Archiv

Alte Musik
Temporeiche Live-Aufnahme der "Matthäuspassion"

Sir John Eliot Gardiner ging 2016 auf eine Tournee de Force – 16-mal spielte er mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists die "Matthäuspassion". Die letzte Aufführung, jene in Pisa, kann man nun auch auf CD hören. Erschienen ist sie bei dem Label, das Gardiner gegründet hat und auf dem er nur Aufnahmen seiner eigenen Ensembles veröffentlicht.

Von Bernd Heyder |
    Sir John Eliot Gardiner, Präsident der Stiftung Bach-Archiv Leipzig, sitzt am 13.06.2014 bei einer Pressekonferenz vor einem Porträt des Komponisten Johann Sebastian Bach. Vom 13. bis 22. Juni 2014 findet das Bachfest Leipzig statt, das diesmal das Werk des zweitältesten Bach-Sohnes, Carl Philipp Emanuel Bach in den Mittelpunkt rückt. Bei rund 110 Veranstaltungen werden insgesamt etwa 70.000 Besucher erwartet. Foto: Sebastain Willnow/dpa
    Besessen von Bach: Sir John Eliot Gardiner liefert in seinem Bach-Buch die Theorie zur Live-Aufnahme der "Matthäuspassion". (picture alliance / dpa / Sebastian Willnow)
    "Soli Deo Gloria – Gott allein die Ehre": Das ist ein Motto, mit dem Johann Sebastian Bach häufig seine Kompositionspartituren abgeschlossen hat. Es findet sich auch am Ende der Reinschrift, die er Mitte der 1730er Jahre von seiner Matthäuspassion angefertigt hat – jener oratorienartigen Vertonung der Leidensgeschichte Jesu, die seit ihrer Wiederaufführung durch Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 in Berlin als der Höhepunkt der protestantischen Kirchenmusik gilt.
    "Soli Deo Gloria", so hat auch der Dirigent John Eliot Gardiner sein Plattenlabel getauft, für das er seit 2005 alle Aufnahmen mit seinem Monteverdi Choir und seinen English Baroque Soloists in Eigenregie produziert. Kürzlich hat Gardiner dort seine zweite Einspielung von Bachs Matthäuspassion veröffentlicht.
    Diese Aufnahme der Matthäuspassion ist am 22. September des vergangenen Jahres als Konzertmitschnitt im Dom von Pisa entstanden, wo Gardiner und seine Ensembles im Rahmen einer Europa-Tournee zu Gast waren. Neben dem Monteverdi Choir zieht Gardiner hier für den Eingangssatz und die Schlusschöre der beiden Passionsteile noch die Knabensoprane des Londoner Trinity Boys Choir als weitere Chorgruppe heran.
    Zu Beginn tragen sie die choralweise "O Lamm Gottes unschuldig" vor, die Bach kunstvoll zwischen den hin- und herwogenden Gesang der beiden Hauptchöre eingeflochten hat.
    Musik: 1. Chor "Kommt, ihr Töchter"
    Eine spannungsreiche Dynamik kennzeichnet die Eröffnung der Matthäuspassion in der Neueinspielung von John Eliot Gardiner. Sein Monteverdi Choir sorgt mit nur 28 Sängerinnen und Sängern, die sich auf zwei Chorgruppen verteilen, für das opulente Klangbild; das ebenfalls doppelchörige Begleitensemble der English Baroque Soloists besteht aus insgesamt 35 Instrumentalistinnen und Instrumentalisten.
    Seit annähernd vier Jahrzehnten prägt der bald 74-jährige John Eliot Gardiner die Bach-Interpretation, auch wenn er sich in seiner künstlerischen Arbeit nie auf die Alte Musik und die historische Aufführungspraxis beschränkt hat. Im Bach-Jahr 2000 stellte er in einer aufwendigen Tournee, die durch viele europäische Städte und bis nach New York führte, sämtliche geistliche Kantaten Bachs vor, und das hat ihn offenbar zu einer noch intensiveren Auseinandersetzung mit dem Bach’schen Werk beflügelt.
    Vor drei Jahren übernahm er das neu geschaffene Amt eines Präsidenten des Leipziger Bach-Archivs. Seine Bach-Biografie von 2013 ist vor einigen Monaten in deutscher Übersetzung erschienen. Einige Zitate daraus finden sich im Beiheft dieser CD-Produktion wieder.
    Was die monumentale Eröffnung an Intensität vorlegt, das wird auch in den folgenden gut zweieinhalb Stunden der Aufnahme in je eigener Weise eingelöst: in der rezitativischen, durch Choreinwürfe bereicherten Schilderung der Leidensgeschichte Jesu ebenso wie in ihrer Reflexion durch Accompagnato-Rezitative, Arien und Choräle.
    Mit James Gilchrist hat Gardiner einen der besten englischen Oratorien-Tenöre unserer Tage als Evangelisten an seiner Seite.
    Musik: 38. Rezitativ "Und über eine kleine Weile …"
    1989 hat John Eliot Gardiner die Matthäuspassion mit seinem Chor und seinem Orchester schon einmal bei der Archiv-Produktion auf Schallplatte vorgelegt. Den damaligen Evangelisten, Anthony Rolfe-Johnson, übertrifft jetzt James Gilchrist deutlich in der Subtilität der Textausdeutung. Ihm steht mit Stephan Loges ein Bassist gegenüber, der die Christusworte mit dunkler, kraftvoller Stimme singt.
    Die Person Jesu erscheint hier kämpferischer als in der älteren Aufnahme mit der schlankeren Bariton-Stimme von Olaf Bär in dieser Partie. Im Folgenden haben wir zum Vergleich die Einsetzungsworte beim Letzten Abendmahl in beiden Fassungen nebeneinander gesetzt; Sie hören zunächst die ältere mit Olaf Bär, dann die neue mit Stephan Loges:
    Musik: 11. Arioso "Trinket alle daraus"
    Das Textbuch zur Matthäuspassion, die Bach erstmals am Karfreitag 1727 aufführte, hat der Leipziger Poet Christian Friedrich Henrici alias Picander geschrieben. Seine Dichtungen rahmen und gliedern den Bibelbericht durch betrachtende Dialoge zwischen einer allegorischen "Tochter Zion" und der Gemeinde der "Gläubigen".
    John Eliot Gardiner hält seine Musiker dazu an, sich mit aller Konzentration auf die tief emotionale Vertonung Bachs einzulassen. Dazu hat er diesmal sogar von Chor und Solisten gefordert, dass sie das Werk auswendig singen, erfährt man im Begleittext. Von der Evangelisten- und der Christuspartie abgesehen, werden auch die Soli sämtlich von Mitgliedern aus dem Monteverdi Choir übernommen.
    Musik: 60. Arie "Sehet, Jesus hat die Hand
    Der Countertenor Reginald Mobley singt als Solist des ersten Chores in der Alt-Arie "Sehet, Jesus hat die Hand uns zu helfen ausgespannt" im Dialog mit dem gesamten zweiten Vokalchor. Einige andere Alt-Soli, darunter die "Erbarme dich"-Arie, hat Gardiner der Mezzosopranistin Eleanor Minney anvertraut, die in ihrem hellen Timbre dem männlichen Alt-Kollegen recht ähnlich ist. Die Violinsolistin ist hier Kati Debretzini, die Konzertmeisterin der vortrefflich spielenden English Baroque Soloists.
    Musik: 39. Arie "Erbarme Dich"
    Von den insgesamt 17 Stimmen aus dem Monteverdi Choir, die in der Aufnahme auch solistisch zu hören sind, dürfte hierzulande die Sopranistin Hannah Morrison am bekanntesten sein, die in Köln lebt und auch mit Ensembles wie Les Arts Florissants, dem Ricercar Consort und dem Bach Collegium Japan zusammenarbeitet.
    Ihr sind die innigen Arien "Ich will dir mein Herze schenken" und "Aus Liebe will mein Heiland sterben" vorbehalten, inklusive der vorausgehenden Accompagnato-Rezitative. Mit Musikern wie den Oboisten Michael Niesemann und Mark Baigent stehen auch Hannah Morrison kongeniale Begleiter zur Seite.
    Musik: 48. Rezitativ "Er hat uns allen wohlgetan"
    Bach hat seine Arien jeweils dezidiert einem Sänger des ersten oder des zweiten Chores zugewiesen; dieser Aufteilung folgt Gardiner aber nicht konsequent. Dagegen sind in der Aufnahme hervorragend Rede und Gegenrede der Volksmenge im Wechselspiel der beiden Chöre zu verfolgen.
    Wenn sie sich dann nach der Schilderung der Todesstunde Jesu zur Choralstrophe "Wenn ich einmal soll scheiden" vereinigen, lässt Gardiner das im Piano singen und nur im Pianissimo stützen. Damit kommt er der romantischen Tradition sehr nahe, diesen Choral in der Matthäuspassion a cappella singen zu lassen. Bach fordert allerdings für alle Choralsätze die volle Instrumentalbegleitung.
    Musik: 62. Choral "Wenn ich einmal soll scheiden"
    Mit Erscheinen dieser Neuaufnahme hat man nun zwei Interpretationen der Matthäuspassion mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists zur Auswahl – und da übertrifft die neue Aufnahme die ältere in den Nuancen der Deklamation und der Farbintensität. Im Prinzip ist sich John Eliot Gardiner über die drei Jahrzehnte, die zwischen den beiden Produktionen liegen, aber interpretatorisch treu geblieben.
    Im beredten Musizieren mit einem Originalklangorchester und einem kleineren Kammerchor aus auch solistisch erfahrenen Profisängern spiegeln letztlich beide Aufnahmen den allgemein hohen Standard heutiger Bach-Interpretationen auf dem Tonträger-Markt.
    Grundsätzliche Interpretations-Alternativen dazu haben in den letzten Jahren drei CD-Produktionen der Matthäuspassion unter Paul McCreesh, John Butt und Sigiswald Kuijken angeboten, die in einer Zuspitzung der historischen Aufführungspraxis auch die Chorsätze nur von einem Solisten-Ensemble singen lassen.
    Zu einer solch radikalen Deutung der Bach’schen Notenquellen geht John Eliot Gardiner auf Distanz. Mit seiner technisch nahezu perfekten Neueinspielung der Matthäuspassion hat er aber auf jeden Fall eine sensible, bewegende und entsprechend empfehlenswerte Aufnahme vorgelegt.
    Musik: 68. Chor "Wir setzen uns mit Tränen nieder"
    Vorgestellte CD:
    Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Leitung: John Eliot Gardiner. Mit James Gilchrist, Stephan Loges, English Baroque Soloists Monteverdi Choir, Trinity Boys Choir. Label: "Soli Deo Gloria" 725 (2 CDs), Vertrieb: Helikon, Labelcode 13772