Das Sankt-Nicholas-Altenheim in Beit Jala, einem christlichen Dorf im Westjordanland nahe Bethlehem. Vier alte Damen sitzen an diesem Vormittag im Esszimmer zusammen, aus dem Fernseher dudelt eine ägyptische Seifenoper. Eine der Bewohnerinnen ist Rita. Früher hat sie als Touristenführerin in der arabischen Welt gearbeitet, im Irak, im Libanon und in Ägypten. Jetzt ist sie gesundheitlich angeschlagen; sie kann nicht mehr alleine laufen: "Ich bin seit einem Jahr und zwei Monaten hier, weil ich gefallen bin und mir beide Beine gebrochen habe. Hier schaue ich Fernsehen oder sitze mit den anderen zusammen."
Gerade ist Henry gekommen, Ritas Bruder. Der 72-Jährige lebt seit Jahren in Kanada und sieht seine Schwester nur noch einmal im Jahr. "Ich kümmere mich um das alte Haus meiner Eltern und um meine Schwester. Ich habe für sie Medikamente besorgt. Lange werde ich nicht mehr hier in Beit Jala sein. Danach kommt mein Bruder für drei Monate."
Das Altenheim sei für Rita die Rettung, sagt Henry: "Wir wüssten nicht, wer sich sonst um sie kümmern könnte. Die Situation ist akut. Jemand muss sich um die Alten kümmern, die ihr Leben lang gearbeitet haben."
Altenpflege ist keine Familiensache mehr
Altenheime wie das Sankt Nicholas sind in der arabischen Welt ein neues Phänomen. Seit ein paar Jahren öffnen immer mehr Einrichtungen dieser Art im Westjordanland, viele davon gehören zu christlichen Gemeinden.
Früher war es Familiensache: Die Kinder kümmerten sich um die Eltern, wenn diese nicht mehr konnten. Der Zusammenhalt zwischen den Generationen war stark. Das galt für Christen wie für Muslime, erklärt der Islamwissenschaftler Mustafa Abu Suay von der Al Quds Universität in Jerusalem: "Das sieht man schon an der Architektur: Die Häuser hier haben ein großes Zimmer, einen Saal. Früher wurden dort Kinder geboren, Großeltern starben dort. Im gleichen Zimmer haben Familienangehörige geschlafen, es war Ess- und Wohnzimmer. Drei Generationen waren in einem Raum versammelt. Das war wunderbar, alles hat dort stattgefunden."
Lange Zeit galt es als Schande, die Alten in ein Heim zu geben. Das Sankt Nicholas war eines der ersten, das bereits Ende der 70er Jahre eröffnete – zunächst nur als Obdachlosenunterkunft für Senioren. Gerade mal drei Bewohner waren es damals. Bis heute können hier bedürftige Senioren kostenlos wohnen, das Heim wird unter anderem durch Spenden finanziert.
500 Euro für einen Platz im Seniorenheim
Es sind religiöse Einrichtungen, die einspringen, wenn die Familie fehlt. Denn ein staatliches Auffangnetz gibt es nicht, erklärt Abu Suay: "Die Idee einer Rente gibt es hier nicht. Das Familiennetzwerk ist stark, und es ist Sache der Familie, sich um die Eltern zu kümmern. Und am schönsten ist es eben, sie zu Hause zu haben. In unserer Kultur ist man sehr zurückhaltend, die Eltern in ein Altenheim zu geben."
Heute ist ein Altenheim in der arabischen Welt auch ein neues Zuhause für Menschen wie Rita, die nicht erzählen möchte, ob sie verheiratet war oder Kinder hat. Ihren Aufenthalt bezahlt ihr Bruder. Umgerechnet rund 500 Euro sind es monatlich. In Fällen wie ihrem geht nicht so sehr ums Geld, sondern darum, dass keiner mehr Zeit hat.
Wie Henry sind in den vergangenen Jahrzehnten viele Palästinenser ins Ausland gezogen. Zurück blieben die Alten, sagt Nizaz Ardscha. Er leitet das Sankt-Nicholas-Altenheim ehrenamtlich. "Das Heim hier wurde errichtet, weil viele Palästinenser ins Ausland gezogen sind, nach Südamerika, Chile oder Peru. Sie haben ihre Eltern zurückgelassen, die damals noch jung waren. Aber jetzt, 30 Jahre später, sind die 60 oder 70. Sie haben ein Haus, können sich aber nicht mehr kümmern. Deswegen haben wir dieses Heim hier eröffnet."
Die Finanzierung vieler Heime stockt
Muslime hätten lange Zeit Vorbehalte gegen Altenheime gehabt, sagt Nizaz Ardscha. Mittlerweile bekomme er aber fast täglich Anfragen, sowohl von Christen als auch von Muslimen.
Birzeit, ein kleiner Ort knapp 50 Kilometer nördlich von Beit Jala. Pfarrer Fedi Diab ist im Auto unterwegs, er will zeigen, dass auch seine Gemeinde, die Episkopalkirche, das Problem erkannt hat. Im kommenden Jahr soll hier das Sankt-Peter-Altenheim eröffnen: "Wir haben hier einen Gemeinschaftssaal und zwei Stockwerke, eines für Männer, eines für Frauen. Rund 40 Leute werden hier wohl Platz finden."
Wie in den meisten Fällen im Westjordanland ist auch Sankt Peter ein Projekt, das von Spenden abhängt. Und die sind in Zeiten von Krisen und Kriegen im Nahen Osten knapp, weswegen das Projekt immer wieder ins Stocken gerät. Doch Fedi Diab gibt nicht auf. Auch weil er weiß, dass der gesellschaftliche Wandel nicht aufzuhalten ist und das Heim für die Alten immer wichtiger wird:
Bingo spielen, gemeinsam essen, Ausflüge machen
"Das Leben hier hat sich in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren dramatisch verändert. Ich erinnere mich, dass in Palästina früher nur wenige Frauen gearbeitet haben. Die Älteren blieben also zu Hause und die Tochter oder Schwiegertochter kümmerte sich. Jetzt arbeiten immer mehr Frauen. Das heißt aber, dass keiner mehr da ist, um die Alten zu pflegen."
Die "Holy Land Christian Ecumenical Foundation", eine ökumenische Stiftung, hat vor einigen Jahren in Birzeit ein Seniorenzentrum gegründet. Rund 30 ältere Frauen und Männer aus Birzeit kommen hier an drei Tagen in der Woche zusammen, die 73-jährige Georgette ist eine von ihnen: "Im Winter haben wir einen Ausflug nach Jericho gemacht. Heue spielen wir Bingo, das dauert vielleicht eine halbe Stunde. Dann gehen wir heim."
50 Schekel, also rund zehn Euro monatlich zahlen sie für das Essen, den Fahrdienst und für die Gemeinschaft, die sie hier gefunden haben. In Zeiten, in denen die Generationen auseinanderdriften, haben Menschen wie Georgette im Seniorenzentrum eine Ersatzfamilie gefunden.