Ein Espresso ist an sich schon nicht viel. Verteilt auf 50 kleine Pappbecher wird er noch weniger. Geteilt hat man dann zwar, aber ist noch etwas zu trinken da? Außer einem Hauch von brauner, klebriger Flüssigkeit auf den Böden der Becher bleibt eigentlich nichts übrig von der Gabe. Diese ist im Akt ihres Vollzugs bereits zur Spur geworden. Sichtbar und auch ausstellbar, nur: Wer hat wirklich etwas davon? Dennoch, bei aller Fragwürdigkeit und Endlichkeit dessen, was da verteilt wurde, zeigt ein Arrangement dieser 50 Becher auf dem Boden einer Galerie auf jeden Fall eines, nämlich dass überhaupt geteilt wurde.
In der Installation "One espresso poured between fifty cups" macht die Künstlerin Barbara Prokop Fragen sinnfällig, die mit der Gabe und dem Geben verbunden sind. Was sollen wir geben und in welchem Umfang? Wem und wie vielen? Ist die Gabe immer materiell zu denken? Geht es möglicherweise darum, zu geben, was man nicht hat? Und wie nachhaltig muss die Gabe sein? Prokops Installation ist eines von zahlreichen Kunstwerken, die Anfang des Jahres von der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst in München in der Ausstellung "Die Gabe" präsentiert wurden. Eine Schau, der es nicht darum ging, das genuin christliche Thema der Gabe als solches zu illustrieren, sondern die einen vielschichtigen gedanklichen Raum öffnete, der das Thema in gesellschaftlich höchst relevante Systeme hineintrug: Politik, Ökonomie, Soziologie, Theologie und die Wirklichkeit.
Denn man muss sich in diesen Tagen nicht in Ausstellungen begeben, um auf den Komplex der Gabe zu stoßen. Die zahllosen Flüchtlinge, die in den europäischen Ländern Aufnahme suchen und auf Hilfe hoffen, konfrontieren uns täglich mit der Frage, was wir bereit sind, zu geben. Und was diese Menschen uns geben. Nichts als Bedrohung und Nutznießertum, ist die eine Antwort, die inzwischen lautstarke Kanäle und breiten Nachhall findet. Dankbarkeit, Arbeitskraft und kulturelle Vielfalt die andere. Es ist die Antwort derer, die an Bahnhöfen klatschen, Hilfe leisten und spenden.
So weit diese beiden Positionen voneinander entfernt scheinen, so spürbar wird in beiden eine grundsätzliche Struktur des Gebens. Nämlich, dass Geben und Nehmen miteinander verschränkt sind. Die reine Gabe, also die, die nichts fordert oder nicht doch auf einen wie auch immer gearteten Gewinn ihres Tuns hofft, bleibt meist theoretisch. Selbst da, wo sie immer schon Maßgabe ist, also im religiösen Kontext, wo Gottes Gnade sich fortsetzen soll im menschlichen Geben und Schenken, schwingt letztlich Erwartung mit. Nämlich auf die Honorierung dieses Tuns im Jenseits.
Was eigentlich nicht schlimm ist, solange dieses Zusammenspiel von Geben und Nehmen offenbleibt, unkalkulierbar und riskant. Solange es ambivalent bleibt und komplexes soziales Tun. Denn erst, wenn die Gabe wie selbstverständlich mit einer äquivalenten Gegengabe verknüpft ist, wird sie ökonomischer Tausch. Sie verlässt ihr Terrain und verliert das Potenzial, eben solche Kreisläufe der Ökonomie zu torpedieren.
Kreisläufe, die heute überall wirken und nicht zuletzt mit Auslöser dessen sind, was sich uns in Form von Terror, Migrationsströmen oder Klimaerwärmung aufdrängt. Die Gabe kann liebend sein und solidarisch. Wohltätig oder sich dem Tausch annähern. Sie kann harmlos, ja sogar stützend sein für ein Gesellschaftssystem, das sich dem Diktum der Ökonomie und des Marktes unterworfen hat. Sie kann aber auch subversiv gedacht werden und voller Sprengkraft gegen dieses System. Ein Blick auf Denkfiguren der Gabe, wie sie gerade in Philosophie, Soziologie und auch in der Kunst Konjunktur haben, zeigt, wie vieldeutig dieses Phänomen zu verstehen ist.
Die Gabe als Zwischenraum und soziale Handlung
"Die Welt, die keinen Ort braucht", so nennt Zenita Komad ihre Installation, die in der Münchner Gaben-Ausstellung zu sehen war. Zwei kreisrunde Karten der beiden Hemisphären sind einander gegenüber aufgehängt. Durch zahllose rote Seile, die sich in der Mitte ihrer Wegstrecke durch den Raum überkreuzen, sind die beiden Welten miteinander verbunden. Den Ursprung der Seile bilden jeweils auf den Karten applizierte Unendlichkeitszeichen. "Die Welt, die keinen Ort braucht" zeigt Welt als Zwischenraum von zwei Polen, als Verbindung und Dualität gleichermaßen. Wofür die Seile stehen, bleibt dabei offen. Wird hier eine wirtschaftlich global vernetzte Welt dargestellt? Oder veranschaulicht die Installation eher ein Geben als soziales Tun, durch das sich Gesellschaften begegnen und zugleich voneinander abgrenzen, sich also Identität geben?
Schon 1924 hat der französische Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss in seinem Essay "Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften" den Gabentausch als Inbegriff von Sozialität und interkulturellem Austausch konzipiert. Seine Schrift ist in Frankreich inzwischen ein Klassiker der Soziologie und erfährt seit einiger Zeit auch in Deutschland breitere Aufmerksamkeit. Die Gabe ist bei Mauss ein komplexes soziales Phänomen, durch das sich Gesellschaft überhaupt erst bildet. Bei Mauss heißt es:
"Die Tatsachen, die wir untersucht haben, sind - man gestatte uns den Ausdruck - totale gesellschaftliche Tatsachen, das heißt Tatsachen, die in einigen Fällen die Gesellschaft und ihre Institutionen in ihrer Totalität in Gang halten. All dies sind gleichzeitig juristische, wirtschaftliche, religiöse, sogar ästhetische, morphologische Phänomene."
Mauss kommt zu dieser Einsicht, indem er ethnologische Studien zu rituellen Praktiken des Gabentausches in sogenannten primitiven Gesellschaften untersucht und analysiert. Beim Kula auf den Trobriand-Inseln etwa werden Schiffe mit Geschenken gefüllt, die zu einer Nachbarinsel transportiert und dann bei langen Festen mit Gaben der dortigen Einwohner getauscht werden. Mit den erhaltenen Geschenken brechen die Seefahrer zur nächsten Insel und zum neuen Gabentausch auf.
Im Potlatch der frühen Völker an der Nordwestküste Amerikas entspinnt sich so etwas wie ein Wettstreit des Gebens zwischen zwei Stammeshäuptlingen. Durch Geschenke und festliche Einladungen behandelt man sich einerseits als Partner. Zugleich geht es permanent darum, sich in der Praxis des Gebens zu überbieten, was bis in den Ruin führen kann.
Die durchgängige Struktur, die sich in diesen Praktiken zeigt, ist die von Geben, Annehmen und Erwidern. Eine soziale Interaktion also, die nur vordergründig freiwillig ist. Der Zwang zur Erwiderung bleibt für Mauss das besondere Geheimnis des Gabentausches. Eine Erklärung liegt für ihn in der fast magisch anmutenden Präsenz des Gebers in der Gabe, die den Empfänger zur Erwiderung zwingt. In seiner Beschreibung dieses Phänomens wird auch der eigentliche Sinn und Zweck des Gebens deutlich:
"Wenn man die Dinge gibt und zurückgibt, so eben deshalb, weil man sich Ehrfurchtsbezeigungen und Höflichkeiten erweist und sie erwidert. Aber außerdem gibt man beim Geben sich selbst, und zwar darum, weil man sich selbst - sich und seine Besitztümer - den anderen schuldet."
Die Gabe geht nicht in einer Äquivalenzbeziehung auf, sondern enthält immer mehr. Der Geber gibt etwas von sich, etwas umsonst, das Gegengabe fordert. Und doch behält die Interaktion immer auch das Risiko der Nichterwiderung. Auch, wenn Mauss mit der Wortwahl vom Schuldner einen Begriff der Ökonomie nutzt, so wird insgesamt klar, dass es im rituellen Gabentausch nicht um Profit geht. Vielmehr stiften die ihn ausmachenden Respektsbekundungen und Höflichkeiten Sozialgefüge, können Konflikte kontrollieren und es ermöglichen, dem Gegenüber - auch dem Fremden - friedfertig zu begegnen. Mauss schreibt:
"Indem die Völker die Vernunft dem Gefühl entgegenstellen und den Willen zum Frieden gegenüber plötzlichen Wahnsinnstaten geltend machen, gelingt es ihnen, das Bündnis, die Gabe und den Handel an die Stelle des Kriegs, der Isolierung und der Stagnation zu setzen."
Die Gabenpraxis als komplexe soziale Handlung, wie sie sich in den ganz anderen Gesellschaftsformen der Stämme zeigt, wird bei Mauss, der in seinem Essay dezidiert Kritik an der modernen, rein ökonomisch orientierten Gesellschaft übt, zum Vorbild:
"So gibt es in der ganzen menschlichen Entwicklung nur eine Weisheit, und wir täten gut daran, als Prinzip unseres Lebens das anzunehmen, was schon immer ein Handlungsprinzip war und es immer sein wird: Wir sollten aus uns herausgehen, Gaben geben, freiwillig und obligatorisch, denn darin liegt kein Risiko."
Gabe als gesellschaftskritische Denkfigur
Nicht nur dieser Appell ist es, der heute für zahlreiche Intellektuelle interessant ist. Dabei hat vor allem in Frankreich die Auseinandersetzung mit der Gabe und dem Essay von Mauss eine längere Tradition. Claude Levi-Strauss, Georges Bataille, Emmanuel Lévinas, Jaques Derrida oder Paul Ricœur haben sich mit den Thesen von Mauss auseinandergesetzt und sie weiterentwickelt. Eine Rezeption, die ganz im Sinne von Mauss getragen ist vom Protest gegen die Fixierung auf eine ökonomische Ordnung. Die zugleich, wie der Soziologe Frank Adloff herausgestellt hat, aber auch damit zusammenhängt, dass man sich von reinen strukturtheoretischen Systemgedanken abwandte und wieder für das Subjekt als sozialem Akteur interessierte. Philosophische und soziologische Gabentheorie verbindet sich so mit ethischen Fragestellungen.
Sowohl der Soziologe Alain Caillé als auch der Philosoph Marcel Hénaff schließen in ihren Gabentheorien sehr ausführlich an Mauss an. Beide übernehmen die Gabe als paradoxes, weil zwischen freiwillig und obligatorisch changierendes Gefüge; als labile Interaktion aufgrund des Risikos der Nichterwiderung; als fundamentale soziale, aber eben auch dynamische Handlung. In seinem Buch "Anthropologie der Gabe" aus dem Jahr 2000 vertritt Caillé die Ansicht, dass die Gabenstruktur, wie sie von Mauss in den archaischen Gesellschaften aufgefunden wurde, heute nicht verschwunden ist, sondern vom ökonomischen Paradigma in private Zusammenhängen verdrängt wurde. Es gilt, sie im dritten, also zivilgesellschaftlichen Sektor wieder in eine breitere öffentliche Praxis zu überführen. Denn, so schreibt Caillé:
"Ihre Besonderheit gegenüber den großen, unpersönlichen modernen Funktionsmechanismen des Marktes und des Staates liegt sicherlich nicht in der Vernachlässigung von Eigennutz und Zwang, von Freiheit und Reziprozität, sondern in der Vermischung all dieser im Gleichgewicht gehaltenen Prinzipien, wohingegen in der Moderne jede Ordnung ihren je distinkten Prinzipien folgt, und deshalb im Nachhinein immer versucht werden muss, die einzelnen Prinzipien in Einklang zu bringen. Es gibt also nicht ein Modell der Ökonomie der Gabe, das als solches dem des Markts oder dem der staatlichen Wirtschaft gegenüberzustellen wäre."
Sondern - darauf läuft es bei Caillé hinaus - es geht darum, mit einer Praxis der Gabe die kapitalistische Wirtschaftsweise anzureichern und zu regulieren. Das Paradigma der Gabe ist differenzierter als ökonomisches Nutzendenken. Es schließt ein "Interesse für" mit einem "Interesse an", also Fürsorge mit Eigeninteresse und Kooperation mit Rivalität, zusammen.
Auch bei Marcel Hénaff ist die Gabe ein soziales Phänomen, das sich weder einem altruistischen Gutmenschentum, noch einem ökonomischen Tauschprinzip zuordnen lässt. In den Studien "Der Preis der Wahrheit" von 2002 und "Die Gabe der Philosophen" von 2012 versteht Hénaff die zeremonielle Gabe, die Mauss beschreibt, als Form der öffentlichen, durchaus agonal ausgetragenen und gegenseitigen sozialen Anerkennung. Sie ist abzugrenzen von einer solidarischen oder wohltätigen Gabe, wie sie in sozialen Projekten oder in privaten Beziehungen vorkommt. Auf die Frage, wie diese rituelle öffentliche Anerkennung heute, also in Gesellschaften staatlichen Typs, gewährleistet ist, antwortet Hénaff:
"Diese Anerkennung wird vom Gesetz und von der Gesamtheit der politischen und rechtlichen Institutionen bekräftigt und garantiert, die die Würde unseres Daseins als Staatsbürger, Rechtssubjekte und Hersteller von Gütern bekräftigen. Ein Erbe der zeremoniellen Gabe ist also nicht direkt aufseiten des Güteraustauschs zu suchen - wie allzu oft behauptet wurde -, auch nicht aufseiten der zeitgenössischen Formen großzügiger Unterstützung, sondern aufseiten der instituierten Rechte und der diese Rechte betreffenden Kämpfe."
Die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung beruht heute also auf symbolischer Vermittlung. Eine Vermittlung, in der die Figur des Dritten - als unser Verhältnis zur Welt, als sprachlicher Zusammenhang, nicht zuletzt als Gesetz - einbezogen ist. Ein konkretes Objekt der Gabe verschwindet hier aus dem Gabenzusammenhang, was Hénaff auch vorgeworfen wurde. Letztlich denke er die Gabe ohne Gabe. Allerdings ist seine Position vor allem dem Impuls geschuldet, gegen einen ganzen Strang von Gabenphilosophien zu argumentieren, die das, was Hénaff "Gegenseitigkeit" nennt, aus dem Blick verloren haben.
Unvereinbarkeit von Gabe und Geben
"Gift. To Give. Giving. Given. Gift, if there is any ...": der Titel von Thomas Lochers großformatiger Fotoserie, die in der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst zu sehen war, dekliniert grammatikalische Formen des Gebens durch. Nur, um am Schluss bei der Infragestellung der Gabe selbst anzukommen, also bei der Phrase "Die Gabe, wenn es denn eine gibt ...". Nicht nur damit zitiert Locher Jaques Derrida. Im gesamten Zyklus benutzt der Künstler Ausschnitte aus Derridas Text "Falschgeld. Zeit geben." Er kombiniert sie mit Medienbildern, die unterschiedliche Situationen des Gebens, der Handreichung oder der Übergabe zeigen. Derrida verfolgt in seinem Text das Konzept einer selbstlosen Gabe, die er in der Praxis für unmöglich hält.
Konkretes Geben ist seiner Ansicht nach nämlich immer schon ökonomischer Tausch. In diesem Sinne könnte man auch Lochers Zyklus deuten. So zeigen die Bilder geschäftsmäßigen Händedruck, Sitzungen, professionelle Verhandlungen. Die These Derridas, präsent in den Zitaten, und die Bilder würden sich dann gegenseitig bestätigen.
Aber die Fotos von Locher sind vielschichtiger, bilden auch andere Situationen ab: Publikumsdiskussion, Begrüßungen, Ehrenbekundung. So ergibt sich eine Opposition zu Derrida, die auch dadurch sinnfällig wird, dass der Künstler dessen Text handschriftlich kommentiert. Ob nun Bekräftigung oder Widerspruch: Auf alle Fälle dokumentiert Lochers Serie Suchbewegungen und eine kritische Befragung des Verhältnisses von Gabe und Ökonomie.
Vor allem vor der Folie einer selbstlosen Gabe lässt sich schnell an der Schlagkraft des empirischen Gebens als Alternative zur Ökonomie zweifeln. Denn welches Geben würde nicht doch immer schon eine Gegengabe erwarten, sei diese auch noch so abstrakt? Eine Einschätzung, die letztlich Gabe und Geben unvereinbar werden lässt, wie die Theorien Derridas oder Pierre Bourdieus zeigen. Ausgehend von der Idee einer "reinen Gabe", die Erwiderung und Gegenseitigkeit ausschließt, werden beide auch zu scharfen Kritikern der Thesen von Marcel Mauss.
Für Pierre Bourdieu ist das Geben strategische Selbsttäuschung. Indem wir nicht augenblicklich zurückgeben und auch nicht das Gleiche, verschleiern wir die Tatsache, dass die Gabe nicht Gabe, sondern eigentlich Tausch ist. In seiner "Praktischen Vernunft" von 1994 schreibt Bourdieu:
"Also ist das Wichtige am Gabentausch eben diese Tatsache, dass beide am Tausch beteiligten Personen mithilfe des eingeschobenen zeitlichen Intervalls, ohne es zu wissen und ohne sich abzusprechen, an der Verschleierung oder Verdrängung der objektiven Wahrheit ihres Tuns arbeiten."
Auch bei Jacques Derrida tut sich ein Spalt auf zwischen der reinen, selbstlosen Gabe und tatsächlichen Formen des Gebens. Die selbstlose Gabe wird bei ihm zur zentralen Denkfigur und treibt ihn unversehens in eine Aporie: "Die Gabe ist das Unmögliche."
Nach Derrida tritt die Gabe in dem Moment, wo sich Geber und Empfänger über ihr Tun bewusst sind, in Wechselseitigkeit, also in eine Tauschbeziehung ein. Gabe als allgemeines Phänomen einerseits, und Geben als konkrete Geste andererseits sind unvereinbar. Derrida formuliert es so:
"Die Gabe selber wird nie mit der Präsenz ihres Phänomens zusammenfallen."
Die freigiebige, einseitige, reine Gabe bleibt theoretisch, transzendent, aökonomisch. Wenn überhaupt, dann ließe sie sich nur als unkalkulierbares und unerkanntes Ereignis denken. Marcel Hénaff kritisiert, dass Derrida auf zwei unterschiedlichen Ebenen argumentiert, die man nicht einfach miteinander verschalten könne. Derrida vermische ein phänomenologisch geprägtes Verständnis der Gabe mit einer sozialen Praxis.
Gegebenheit
In der Phänomenologie wird die Gabe im Begriff von der "Gegebenheit" relevant: Die Welt ist gegeben. Sie liegt unserer Existenz und Erkenntnis zugrunde, ist gegebene Realität. Dieser Gedanke ist lange bekannt aus dem Bereich der Theologie. Hier kommt die Gegebenheit von Gott und bezeichnet die göttliche Schöpfung. Diese erste göttliche Gabe setzt sich fort in Geistesgaben und Selbsthingabe Jesu. Aufgrund ihrer ist der Mensch dazu angehalten, selbst Gebender zu sein, am Nächsten Gutes zu tun, das ihm Gegebene zu teilen.
In der Phänomenologie - etwa bei Heidegger - wird die Gegebenheit verbunden mit der Zeit. Wir befinden uns in der Zeit, wir empfangen sie. Die Zeit ist deshalb Grundlage jeder Beziehung, auch der Gabenbeziehung. Letztere wird bei Derrida zum Ausdruck für die grundsätzliche "Gabe der Zeit" par excellence. Aber nur in dem Maße, wie sie nicht als ein Geben erscheint, das über sein Geben Bescheid weiß und Tausch wäre. Dieser Schritt, also die phänomenologische Gegebenheit gegen eine Praxis des Gebens auszuspielen, ist nach Marcel Hénaff problematisch. Nicht zuletzt provoziere sie ein so starkes Desinteresse an Praktiken des Gebens, "dass es den Anspruch, eine Norm zu formulieren, zurückweist".
So fragt und antwortet Hénaff provokativ:
"Kann die Dekonstruktion zu einer Ethik führen? Mit Recht darf man es bezweifeln."
Allerdings ist dieses gegeneinander Ausspielen von reiner Gabe und Praxis des Gebens gar nicht zwingend, schlägt der Philosoph Gerhard Stamer vor. Wenn nämlich die Gegebenheit mit der Idee von Freiheit zusammengeschlossen wird. Stamer schreibt:
"Die Freiheit, das Wichtigste, das uns Menschen gegeben ist, die alle Menschen mit ihrem Erkenntnisvermögen empfangen haben, ist gerade das, wodurch die Menschen in eminentem Sinne zum Geben befähigt sind."
Gegebenheit bedeutet demnach eben auch, die Möglichkeit, sich vernunftmäßig für das Geben entscheiden zu können. Schon in der christlichen Theologie wurde ja die göttliche Gegebenheit mit dem Anspruch an den Menschen verschränkt, liebend und selbstlos zu handeln. Bei Stamer ergibt sich mit Rekurs auf Kants "Praktische Vernunft" eine Verknüpfung von Gabe und Ethik und er schreibt:
"Moral ist Gabe. Wenn es keine Gabe gibt, gibt es keine Moral. Alle moralischen Begriffe sind Hervorbringungen der Freiheit des Menschen, sie sind eben nicht der Tauschform unterworfen."
Es wird an diesem Punkt deutlich, dass das Geben - auch vom Ausgangspunkt einer phänomenologischen Gegebenheit aus - nicht zwangsläufig Ökonomie bedeutet. Gabe und Geben erweisen sich erneut als komplexe Vorgänge menschlicher Sozialität und potenzielle Alternativen zu einer Logik der Ökonomie.
Neue Werte des Zusammenlebens
In einem Video erblüht und verblüht im Zeitraffer eine Agapanthus Africanus, die sogenannte Liebesblume. Dazu zählt eine Stimme Todesfälle von Flüchtlingen auf, die sich von Juli bis Oktober 2015 an europäischen Grenzen ereignet haben. Der Kontrast von Liebessymbol und fatalen Fakten in "Counting the Dead", einer Multimediainstallation von Nanni Schiffl-Deiler, provoziert.
Die Konfrontation von symbolischer Liebe mit der schonungslosen Realität lässt das, was wir vielleicht als Liebesgaben verstehen, zum Ornament mit Halbwertzeit werden. Die Installation, die in der Münchner Ausstellung "Die Gabe" zu sehen war, fordert gebende Praxis ein. Wenn diese aber nicht nur Feigenblatt sein soll, dann muss sie auch in ihrer Komplexität verstanden werden. Nämlich als Form der sozialen öffentlichen Anerkennung, als Möglichkeit, soziale Beziehung zu stiften und dabei doch Spielräume des Wettstreits, einer sozialen Dynamik und des Risikos zu beinhalten.
In diesem Sinne verbinden auch die hier benannten Theoretiker des sozialen Gabentausches ihre Ansätze mit Politik. Die Logik der Gabe, die im privaten Bereich heute durchaus Raum hat, muss auch in konkreten sozialpolitischen Zusammenhängen rehabilitiert werden. Am deutlichsten engagiert sich in dieser Frage der Soziologe Alain Caillé. Er ist Initiator einer Bewegung, die sich Konvivialismus nennt, eine "Neue Kunst des Zusammenlebens" etablieren will und dem Paradigma der Gabe verpflichtet ist.
2013 haben die Konvivialisten ihre Grundsätze in einem Manifest dargestellt. Für ein neues Zusammenleben fordern sie zuallererst, dass die Menschheit als eine gemeinsame, gleiche Sozialität anerkannt werden muss. Zudem geht es um Kooperationsformen, die nicht an der Ideologie des Wachstums oder am Profit orientiert sind. Des Weiteren plädieren sie für ein bedingungsloses Grundeinkommen und für eine Maximalbegrenzung von Einkommen.
Insbesondere Caillé propagiert einen dritten Weg jenseits der Verabsolutierung von Staat und Markt. Ein Weg, der nicht neu erfunden werden muss, weil er in unzähligen, internationalen zivilgesellschaftlichen Projekten, im freiwilligen Engagement, in Kooperativen, Genossenschaften, NGOs und vielen weiteren sozialen Bewegungen bereits gelebt wird. All diese Projekte müssen nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem als Ganzes ersetzen, aber in den Fokus rücken und gestärkt werden. Worum es Caillé und den Konvivialisten vor allem geht, ist eine kulturelle Wende. Frank Adloff, ebenfalls Konvivialist und Übersetzer des Manifests ins Deutsche, paraphrasiert Caillé:
"Dem materiellen Kalkül wären der Wert der Demokratie und des konvivialen Zusammenlebens als Selbstzweck gegenüberzustellen. Dies käme durchaus einer moralischen Revolution gleich, da es um die Entwicklung neuer Sinnbezüge geht."
Was solche Sinnbezüge, die den Dritten Sektor bereits prägen, für die politische Praxis bedeuten, bleibt im konvivialistischen Manifest relativ offen und wird gerade in weiteren Debatten ausgehandelt. So entsteht etwa ein zweites transnationales Manifest und man diskutiert die konvivialen Grundsätze zum Beispiel in Bezug auf eine europäische Staatsbürgerschaft oder auf konviviale Integration. Insgesamt geht es darum, ein rein auf den Nutzen und den Profit hin orientiertes Gesellschafts- und Menschenbild, also den Homo Oeconomicus, infrage zu stellen. Schon Marcel Mauss schrieb:
"Der Homo Oeconomicus steht nicht hinter uns, sondern vor uns - wie der moralische Mensch, der pflichtbewusste Mensch, der wissenschaftliche und der vernünftige Mensch. Lange Zeit war der Mensch etwas anderes; und es ist noch nicht sehr lange her, seit er eine Maschine geworden ist - und gar eine Rechenmaschine."
Mensch und Gesellschaft sind immer schon vielschichtiger veranlagt, als es die Vorstellung vom Homo Oeconomicus suggeriert. Dieser Vorstellung andere, wie etwa die Ideen von der Gabe, entgegenzusetzen, bedeutet auch, neue Gestaltungsspielräume für unsere Gesellschaft zurückzugewinnen.
Kunst als Gabe
Eine goldene Regalwand voller Gebrauchsgüter, zwei Kniebänke und ein Arbeitstisch mit Ton: In dem Happening "Ikonostase V" können Besucher Tonobjekte anfertigen und gegen Konsumartikel tauschen. Dabei sind sie nicht frei in der Wahl des Gegenstands, sondern dieser wird ihnen von den Künstlern der Aktion zugeteilt. Kein symmetrischer, absehbarer und in diesem Sinne ökonomischer Tausch also, sondern eine Gabe, bei der das Objekt der Gabe mit dem Geber tief verbunden ist und bei der eine Gegengabe erfolgt, die voller Unsicherheit und Risiko bleibt.
Bei dem Happening von Florian Dietrich, Martin Schepers und Markus Zimmermann, das im Rahmen der Münchner Gaben-Ausstellung stattfand, fallen Thema und Form auf besondere Weise zusammen. Denn die künstlerische Form inszeniert einen offenen Kreislauf von Gabe und Gegengabe, der weder Künstler noch Besucher untätig oder außen vor lässt. Und damit wird diese Aktion - bei allen weiteren Implikationen - auch zum Bild für die Kunst selbst.
"Kunst zirkuliert als Geschenk", hat der amerikanische Schriftsteller Lewis Hyde geschrieben. Die Kunst ist immer schon Gabe. Der Künstler erhält Inspiration und gibt sie im Werk weiter. Der Rezipient nimmt sie an, begibt sich aber auch selbst in den künstlerischen Zusammenhang hinein. Denn ästhetische Erfahrung ist im Idealfall immer Interaktion und Kooperation von Künstler, Objekt und Betrachter. Und zwar nicht erst, wenn diese Interaktion explizit wird.
Indem allerdings aktuelle Künstler mit Performances, öffentlichen Interventionen oder partizipativen Projekt gerade diese interaktiven Komponenten der Kunst - kurz: die Gabenstruktur der Kunst - hervorheben, wird solche Kunst auch zu einem Instrument, das Paradigma der Gabe zu stärken.
Bei Arbeiten im urbanen Raum, mit kollektiver Autorschaft, die auch Fremde, Minderheiten und Außenseiter integriert, entsteht eine öffentliche Sphäre, in der dieses Geben erprobt wird. Nicht als Ableger von Sozialarbeit, wo die Kunst eben doch einem Nutzendenken unterworfen würde, sondern als freiheitliche Sphäre, in der man bei allem Risiko des Scheiterns respektvolle Gemeinschaft aushandelt, experimentell erforscht und erfährt.
Eine Sphäre, die vielleicht eine gesamtgesellschaftliche Veränderung in Richtung "Gabe" befördert. In dem Song "Give and Get" von Leonie Feller und Beate Engl, der für die Münchner Gaben-Ausstellung entstand, montieren die Künstlerinnen alle möglichen kulturgeschichtlichen Zitate zur Gabe. "Give me time, and I give you a revolution", heißt es da unter anderem. Vielleicht wird es ja etwas mit der Veränderung der Gesellschaft, wenn wir mitsingen.