencas schaut auf die Uhr: Sie will nicht zu spät zu ihrem Lesezirkel kommen. Sie schließt die Tür ihres flachen weißgetünchten Hauses ab und läuft mit festem Schritt die holprige Hauptstraße entlang. Es sind nur knapp 100 Meter bis zum Kulturverein Suão. Er hat seinen Sitz in einem der typischen Bauernhäuser der Region.
"Viele haben hier ihren Namen schreiben gelernt"
Dort, wo früher die Esel ihr Heu fraßen, sitzen Cesária Pencas' Freundinnen bereits um einen runden Tisch, eine junge Frau steht an einer Tafel und sortiert ihre Unterlagen. Sofia Pacheco hat Architektur studiert und lebt in der Universitätsstadt Évora, rund 20 Kilometer westlich von São Miguel. Einmal in der Woche kommt sie zurück in ihr Heimatdorf, um einen Kurs für die Seniorengruppe anzubieten.
"Viele Leute aus unserem Dorf haben hier zum ersten Mal ihren Namen schreiben gelernt. Mit über 60 oder über 70. Das ist ein ganz wichtiger Moment für sie. Sie mussten ihr ganzes Leben lang immer mit ihrem Sohn oder irgendjemandem zur Bank gehen, damit der für sie die Schecks unterschreiben und die Rente für sie abheben konnte. Jetzt haben sie ihre Unabhängigkeit erhalten, und können tun und machen, was sie wollten, ohne jemanden um Hilfe bitten zu müssen."
Die 24-Jährige packt einen Stapel Zettel aus und liest langsam Wörter vor. Die Damen schreiben fleißig mit. Cesária Pencas setzt ein "r" zu viel, vergisst ein stummes "h", versteht ein Wort nicht richtig. Sie witzelt, lacht, macht lustige Kommentare. Im Kreis ihrer Freundinnen blüht sie auf.
Dankesbrief an die Lehrerin
Dann liest sie einen Brief vor, den sie ihrer Lehrerin zum Dank geschrieben hat. Ihre Sprache klingt melodisch, und ist ein bisschen altertümlich in der Wortwahl. Doch die Botschaft kommt an. Sofia pacheco ist sichtbar gerührt. Die Seniorinnen bereiten sich auf ein neues Projekt vor, erzählt sie:
"Wir wollen die Grenzen zwischen den Generationen durchbrechen. Wir fangen jetzt einen Briefwechsel an mit Drittklässlern aus einer Schule in Lissabon. Sie wohnen in der Stadt, und wir wohnen auf dem Land, und über diese Unterschiede können wir berichten. Und unsere Damen hier wollen außerdem erzählen, wie es war, als sie jung waren. Und das versuchen wir jetzt schon mal in einem ersten Brief zu sammeln, den wir an die Schüler schreiben werden."
Barfuß seien sie durch das Dorf gelaufen, erzählen die Frauen. Es habe kein Strom und kein fließendes Wasser gegeben und sie hätten mit Steinen gespielt oder mit selbst gemachten Stoff- oder Papierpuppen.
Nach Lissabon? "Früher war das einfach unmöglich"
Ein paar Pappfiguren liegen auf dem Tisch, die die Damen in den vergangenen Wochen gebastelt haben. Sie sollen auch in den Brief an die Drittklässler kommen. Cesária Pencas' Puppe trägt ihr Portraitfoto auf dem dünnen Hals und ein hellblaues Kleid, das die langen Beine nur knapp bedeckt. "Ich mag mein Kleid nicht", sagt sie. "Aber meine Beine sind wunderschön."
Zum Schluss der Lesestunde wird Cesária Pencas doch noch einmal etwas ernsthafter: Der Kulturverein Suão habe ihr eine Welt gezeigt, die sie nicht kannte:
"Ich war noch nie in Lissabon gewesen. Früher war das einfach unmöglich. Doch jetzt sind wir zusammen hingefahren. Wir waren im Museum und haben uns die Kleider der berühmten Fado-Sängerin Amália Rodrigues angeschaut – das war schön. Ich liebe ihre Musik und hätte sie zu ihren Lebzeiten gerne einmal live gesehen. Man kann nicht alles haben. Aber vieles kommt doch anders, als man gedacht hätte. Hier in diesem ehemaligen Stall habe ich mich als Kind um die Esel gekümmert. Glauben Sie, ich hätte mir damals vorstellen können, dass ich jetzt hier an einem Tisch sitze und schreiben lerne. Niemals!"
Dieser Beitrag wurde erstmals gesendet am 14. März 2018.