"Für viele völlig in Vergessenheit geraten ist, dass im Jahr 2007 einfach mal über Nacht Estland ausgeknipst wurde, und welche Folgen das in unserem Land haben könnte, sollte Ähnliches passieren, mag man sich nur einmal ausmalen. Börsenaktienindizes, Energieversorgung, computergesteuerte Fertigungen und/oder – trivialer – Onlinebanking, GPS ... man könnte diese Liste fortführen. Unsere Verwundbarkeit, meine Damen und Herren, ergibt sich auch aus den Möglichkeiten unseres schnelllebigen Lebens", …
… so Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vergangene Woche in Berlin. Der Cyberwar ist kein Krieg der Zukunft mehr. Er ist längst Gegenwart - und wird damit ein wichtiger Aufgabenbereich der NATO, die sich am Freitag und Samstag auf ihrem Gipfel in Lissabon mit dieser neuen Form eines Angriffs auseinandersetzen wird. Der Cyberkrieg wird sich im neuen strategischen Konzept niederschlagen, das die Allianz auf ihrem Gipfel beschließen wird.
Als Estland im Jahr 2007 mit Russland über die Verlegung eines Mahnmals aus der Zeit der sowjetischen Besatzung stritt, fielen plötzlich im ganzen Land die Computer in Banken, Behörden, Polizei und Regierung aus. Die Täter blieben unbekannt. Als die NATO 1999 gegen Serbien Krieg führte, um die Vertreibungen der Albaner aus dem Kosovo zu stoppen, konnten stundenweise innerhalb des NATO-Apparats keine E-Mails mehr verschickt werden. Alle E-Mail-Briefkästen waren so voll, dass nichts mehr ging. Auch jetzt berichten Mitarbeiter der Allianz, dass ihre Computer stundenweise nicht zu gebrauchen sind, immer mal wieder. An Zufälle glaubt im Hauptquartier der NATO keiner.
Ein weiteres Beispiel: Im September sollte ein Virus die Computer lahmlegen, die von der Firma installiert wurden, die die Atomkraftwerke im Iran betreibt. Immer wieder gibt es Berichte darüber, dass Computeranlagen gestört werden. Wenn das in größerem Umfang geschähe, hätte es gerade für die Industriestaaten fatale Wirkung. Daher wollen die Staaten der NATO sich gemeinsam überlegen, wie sie diese Folgen abwehren können.
In Deutschland ist umstritten, ob der Cyber-Krieg Aufgabe der NATO werden soll. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, im Bundestag:
"Ja, Cyberwar ist eine Bedrohung. Aber ist sie mit den Instrumenten der NATO zu lösen? Was wollen Sie denn tun? Google bombardieren? Das kann doch nicht ernsthaft ne Alternative sein."
Darum geht es bei den Gesprächen der NATO auch nicht. In der Systematik des NATO-Vertrages gibt es Aufgaben, über die die Mitglieder sich konsultieren, und es gibt Aufgaben, für die die Beistandspflicht gilt. Der Cyber-Krieg fällt unter die Aufgaben, die durch Konsultationen erledigt werden sollen.
So wird es im Wesentlichen darum gehen, sich dabei zu helfen, technische Mittel zur Abwehr solcher Angriffe zu entwickeln. Da können die größeren Länder den kleineren tatsächlich unter die Arme greifen. Die NATO wird dazu noch viel Folgearbeiten nach dem Gipfel zu leisten haben. Denn selbst wenn im neuen strategischen Konzept der NATO der Cyber-Krieg als Aufgabe festgeschrieben wird, sind damit noch nicht alle Fragen geklärt. Verteidigungsminister zu Guttenberg bei der Berliner Sicherheitskonferenz vor einer Woche:
"Haben wir eine gemeinsame Definition dafür, was heute ein Angriff ist in diesem Zusammenhang? Haben wir die Grauzonen bereits verlassen zwischen defensiver und offensiver Vorgehensweise? Haben wir uns jede verfassungsrechtlich relevante Frage im Zusammenhang mit Cyberwar und Cyberspace wirklich auch schon gestellt und beantwortet? Ich glaube, diese Fragen muss man fast alle noch mit Nein beantworten."
Will die NATO die Möglichkeiten eines Cyber-Angriffs auch nutzen, um die Führungsinstrumente eines möglichen Gegners auszuschalten? Würde die NATO also versuchen, auf diesem Wege einen möglichen Gegner im Vorfeld einer militärischen Auseinandersetzung auszuschalten? Hinter vorgehaltener Hand wird über solche Optionen vorsichtig diskutiert. Offiziell jedoch ist das in den Wochen vor Bekanntgabe des neuen strategischen Konzeptes kein Thema.
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen charakterisierte das neue strategische Konzept folgendermaßen:
"Es wird ein strategisches Konzept sein, das die Fähigkeit der NATO verbessern wird, den neuen Bedrohungen von heute und morgen wie - Terrorismus, Cyber-Angriffe, Raketenangriffe und andere Bedrohungen unserer Sicherheit - zu begegnen. Die Tatsache, dass wir uns Etatbeschränkungen gegenübersehen, ist kein Hindernis für weitere Verbesserungen unserer Fähigkeiten."
Die NATO-Staaten haben lange gebraucht, um sich an die Arbeit für ein neues Konzept zu machen. Das alte wurde 1999 beschlossen, während des Kosovo-Krieges, vor den Anschlägen auf New York und Washington am 11. September 2001, vor dem Irak-Krieg, vor der Afghanistan-Mission der NATO. Seither sind neue Mitglieder in die Allianz aufgenommen worden, die Interessen wurden vielfältiger, ein neues Konzept stand dringend an. Der außenpolitische Sprecher der Union im Bundestag, Philipp Mißfelder:
"Während des Kalten Krieges war Bündnissolidarität nahezu immer deckungsgleich mit nationalen Sicherheitsinteressen. Das kann man heute für die NATO nicht zwangsläufig sagen. Terrorismus, gescheiterte Staaten, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sind notwendigerweise nicht für alle Mitgliedsländer der NATO von existentieller Natur und werden daher auch von Bündnispartnern unterschiedlich wahrgenommen."
Die NATO zögerte so lange mit dem neuen Konzept, weil manche befürchteten, die NATO würde bei der Formulierung einer neuen Strategie scheitern, würde lediglich dokumentieren, wo sich Meinungsverschiedenheiten auftun. Recht spät, beim 60. Geburtstag der Allianz im vergangenen Jahr, war der Auftrag für das neue Konzept gegeben worden. Dann suchte eine Expertenkommission unter der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright die NATO-Mitgliedstaaten auf und führte Gespräche, vertraulich und öffentlich. Der Bericht der Expertenkommission wurde zur Grundlage für das noch streng geheime Papier, dass Rasmussen persönlich verfasste und das jetzt in Lissabon zur Abstimmung vorgelegt wird.
Die Hoffnung, die viele mit der Arbeit an diesem Papier verbanden, war, dass die neuen Mitglieder durch die Beschäftigung mit den konzeptionellen Grundlagen der NATO die Allianz besser kennen lernen. Ihre Mitgliedschaft sollte damit inhaltlich gefestigt werden. Auch die alten Mitglieder sollten sich dadurch mit den alten und neuen Schwerpunkten der NATO auseinandersetzen – um auch ihre Mitgliedschaft inhaltlich neu zu begründen.
Die neuen Mitglieder sind in die Allianz gekommen, weil sie sich in Krisen und Konflikten den Beistand der Partnerstaaten sichern wollten. Deswegen ist für sie die Beistandspflicht des Art. 5 NATO-Vertrag die entscheidende Bestimmung, die sie zum Beitritt veranlasst hat. Im neuen strategischen Konzept wird gleich zu Beginn, also an herausgehobener Stelle, diese Beistandszusage bekräftigt werden.
Für die Staaten an der Peripherie der Allianz ist das Risiko einer Krise und Auseinandersetzung im herkömmlichen Sinn noch immer recht groß und real. Wenn Russland die Gaspipelines nach Westen abdreht, spüren dies die baltischen Staaten sofort. Die Türkei grenzt an den Krisenbogen um den Iran und Aserbaidschan. Dort erwartet man, dass die NATO den Staaten zur Seite steht, wenn aus dem Risiko reale Gefahr wird.
Für die alten Mitglieder spielt diese Beistandspflicht in der aktuellen Sicherheitspolitik eine nicht ganz so wesentliche Rolle – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Staaten damit rechnen, sie müssten die anderen zur Hilfe rufen. Für sie stellen die sogenannten "Stabilisierungseinsätze" im Ausland die jetzt zentralen Aufgaben dar. Da zieht das neue Konzept Konsequenzen aus dem Afghanistan-Einsatz.
So wird im neuen Konzept die NATO als "Krisenmanager" beschrieben. Dabei wird großer Wert darauf gelegt, mögliche Krisen bereits vor ihrem Beginn zu entschärfen. Diese präventive Politik unterstreicht, dass die NATO sich immer mehr als sicherheitspolitisches Bündnis versteht und weniger als militärisches. So ist neu, dass der zivil-militärischen Zusammenarbeit eine größere Bedeutung in diesem Papier eingeräumt wird. Geplant ist, dass die NATO eine kleine, moderate Komponente mit zivilen Kräften aufbaut, wie Polizisten, Verwaltungsfachleute, Richter usw. Diese Experten, die von den Nationen benannt werden, sollen von der NATO ausgebildet und dann gegebenenfalls in den Einsatz geschickt werden.
Das Verhältnis zu Russland ist der zweite wichtige, auf diesem Gipfel wohl besonders positiv besetzte Themenkomplex, über den gesprochen werden wird. Die letzten Signale, die Generalsekretär Rasmussen bei seinem Besuch in Moskau bekam, sind so freundlich, dass vieles, was in den Wandelgängen der NATO erzählt wird, nahezu euphorisch klingt. Zunächst ist es formal ein Erfolg, dass Russlands Präsident Medwedew zum NATO-Russland-Rat am Samstag nach Lissabon kommen wird. Außenminister Guido Westerwelle freut sich:
"Aber wir werden alle anerkennen müssen, dass hier eine enorme Bewegung stattgefunden hat. Wenn man sich vorstellt, was vor 20, 30 Jahren noch diskutiert worden ist, und man sich jetzt ansieht, dass Russland von der NATO eingeladen wird, bei der Abwehr und bei der Sicherheit mitzumachen, und dass Russland sich nicht verweigert, sondern sagt, wir sehen uns das an, wir prüfen das, wo auch unsere Möglichkeiten sind, das ist eine historische Entwicklung, die wir auch nicht mal so eben durchwinken sollten, sondern das ist ein Moment, wo wir uns darüber freuen sollten. Das ist in Wahrheit die Friedensdividende ganz langer Bemühungen."
Wie sehr sich die Stimmung gewandelt hat, zeigt ein Zitat des russischen Botschafters bei der NATO, Rogosin, das in Brüssel hinter vorgehaltener Hand die Runde macht: Die NATO, so habe der Diplomat gesagt, sei früher die Hölle für einen Russen gewesen, jetzt dagegen sei es eine "cosy corner", eine gemütliche Ecke. Der Wandel in der russischen Einschätzung der NATO sei "titanisch". "Lasst uns substanziell reden, lasst uns die Skepsis beiseite schieben", meinte der Diplomat aus Moskau. Das neue Verhältnis soll sich im neuen Konzept der NATO niederschlagen. Zwar wird noch über einzelne Elemente verhandelt, die die verbesserte Zusammenarbeit festschreiben sollen. Aber einiges ist schon heute erkennbar. NATO-Generalsekretär Rasmussen:
"Die Substanz auf der Tagesordnung zwischen Russland und der NATO ist, dass wir eine solide Zusammenarbeit aufbauen werden: beim Thema Afghanistan, bei der Sicht auf die Herausforderungen, vor denen wir heute gemeinsam stehen, und bei einem noch effektiveren Kampf gegen Terrorismus, Drogen und Piraterie. Das ist ein ganz schönes Paket."
In der Erklärung, die für den NATO-Russland-Rat vorbereitet wird, heißt es dem Vernehmen nach, dass eine gemeinsame Analyse für die Sicherheitsrisiken erstellt werden soll. Die Zusammenarbeit der Geheimdienste soll ausgebaut, die jeweiligen Erkenntnisse ausgetauscht werden. Die NATO darf künftig auch Waffen und Munition über russisches Gebiet nach Afghanistan transportieren, bislang waren diese Güter von der Durchfahrtsgenehmigung ausgenommen. Zudem ließ Moskau nur Transporte nach Afghanistan zu, nun sollen Transporte in beide Richtungen möglich werden. Russland hat zudem angeboten, den Engpass bei Hubschraubern, wie er derzeit bei der NATO und bei der afghanischen Armee besteht, aufzufüllen. Bei der Bekämpfung des Drogenanbaus auf afghanischem Boden und dem anschließenden Transport der Drogen sollen die schon bestehenden Kooperationen ausgeweitet werden. Möglich wären da auch gemeinsame Grenzpatrouillen zwischen Afghanistan und den Staaten der früheren Sowjetunion.
Der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen NATO und Russland spielt auch im Zusammenhang mit dem geplanten Raketenabwehrschirm eine gewichtige Rolle. Die NATO wird den Aufbau eines solchen Schirms in Lissabon wohl beschließen, jedoch nicht mehr als Schirm, den die USA in einigen Ländern errichten wollen, sondern als Projekt der gesamten NATO. Die Allianz will gemeinsam mit Russland analysieren, welche Bedrohung durch ballistische Raketen hervorgerufen wird. Generalsekretär Rasmussen spricht von 30 Staaten, die über Raketen verfügen dürften, die Nuklearsprengköpfe tragen können. Damit vermeidet Rasmussen, nur den Iran als Bedrohung zu benennen. Russland, aber auch das NATO-Mitglied Türkei würden sich bei der Raketenabwehr schwer tun, wenn diese in Gipfeldokumenten als reine "Anti-Iran-Politik" beschrieben würde. Russland ist in der internationalen Gemeinschaft eine Art "Anwalt" für die Iraner, die Türkei ist als direkter Nachbar vor allem an einer Entspannung der Lage um den Iran interessiert. Allerdings machen alle anderen in der NATO Iran als die eigentliche Bedrohung aus. Die Türkei hat in dieser Woche jedoch zur Bedingung gemacht, dass sie die Führung bei dem Verband bekommt, der die Abwehrsysteme einsetzt. Damit ist der erreichte Konsens über das Raketenabwehrsystem wieder gefährdet.
Vielleicht gelingt es den Gipfelteilnehmern, mit der Formel der 30 Bedrohungskandidaten einen Weg für eine breite Kooperation zu begründen. Zunächst muss aber die NATO dieses Programm beschließen, das den Mitgliedsländern auch Kosten abverlangen wird. Danach soll der NATO-Russland-Rat den Auftrag bekommen, bis Juni 2011 die Optionen für eine gemeinsame Raketenabwehr zu entwickeln. Das soll mit einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse beginnen. In der NATO kann man sich dann eine Zusammenarbeit bei den Systemen für den Einsatz, den sogenannten Command and Control-Systemen, bei der Technik für die Abwehrraketen und bei der Finanzierung vorstellen.
Bundesaußenminister Westerwelle hat ein besonderes Anliegen in die Beratungen der NATO um ein neues Konzept eingebracht: die nukleare Abrüstung. Der Minister im Bundestag:
"Ein entscheidendes Ziel ist es, dass die NATO sich auch dem Thema Abrüstung und auch Rüstungskontrolle verschreibt. Wir haben im Frühjahr, nämlich bei den Beratungen im April, eine ganze Reihe von Verbündeten dafür gewinnen können. Wir alle wissen, dass die Vision von Präsident Obama von einer nuklearwaffenfreien Welt natürlich ein sehr langfristiges Ziel ist, aber es ist ein vernünftiges Ziel, und Schritte in diese Richtung wollen wir auch unterstützen, und deswegen ist eine reduzierte Rolle von Nuklearwaffen zurecht auch Teil der Strategie, die wir als Bundesregierung unterstützen wollen."
Dabei wurde aber deutlich, dass es schon in der Bundesregierung Meinungsunterschiede bei der Gewichtung dieses Themas gibt. Verteidigungsminister zu Guttenberg setzt die Akzente anders. In seiner Aufzählung von Aufgaben streifte er das Thema nur kurz:
"Zum Zweiten glaubhafte, wirksame, aber auch realistische Abrüstungsschritte, zum Dritten eine ausbalancierte nukleare Abschreckung."
In der NATO provoziert die Position Westerwelles Kopfschütteln. Die neuen NATO-Mitglieder sind der Allianz beigetreten, weil sie sich vom Nuklearschirm der NATO, aufgebaut vor allem durch die USA, mehr Schutz für ihre eigene Sicherheit erhoffen. Sie wären nicht damit einverstanden, wenn dieser Schirm abgeschafft würde. Auch die Nuklearstaaten in der NATO, die USA, Großbritannien und Frankreich sind nicht bereit, einseitig auf Nuklearwaffen zu verzichten. Die nun bekannt gewordenen Probleme bei der Ratifizierung des zwischen Russland und den USA im vergangenen Jahr abgeschlossenen Rüstungskontrollabkommens START machen deutlich, dass in diesen Fragen zur Zeit Fortschritte schwierig zu erreichen sind. Zudem wird nukleare Abrüstung vor allem in den USA nicht mehr nur als ein Ziel gesehen, das allein mit Russland auszuhandeln ist. Auch die anderen Nuklearstaaten in der Welt – also zum Beispiel China, Indien, Pakistan, Israel, um nur vier zu nennen – sollen in diesen Prozess eingebunden werden. Abrüstung geht also nur noch weltweit.
Vor diesem Hintergrund ist die Vereinbarung zwischen Großbritannien und Frankreich von Bedeutung. Die beiden früheren Rivalen auf der europäischen Bühne haben beschlossen, die jeweiligen Nuklearwaffenarsenale gemeinsam modern zu halten. Viele Experten interpretieren die Tatsache, dass dieses Abkommen nur wenige Wochen vor dem NATO-Gipfel zustande kam, auch als eine Antwort auf die Vorstöße Westerwelles. Andreas Schockenhoff, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion, formuliert einen möglichen Ausweg:
"Die Maxime von Präsident Obama, dass die NATO so lange zur Abschreckung bereit und in der Lage sein muss, wie es Atomwaffen in dieser Welt gibt. Im Umkehrschluss gilt aber auch, dass die NATO sich der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen verschreiben wird, und das Prinzip anerkennen muss, dass sie nicht nuklearen Staaten, die dem Nichtverbreitungsvertrag angehören, und den entsprechenden Verpflichtungen nachkommen, niemals mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohen wird."
Was bringt der Gipfel also? Die NATO wird auch nach dem Gipfel keine neue Allianz sein. Und das neue strategische Konzept ist, wie es ein Diplomat formuliert, lediglich die "Fotografie des Augenblicks". Nochmals Andreas Schockenhoff:
"Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Raketen hat unmittelbare Konsequenzen für unsere Sicherheit. Die Folgen des Klimawandels können zu Konflikten um natürliche Ressourcen oder Siedlungsräume und zu großen Migrationsströmen mit sicherheitspolitischen Auswirkungen für uns führen. Cyber-Attacken und mögliche Angriffe auf Handelsrouten und unsere Energieversorgung sind neue Dimensionen der konkreten Bedrohungen für unser Land."
Dass in allen NATO-Ländern zurzeit eine Sparpolitik betrieben wird, ist für Generalsekretär Rasmussen kein großes Problem. Es gelte vielmehr, die richtigen Prioritäten zu setzen:
"In einer Zeit fiskalischer Beschränkungen müssen wir uns darauf konzentrieren, was am meisten gebraucht wird. Zum Beispiel: Schutz vor Bomben am Straßenrand für unsere Truppen oder medizinische Unterstützung oder Lufttransport."
Die NATO zieht sich in Lissabon also kein neues Gewand an, sie nimmt nur an den Stellen Änderungen vor, an denen das Gewand nicht mehr passt.
… so Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vergangene Woche in Berlin. Der Cyberwar ist kein Krieg der Zukunft mehr. Er ist längst Gegenwart - und wird damit ein wichtiger Aufgabenbereich der NATO, die sich am Freitag und Samstag auf ihrem Gipfel in Lissabon mit dieser neuen Form eines Angriffs auseinandersetzen wird. Der Cyberkrieg wird sich im neuen strategischen Konzept niederschlagen, das die Allianz auf ihrem Gipfel beschließen wird.
Als Estland im Jahr 2007 mit Russland über die Verlegung eines Mahnmals aus der Zeit der sowjetischen Besatzung stritt, fielen plötzlich im ganzen Land die Computer in Banken, Behörden, Polizei und Regierung aus. Die Täter blieben unbekannt. Als die NATO 1999 gegen Serbien Krieg führte, um die Vertreibungen der Albaner aus dem Kosovo zu stoppen, konnten stundenweise innerhalb des NATO-Apparats keine E-Mails mehr verschickt werden. Alle E-Mail-Briefkästen waren so voll, dass nichts mehr ging. Auch jetzt berichten Mitarbeiter der Allianz, dass ihre Computer stundenweise nicht zu gebrauchen sind, immer mal wieder. An Zufälle glaubt im Hauptquartier der NATO keiner.
Ein weiteres Beispiel: Im September sollte ein Virus die Computer lahmlegen, die von der Firma installiert wurden, die die Atomkraftwerke im Iran betreibt. Immer wieder gibt es Berichte darüber, dass Computeranlagen gestört werden. Wenn das in größerem Umfang geschähe, hätte es gerade für die Industriestaaten fatale Wirkung. Daher wollen die Staaten der NATO sich gemeinsam überlegen, wie sie diese Folgen abwehren können.
In Deutschland ist umstritten, ob der Cyber-Krieg Aufgabe der NATO werden soll. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, im Bundestag:
"Ja, Cyberwar ist eine Bedrohung. Aber ist sie mit den Instrumenten der NATO zu lösen? Was wollen Sie denn tun? Google bombardieren? Das kann doch nicht ernsthaft ne Alternative sein."
Darum geht es bei den Gesprächen der NATO auch nicht. In der Systematik des NATO-Vertrages gibt es Aufgaben, über die die Mitglieder sich konsultieren, und es gibt Aufgaben, für die die Beistandspflicht gilt. Der Cyber-Krieg fällt unter die Aufgaben, die durch Konsultationen erledigt werden sollen.
So wird es im Wesentlichen darum gehen, sich dabei zu helfen, technische Mittel zur Abwehr solcher Angriffe zu entwickeln. Da können die größeren Länder den kleineren tatsächlich unter die Arme greifen. Die NATO wird dazu noch viel Folgearbeiten nach dem Gipfel zu leisten haben. Denn selbst wenn im neuen strategischen Konzept der NATO der Cyber-Krieg als Aufgabe festgeschrieben wird, sind damit noch nicht alle Fragen geklärt. Verteidigungsminister zu Guttenberg bei der Berliner Sicherheitskonferenz vor einer Woche:
"Haben wir eine gemeinsame Definition dafür, was heute ein Angriff ist in diesem Zusammenhang? Haben wir die Grauzonen bereits verlassen zwischen defensiver und offensiver Vorgehensweise? Haben wir uns jede verfassungsrechtlich relevante Frage im Zusammenhang mit Cyberwar und Cyberspace wirklich auch schon gestellt und beantwortet? Ich glaube, diese Fragen muss man fast alle noch mit Nein beantworten."
Will die NATO die Möglichkeiten eines Cyber-Angriffs auch nutzen, um die Führungsinstrumente eines möglichen Gegners auszuschalten? Würde die NATO also versuchen, auf diesem Wege einen möglichen Gegner im Vorfeld einer militärischen Auseinandersetzung auszuschalten? Hinter vorgehaltener Hand wird über solche Optionen vorsichtig diskutiert. Offiziell jedoch ist das in den Wochen vor Bekanntgabe des neuen strategischen Konzeptes kein Thema.
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen charakterisierte das neue strategische Konzept folgendermaßen:
"Es wird ein strategisches Konzept sein, das die Fähigkeit der NATO verbessern wird, den neuen Bedrohungen von heute und morgen wie - Terrorismus, Cyber-Angriffe, Raketenangriffe und andere Bedrohungen unserer Sicherheit - zu begegnen. Die Tatsache, dass wir uns Etatbeschränkungen gegenübersehen, ist kein Hindernis für weitere Verbesserungen unserer Fähigkeiten."
Die NATO-Staaten haben lange gebraucht, um sich an die Arbeit für ein neues Konzept zu machen. Das alte wurde 1999 beschlossen, während des Kosovo-Krieges, vor den Anschlägen auf New York und Washington am 11. September 2001, vor dem Irak-Krieg, vor der Afghanistan-Mission der NATO. Seither sind neue Mitglieder in die Allianz aufgenommen worden, die Interessen wurden vielfältiger, ein neues Konzept stand dringend an. Der außenpolitische Sprecher der Union im Bundestag, Philipp Mißfelder:
"Während des Kalten Krieges war Bündnissolidarität nahezu immer deckungsgleich mit nationalen Sicherheitsinteressen. Das kann man heute für die NATO nicht zwangsläufig sagen. Terrorismus, gescheiterte Staaten, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sind notwendigerweise nicht für alle Mitgliedsländer der NATO von existentieller Natur und werden daher auch von Bündnispartnern unterschiedlich wahrgenommen."
Die NATO zögerte so lange mit dem neuen Konzept, weil manche befürchteten, die NATO würde bei der Formulierung einer neuen Strategie scheitern, würde lediglich dokumentieren, wo sich Meinungsverschiedenheiten auftun. Recht spät, beim 60. Geburtstag der Allianz im vergangenen Jahr, war der Auftrag für das neue Konzept gegeben worden. Dann suchte eine Expertenkommission unter der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright die NATO-Mitgliedstaaten auf und führte Gespräche, vertraulich und öffentlich. Der Bericht der Expertenkommission wurde zur Grundlage für das noch streng geheime Papier, dass Rasmussen persönlich verfasste und das jetzt in Lissabon zur Abstimmung vorgelegt wird.
Die Hoffnung, die viele mit der Arbeit an diesem Papier verbanden, war, dass die neuen Mitglieder durch die Beschäftigung mit den konzeptionellen Grundlagen der NATO die Allianz besser kennen lernen. Ihre Mitgliedschaft sollte damit inhaltlich gefestigt werden. Auch die alten Mitglieder sollten sich dadurch mit den alten und neuen Schwerpunkten der NATO auseinandersetzen – um auch ihre Mitgliedschaft inhaltlich neu zu begründen.
Die neuen Mitglieder sind in die Allianz gekommen, weil sie sich in Krisen und Konflikten den Beistand der Partnerstaaten sichern wollten. Deswegen ist für sie die Beistandspflicht des Art. 5 NATO-Vertrag die entscheidende Bestimmung, die sie zum Beitritt veranlasst hat. Im neuen strategischen Konzept wird gleich zu Beginn, also an herausgehobener Stelle, diese Beistandszusage bekräftigt werden.
Für die Staaten an der Peripherie der Allianz ist das Risiko einer Krise und Auseinandersetzung im herkömmlichen Sinn noch immer recht groß und real. Wenn Russland die Gaspipelines nach Westen abdreht, spüren dies die baltischen Staaten sofort. Die Türkei grenzt an den Krisenbogen um den Iran und Aserbaidschan. Dort erwartet man, dass die NATO den Staaten zur Seite steht, wenn aus dem Risiko reale Gefahr wird.
Für die alten Mitglieder spielt diese Beistandspflicht in der aktuellen Sicherheitspolitik eine nicht ganz so wesentliche Rolle – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Staaten damit rechnen, sie müssten die anderen zur Hilfe rufen. Für sie stellen die sogenannten "Stabilisierungseinsätze" im Ausland die jetzt zentralen Aufgaben dar. Da zieht das neue Konzept Konsequenzen aus dem Afghanistan-Einsatz.
So wird im neuen Konzept die NATO als "Krisenmanager" beschrieben. Dabei wird großer Wert darauf gelegt, mögliche Krisen bereits vor ihrem Beginn zu entschärfen. Diese präventive Politik unterstreicht, dass die NATO sich immer mehr als sicherheitspolitisches Bündnis versteht und weniger als militärisches. So ist neu, dass der zivil-militärischen Zusammenarbeit eine größere Bedeutung in diesem Papier eingeräumt wird. Geplant ist, dass die NATO eine kleine, moderate Komponente mit zivilen Kräften aufbaut, wie Polizisten, Verwaltungsfachleute, Richter usw. Diese Experten, die von den Nationen benannt werden, sollen von der NATO ausgebildet und dann gegebenenfalls in den Einsatz geschickt werden.
Das Verhältnis zu Russland ist der zweite wichtige, auf diesem Gipfel wohl besonders positiv besetzte Themenkomplex, über den gesprochen werden wird. Die letzten Signale, die Generalsekretär Rasmussen bei seinem Besuch in Moskau bekam, sind so freundlich, dass vieles, was in den Wandelgängen der NATO erzählt wird, nahezu euphorisch klingt. Zunächst ist es formal ein Erfolg, dass Russlands Präsident Medwedew zum NATO-Russland-Rat am Samstag nach Lissabon kommen wird. Außenminister Guido Westerwelle freut sich:
"Aber wir werden alle anerkennen müssen, dass hier eine enorme Bewegung stattgefunden hat. Wenn man sich vorstellt, was vor 20, 30 Jahren noch diskutiert worden ist, und man sich jetzt ansieht, dass Russland von der NATO eingeladen wird, bei der Abwehr und bei der Sicherheit mitzumachen, und dass Russland sich nicht verweigert, sondern sagt, wir sehen uns das an, wir prüfen das, wo auch unsere Möglichkeiten sind, das ist eine historische Entwicklung, die wir auch nicht mal so eben durchwinken sollten, sondern das ist ein Moment, wo wir uns darüber freuen sollten. Das ist in Wahrheit die Friedensdividende ganz langer Bemühungen."
Wie sehr sich die Stimmung gewandelt hat, zeigt ein Zitat des russischen Botschafters bei der NATO, Rogosin, das in Brüssel hinter vorgehaltener Hand die Runde macht: Die NATO, so habe der Diplomat gesagt, sei früher die Hölle für einen Russen gewesen, jetzt dagegen sei es eine "cosy corner", eine gemütliche Ecke. Der Wandel in der russischen Einschätzung der NATO sei "titanisch". "Lasst uns substanziell reden, lasst uns die Skepsis beiseite schieben", meinte der Diplomat aus Moskau. Das neue Verhältnis soll sich im neuen Konzept der NATO niederschlagen. Zwar wird noch über einzelne Elemente verhandelt, die die verbesserte Zusammenarbeit festschreiben sollen. Aber einiges ist schon heute erkennbar. NATO-Generalsekretär Rasmussen:
"Die Substanz auf der Tagesordnung zwischen Russland und der NATO ist, dass wir eine solide Zusammenarbeit aufbauen werden: beim Thema Afghanistan, bei der Sicht auf die Herausforderungen, vor denen wir heute gemeinsam stehen, und bei einem noch effektiveren Kampf gegen Terrorismus, Drogen und Piraterie. Das ist ein ganz schönes Paket."
In der Erklärung, die für den NATO-Russland-Rat vorbereitet wird, heißt es dem Vernehmen nach, dass eine gemeinsame Analyse für die Sicherheitsrisiken erstellt werden soll. Die Zusammenarbeit der Geheimdienste soll ausgebaut, die jeweiligen Erkenntnisse ausgetauscht werden. Die NATO darf künftig auch Waffen und Munition über russisches Gebiet nach Afghanistan transportieren, bislang waren diese Güter von der Durchfahrtsgenehmigung ausgenommen. Zudem ließ Moskau nur Transporte nach Afghanistan zu, nun sollen Transporte in beide Richtungen möglich werden. Russland hat zudem angeboten, den Engpass bei Hubschraubern, wie er derzeit bei der NATO und bei der afghanischen Armee besteht, aufzufüllen. Bei der Bekämpfung des Drogenanbaus auf afghanischem Boden und dem anschließenden Transport der Drogen sollen die schon bestehenden Kooperationen ausgeweitet werden. Möglich wären da auch gemeinsame Grenzpatrouillen zwischen Afghanistan und den Staaten der früheren Sowjetunion.
Der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen NATO und Russland spielt auch im Zusammenhang mit dem geplanten Raketenabwehrschirm eine gewichtige Rolle. Die NATO wird den Aufbau eines solchen Schirms in Lissabon wohl beschließen, jedoch nicht mehr als Schirm, den die USA in einigen Ländern errichten wollen, sondern als Projekt der gesamten NATO. Die Allianz will gemeinsam mit Russland analysieren, welche Bedrohung durch ballistische Raketen hervorgerufen wird. Generalsekretär Rasmussen spricht von 30 Staaten, die über Raketen verfügen dürften, die Nuklearsprengköpfe tragen können. Damit vermeidet Rasmussen, nur den Iran als Bedrohung zu benennen. Russland, aber auch das NATO-Mitglied Türkei würden sich bei der Raketenabwehr schwer tun, wenn diese in Gipfeldokumenten als reine "Anti-Iran-Politik" beschrieben würde. Russland ist in der internationalen Gemeinschaft eine Art "Anwalt" für die Iraner, die Türkei ist als direkter Nachbar vor allem an einer Entspannung der Lage um den Iran interessiert. Allerdings machen alle anderen in der NATO Iran als die eigentliche Bedrohung aus. Die Türkei hat in dieser Woche jedoch zur Bedingung gemacht, dass sie die Führung bei dem Verband bekommt, der die Abwehrsysteme einsetzt. Damit ist der erreichte Konsens über das Raketenabwehrsystem wieder gefährdet.
Vielleicht gelingt es den Gipfelteilnehmern, mit der Formel der 30 Bedrohungskandidaten einen Weg für eine breite Kooperation zu begründen. Zunächst muss aber die NATO dieses Programm beschließen, das den Mitgliedsländern auch Kosten abverlangen wird. Danach soll der NATO-Russland-Rat den Auftrag bekommen, bis Juni 2011 die Optionen für eine gemeinsame Raketenabwehr zu entwickeln. Das soll mit einer gemeinsamen Bedrohungsanalyse beginnen. In der NATO kann man sich dann eine Zusammenarbeit bei den Systemen für den Einsatz, den sogenannten Command and Control-Systemen, bei der Technik für die Abwehrraketen und bei der Finanzierung vorstellen.
Bundesaußenminister Westerwelle hat ein besonderes Anliegen in die Beratungen der NATO um ein neues Konzept eingebracht: die nukleare Abrüstung. Der Minister im Bundestag:
"Ein entscheidendes Ziel ist es, dass die NATO sich auch dem Thema Abrüstung und auch Rüstungskontrolle verschreibt. Wir haben im Frühjahr, nämlich bei den Beratungen im April, eine ganze Reihe von Verbündeten dafür gewinnen können. Wir alle wissen, dass die Vision von Präsident Obama von einer nuklearwaffenfreien Welt natürlich ein sehr langfristiges Ziel ist, aber es ist ein vernünftiges Ziel, und Schritte in diese Richtung wollen wir auch unterstützen, und deswegen ist eine reduzierte Rolle von Nuklearwaffen zurecht auch Teil der Strategie, die wir als Bundesregierung unterstützen wollen."
Dabei wurde aber deutlich, dass es schon in der Bundesregierung Meinungsunterschiede bei der Gewichtung dieses Themas gibt. Verteidigungsminister zu Guttenberg setzt die Akzente anders. In seiner Aufzählung von Aufgaben streifte er das Thema nur kurz:
"Zum Zweiten glaubhafte, wirksame, aber auch realistische Abrüstungsschritte, zum Dritten eine ausbalancierte nukleare Abschreckung."
In der NATO provoziert die Position Westerwelles Kopfschütteln. Die neuen NATO-Mitglieder sind der Allianz beigetreten, weil sie sich vom Nuklearschirm der NATO, aufgebaut vor allem durch die USA, mehr Schutz für ihre eigene Sicherheit erhoffen. Sie wären nicht damit einverstanden, wenn dieser Schirm abgeschafft würde. Auch die Nuklearstaaten in der NATO, die USA, Großbritannien und Frankreich sind nicht bereit, einseitig auf Nuklearwaffen zu verzichten. Die nun bekannt gewordenen Probleme bei der Ratifizierung des zwischen Russland und den USA im vergangenen Jahr abgeschlossenen Rüstungskontrollabkommens START machen deutlich, dass in diesen Fragen zur Zeit Fortschritte schwierig zu erreichen sind. Zudem wird nukleare Abrüstung vor allem in den USA nicht mehr nur als ein Ziel gesehen, das allein mit Russland auszuhandeln ist. Auch die anderen Nuklearstaaten in der Welt – also zum Beispiel China, Indien, Pakistan, Israel, um nur vier zu nennen – sollen in diesen Prozess eingebunden werden. Abrüstung geht also nur noch weltweit.
Vor diesem Hintergrund ist die Vereinbarung zwischen Großbritannien und Frankreich von Bedeutung. Die beiden früheren Rivalen auf der europäischen Bühne haben beschlossen, die jeweiligen Nuklearwaffenarsenale gemeinsam modern zu halten. Viele Experten interpretieren die Tatsache, dass dieses Abkommen nur wenige Wochen vor dem NATO-Gipfel zustande kam, auch als eine Antwort auf die Vorstöße Westerwelles. Andreas Schockenhoff, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion, formuliert einen möglichen Ausweg:
"Die Maxime von Präsident Obama, dass die NATO so lange zur Abschreckung bereit und in der Lage sein muss, wie es Atomwaffen in dieser Welt gibt. Im Umkehrschluss gilt aber auch, dass die NATO sich der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen verschreiben wird, und das Prinzip anerkennen muss, dass sie nicht nuklearen Staaten, die dem Nichtverbreitungsvertrag angehören, und den entsprechenden Verpflichtungen nachkommen, niemals mit dem Einsatz von Nuklearwaffen drohen wird."
Was bringt der Gipfel also? Die NATO wird auch nach dem Gipfel keine neue Allianz sein. Und das neue strategische Konzept ist, wie es ein Diplomat formuliert, lediglich die "Fotografie des Augenblicks". Nochmals Andreas Schockenhoff:
"Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Raketen hat unmittelbare Konsequenzen für unsere Sicherheit. Die Folgen des Klimawandels können zu Konflikten um natürliche Ressourcen oder Siedlungsräume und zu großen Migrationsströmen mit sicherheitspolitischen Auswirkungen für uns führen. Cyber-Attacken und mögliche Angriffe auf Handelsrouten und unsere Energieversorgung sind neue Dimensionen der konkreten Bedrohungen für unser Land."
Dass in allen NATO-Ländern zurzeit eine Sparpolitik betrieben wird, ist für Generalsekretär Rasmussen kein großes Problem. Es gelte vielmehr, die richtigen Prioritäten zu setzen:
"In einer Zeit fiskalischer Beschränkungen müssen wir uns darauf konzentrieren, was am meisten gebraucht wird. Zum Beispiel: Schutz vor Bomben am Straßenrand für unsere Truppen oder medizinische Unterstützung oder Lufttransport."
Die NATO zieht sich in Lissabon also kein neues Gewand an, sie nimmt nur an den Stellen Änderungen vor, an denen das Gewand nicht mehr passt.