Es ist Samstagabend in Duisburg-Serm, einem dörflichen Stadtteil am Rhein. Die backsteinrote Kirche an der Dorfstraße läutet zum Gottesdienst. Familien mit ihren Kommunionkindern und andere Bewohner kommen an – auch Katrin Beutel mit ihrem Sohn Till. "Das ist hier schon ein sehr kleiner Ort und das ist hier schon der Mittelpunkt", sagt Katrin Beutel. Till kennt die Herz-Jesu-Kirche schon ganz gut, aber jetzt, als Kommunionkind, lernt er sie gerade noch besser kennen. Till: "Als wir uns das erste Mal getroffen haben, haben die mit uns geguckt: Wo hängen die Sachen vom Pastor, haben uns noch ein paar Sachen von der Kirche gezeigt."
Dabei gibt es hier schon länger keinen Pfarrer mehr, die Gottesdienste in diesem katholischen Haus werden durchweg von Frauen geleitet – aber dazu später mehr. Till: "Und da vorne, die Kerze, die in der Mitte vom Altar steht mit dem Kreuz da vorne, da musste jedes Kind eine Sache draufmachen."
Katrin Beutel: "Es ist hier schon … denn jeder kennt jeden eigentlich, ne? Unsere Tochter ist vor zwei Jahren auch hierhin gegangen. Und dann war halt auch nicht klar, bleibt es, bleibt es nicht?"
Gemeinde sollte Kirche verlieren
Das Gebäude, die Kirche, das Gemeinschaftsgefühl, das mit ihr verbunden ist, alles stand auf der Kippe. Das Bistum Essen hatte die Herz-Jesu-Kirche aus Duisburg-Serm auf die Liste der Gebäude gesetzt, die aufgegeben werden sollen. Auch Gemeindemitglied Marlies Schmitz erinnert sich noch gut daran, als sie vor drei Jahren davon erfuhr:
"Wir hatten natürlich von diesem Pfarrentwicklungsprozess gehört. Aber wir hatten auch zu der Zeit nicht viele, die sich um Kirchenpolitik gekümmert haben. Und dann auf einmal kam dieses erste Konzept, wo diese Kirche hier aufgegeben werden sollte. Und da haben wir gesagt: Halt Stopp, da seht ihr also etwas ganz falsch."
So reagieren wohl viele Gemeinden, wenn sie erfahren, dass sie ihre Kirche verlieren werden – aber fast immer nützt es nichts. Denn wo kaum noch Kirchensteuern gezahlt werden und Gottesdienste leer bleiben, da können oder wollen viele Bistümer ihre Gebäude nicht mehr halten. Im Bistum Essen liegt die Teilnahmequote an Gottesdiensten bei unter neun Prozent. Das sei zu wenig, um in jedem Dorf, jedem Stadtbezirk eine Kirche zu unterhalten, sagt Markus Potthoff, Leiter des Dezernats Entwicklung, Planung und Controlling.
Kirchenbestand auf ein Drittel reduzieren
"Es war klar, dass die Zahl der Gebäude, die wir haben in unseren Pfarreien, zu groß ist und dass hier auch eine oft schmerzhafte, notwendige Anpassung erfolgen muss", schildert der Theologe den Prozess der vergangenen 20 Jahre. Von Dutzenden Kirchengebäuden habe sich das Bistum bereits getrennt und auch für die kommenden zehn Jahre sei schon klar, "dass die Zahl der vorgehaltenen 270 Kirchengebäude noch einmal reduziert werden muss auf etwa ein Drittel des heutigen Bestandes." Die Kirche werde sich – zumindest als liturgischer Ort – aus ganzen Stadtteilen zurückziehen, so dass "auch die Sichtbarkeit, die Erkennbarkeit kirchlichen Lebens an vielen Stellen nicht mehr gegeben sein wird." Die Kirche im Dorf lassen – das wird nicht mehr überall möglich sein. In Duisburg-Serm allerdings steht die Kirche noch – und nicht nur das. Sie ist mit Leben gefüllt.
"Das sind neue Wege"
Der Gottesdienst hat mittlerweile begonnen. Marlies Schmitz, die Frau, die dem Bischof damals "Halt Stopp" sagte, steht jetzt vorne am Rednerpult. Zusammen mit Monika Simon hält die 63-Jährige zweimal wöchentlich Wortgottesdienste, inklusive Kommunion. Beide sind einfache Gemeindemitglieder.
Die ganze Kirche gehört jetzt quasi den 286 Mitgliedern des Fördervereins – denn der Verein hat zum Jahreswechsel die Verantwortung für das Gebäude übernommen, er zahlt die Rechnungen, organisiert das Gemeindeleben und muss sich auch kümmern, wenn mal etwas kaputtgeht. Wie kam es dazu? Wer das wissen will, muss mit Michael Germ sprechen, dem Vorsitzenden des Fördervereins.
Im Herbst 2020, vor einem halben Jahr, sind noch keine Verträge unterschrieben, aber das Ziel ist klar: "Wir müssen diese Kirche retten." Und auch der Plan steht schon: Der Förderverein soll die Kirche übernehmen, das Bistum darf raus aus der Verantwortung.
Michael Germ: "Da wurden wir zuerst ungläubig angeguckt. Aber je deutlicher wir diesen Wunsch formuliert haben, umso mehr hat man sich auch wirklich damit befasst. Man hat gemerkt, dass auch die andere Seite lernen musste. Das sind neue Wege und so weiter. Aber es war wechselseitig geprägt von einem: Wir wollen, dass es erfolgreich wird."
Geöffnet für alle Konfessionen
Ein Nutzungsüberlassungs-Vertrag, das könne vielleicht funktionieren, hieß es irgendwann vom Bistum. "Dann haben wir uns um die Zahlen gekümmert und haben gesagt, wenn jeder zehn Euro im Monat bezahlt, brauchen wir so und so viele Mitglieder. Und dann haben wir so lange hier im Dorf akquiriert, bis wir diese Mitglieder haben", sagt Germ.
Corona habe die Sache erschwert – von gut 2000 Einwohnern in Serm sind bisher erst etwas mehr als 280 Mitglied im Förderverein. Immerhin: Das reicht, um die laufenden Kosten zu decken und Rücklagen zu bilden – denn auch anfallende Reparaturen müssen vom Förderverein getragen werden.
Michael Germ ist zuversichtlich, dass im Fall der Fälle auch noch mehr Sermer helfen würden: "Das, was wir da vorhaben, und das, was wir auch schon gesehen haben, das ist eben Gemeinde im ursprünglichen Wortsinn." Dabei werde auch nicht zwischen Konfessionen unterschieden, sagt der 59-Jährige: "Wir haben die Satzung so weit geöffnet, dass wir für alle Menschen, egal welcher Konfession, egal welcher Ausrichtung, egal welcher Überzeugung, also wirklich überall egal, offen sind. Dass wir für alle diese Menschen Veranstaltungen durchführen wollen, dass jeder immer auch ein bisschen dieses Haus als Stätte seiner Begegnung und seines Interesses und seiner Aufnahme empfinden kann."
"Ich hatte Angst davor"
Jetzt, im Frühling 2021, ist Michael Germ froh, dass bisher alle Pläne funktioniert haben. Kurz vor dem Gottesdienst erzählt er von den bangen Tagen der Vertragsunterzeichnung. Germ: "Es gibt natürlich den Moment, wenn du vor der Unterschrift stehst, dann denkst du dir: Noch einmal reflektieren. Was ist im Worst Case, wenn es nicht klappt? Das wägt man alles ab. Aber um es am Ende ganz deutlich zu sagen: Es gab so viel Unterstützung hier aus Serm von den Bürgern, also es entsteht eine große Gemeinschaft, so dass dieser Gedanke – Ist das alles richtig? – sehr, sehr schnell verfliegt."
Marlies Schmitz: "Also ich hatte Angst davor: Kriegst du das alles zeitlich hin, denn wir haben eben noch den Bauernhof, wir haben eine große Familie. Und ich muss den Kopf auch für Buchführung und all so etwas frei haben. Es gibt auch Momente, wo ich denke: Durchatmen, durchatmen, ne? Darfst dich jetzt auch nicht verausgaben. Aber ich muss sagen: Die Momente der tiefen Freude, die überwiegen, die überwiegen so sehr."
So wichtig das unternehmerische Gespür von Michael Germ und anderen Mitgliedern des Fördervereins, so unabdingbar ist die Arbeit von Marlies Schmitz und Monika Simon – sie füllen das Gebäude mit Leben, kümmern sich um die pastoralen Fragen. Marlies Schmitz: "Es war uns auch immer klar, was nützt uns ein leeres Gebäude, wenn da kein Leben drin ist, also dass wir eine doppelte Herausforderung bewältigen müssen: einmal mit der Finanzierung und Unterhaltung und mit der Eigenverantwortung für das Gebäude, aber gleichzeitig eben auch für das Schaffen des inneren Lebens."
Frauen leiten die Gottesdienste
Für dieses innere Leben ist jetzt der Förderverein verantwortlich. Das Bistum schickt keinen Pfarrer mehr. Mit der übergeordneten Gemeinde sprechen sich Marlies Schmitz und ihre Mitstreiterinnen nur noch einmal im Jahr über langfristige, pastorale Inhalte ab.
Dass diese katholische Kirche nun von Frauen geprägt wird, darauf bereitete Marlies Schmitz den Essener Bischof Franz-Josef Overbeck schon früh vor: "Ich habe immer wieder zu unserem Bischof gesagt: Herr Overbeck – es werden Frauen sein, es werden Laien sein und wir werden unseren Weg gehen. Entweder Kirche zu oder so."
Für Markus Potthoff vom Bistum Essen ist die Herz-Jesu-Kirche in Duisburg-Serm ein gelungenes Beispiel dafür, was Menschen vor Ort bewegen können: "Wir begrüßen das Engagement eines Fördervereins, der tatsächlich in Verbindung mit der Kirchengemeinde jetzt mit dem Nutzungsvertrag auch eine gute Lösung gefunden hat, ein finanzielles Konzept erarbeitet hat, um dieses Kirchengebäude erstens weiter zu nutzen, aber eben sozusagen auch als pastoralen Standort zu erhalten."
Hohe Summen für Gebäude
Ob dieses Beispiel übertragbar sei auf andere Gemeinden, da bleibt er aber zurückhaltend. Potthoff: "Weil: man muss eben tatsächlich auch aufpassen, angesichts der hohen finanziellen Lasten, die ein Kirchengebäude aufwirft. Es geht ja nicht nur um den laufenden Betrieb und die laufende Instandhaltung, sondern auch um die Bauvorsorge. Bei den größeren Kirchengebäuden, den neugotischen Kirchen etwa, da fallen natürlich für die Erneuerung einzelner Bauteile sehr hohe Summen an, die von Fördervereinen nicht zu schultern sind."
Die knapp 100 Jahre alte Sermer Kirche, die nach dem Krieg größtenteils wiederaufgebaut werden musste, ist in ihrem Unterhalt da schon einfacher zu bewältigen. Einen niedrigen fünfstelligen Betrag müsse der Förderverein pro Jahr aufbringen – inklusive der Rücklagen, sagt Michael Germ: "Ich glaube schon, dass wir hier eine Blaupause für die Zukunft sind. Wir haben in ganz, ganz vielen Punkten Neuland betreten. Wir haben Fragen beantwortet, an die vorher keiner gedacht hat. Ich hoffe auch, dass wir Zuversicht ausstrahlen können, dass das eben schaffbar ist."
Das wird sich nun zeigen, auch in der täglichen Arbeit: Wortgottesdienste müssen vorbereitet, Kommunionunterricht organisiert werden. Für Taufen oder eine Hochzeit kommt auch mal der Pfarrer der Nachbargemeinde, so ist es versprochen. Sie hoffen, dass bald auch ein Gemeindefest oder andere Feierlichkeiten stattfinden dürfen, denn sie könnten weitere Einnahmen bedeuten.
"Lieber Gott, wenn du willst, schaffen wir das"
Als eines der wichtigen langfristigen Ziele sehen Michael Germ und Marlies Schmitz die aktive Einbindung junger Menschen in die Arbeit von Gemeinde und Förderverein. Marlies Schmitz: "Wir brauchen Menschen. Und wir müssen an die jungen Leute kommen, wir haben selber ja auch nur noch so viel Zeit."
Sie hätten zwar eine große Gruppe engagierter Menschen, aber wirklich jung sei kaum einer mehr. Trotzdem spricht große Zuversicht aus den neuen Kirchen-Verantwortlichen:
Autorin: "Und schaffen Sie’s?" - "Ja, ich glaube ja", sagt Marlies Schmitz. Michael Germ ergänzt: "Da ist schon Nachwuchs da, aber der muss sich dann auch bestätigen, aber das ist unsere Aufgabe, das dann auch in die Zukunft zu führen." Schmitz: "Und ich habe auch immer gesagt: Also lieber Gott, wenn du willst, dann schaffen wir das. Und so sind wir bis heute hier hingekommen."
Der Gottesdienst ist vorbei, viele Familien stehen noch vor der Kirche und reden. Sie könnten diese Zukunft sein, die die Herz-Jesu-Kirche braucht.