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Altbundespräsident Gauck über "Kränkung"
"Wer sich viktimisieren lässt, macht sich abhängig"

Altbundespräsident Joachim Gauck hat am 15. Mai den Dr.-Leopold-Lucas-Preis der Universität Tübingen erhalten, einen der höchstdotierten Preise für Geisteswissenschaften in der Bundesrepublik. In seiner Dankesrede beschäftigte er sich mit einem hochaktuellen Thema: dem Phänomen der Kränkung.

    Porträtfoto von Joachim Gauck.
    Es gebe viele Arten der Kränkung, erklärte Altbundespräsident Joachim Gauck in seiner Dankesrede am 15. Mai 2017 anlässlich des verliehenen Dr. Leopold Lucas-Preises in Tübingen. (dpa/picture alliance/ Jan-Philipp Strobel)
    Mit Joachim Gauck würdigte die Evangelische Fakultät der Universität Tübingen einen, wie es hieß, "Pastor, Politiker und politischen Denker", der durch sein Eintreten für die Freiheit und Gerechtigkeit und durch sein Engagement für eine Kultur des Gesprächs beispielhaft gewirkt habe.
    Vor Gauck wurden unter anderen Karl Popper, Altbundespräsident Richard von Weizsäcker oder der Dalai Lama ausgezeichnet.
    In unserer Kultur müsse und könne der Umgang mit Kränkung gelernt werden, sagte Gauck in seiner Dankesrede. Anhand historischer Beispiele zeigte er: "Kränkung hat viele Gesichter".
    Auf die Gegenwart bezogen, meinte Gauck, es falle heute schwer, nicht gekränkt zu sein: "Muslime fühlen sich von der westlichen Welt gedemütigt, Griechen, Polen und andere Europäer von Deutschen gegängelt, ehemalige Kolonialstaaten von den einstigen Herren im Stich gelassen, Ostdeutsche gegenüber Westdeutschen benachteiligt, weiße Amerikaner von Minderheiten oder Eliten im eigenen Land unter Druck gesetzt, Männer von emanzipierten Frauen entwertet und so weiter und so weiter und so weiter."
    Menschen fühlen sich in ihrem Selbstverständnis angegriffen
    Kränkungen ließen sich oft nicht objektivieren, entfalteten aber dennoch Kraft, sagte Gauck: "Im Kern jedoch geht es immer um dasselbe: darum, dass sich Menschen in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Selbstwert angegriffen fühlen, das sie sich beschämt und verletzt finden, bloßgestellt, zu wenig anerkannt, zu wenig wertgeschätzt, zu wenig berücksichtigt, zu wenig geliebt. Kränkung ist daher auch immer Verunsicherung des Selbstwertes (…)."
    Kränkungen lebten aber auch in "Volkswesen", das diese "durch Identifizierung mit dem großen Fühler" und dem damit einhergehenden Bedeutungszuwachs glaubten überwinden zu können: "Das Gefühl mangelnder Anerkennung (...) wandelt sich dann in ein Gefühl der Stärke, ja der Überlegenheit, das sie gegenüber anderen erhöht. (...) Mittel- und langfristig vermögen Allmachtsfantasien die darunter liegenden Widersprüche einer Gesellschaft allerdings nicht zu überdecken."
    Deeskalation durch Versachlichung
    Es gehöre keine große Fantasie dazu vorherzusagen, dass Länder wie Russland oder die Türkei ohne einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit und Gegenwart nicht zur Ruhe kommen werden, sagte Gauck.
    Ganz allgemein forderte Gauck dazu auf, Abwehrkräfte und Selbstbewusstsein der Menschen zu stärken, damit diese Kränkungen gewachsen seien. Er mahnte, Kränkungen von außen kühl zu analysieren und empfahl eine "Deeskalation durch Versachlichung": "Denn der, der sich viktimisieren lässt, macht sich übermäßig abhängig von der Anerkennung seiner Umgebung."
    Den Mitschnitt der Dankesrede von Joachim Gauck können Sie im Rahmen unseres Audio-on-demand-Angebotes mindestens sechs Monate nachhören.