Nahles sieht in der gesetzlichen Rentenversicherung "das zentrale Versprechen des Sozialstaats", dass Arbeitnehmer nach einem Arbeitsleben im Alter auch davon leben können. Sie hatte bereits angekündigt, eine Reform bei den Betriebsrenten und eine Aufwertung kleiner Renten, die so genannte Lebensleistungsrente, auf den Weg zu bringen. Das Versprechen laute: "Wer die Ärmel hochgekrempelt hat, steht später nicht mit leeren Händen da."
WDR: Jedem zweiten Bürger droht Armut im Alter
Doch genau das droht nach jetzigem Stand fast jedem zweiten Bürger in Deutschland. Während im Jahr 2030 nur 28,6 Millionen Bürger auskömmliche Altersbezüge erwarten könnten, treffe dies für etwa 25,1 Millionen Menschen nicht zu, berichtet der WDR von seinen Recherchen über Altersarmut in Deutschland. Darunter seien 13,6 Millionen Menschen, die durchaus eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausübten. Dazu kämen 4,8 Millionen geringfügig Beschäftigte.
Ursachen für die drohende Altersarmut sind laut WDR nicht nur niedrige Löhne etwa im Einzelhandel oder im Gastgewerbe, die zu wenigen Entgeltpunkten in der gesetzlichen Rente führen. Auch die hohe Zahl von Teilzeitbeschäftigten trägt dazu bei. Gerade in diesen Gruppen sowie auch bei Soloselbständigen oder Minijobbern dürfte demnach das Armutsrisiko im Alter besonders hoch sein.
Um im Jahr 2030 eine Rente über der Grundsicherung zu bekommen, müsste ein Arbeitnehmer laut Berechnungen des WDR nach heutigem Stand 40 Jahre lang ununterbrochen pro Monat mindestens 2.097 Euro brutto verdienen. "Die Ergebnisse zeigen sehr deutlich: Auch eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist bei weitem kein Garant für einen finanziell abgesicherten Lebensabend", heißt es in dem Bericht. Der entscheidende Grund dafür sei das sinkende Niveau der gesetzlichen Rente.
Teilprivatisierung der Rente begann 2002
Die Absenkung des Rentenniveaus war ein zentraler Bestandteil der von der damaligen rot-grünen Regierungskoalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder beschlossenen Rentenreform 2001. Laut aktuellem Rentenversicherungsbericht sinkt das Rentenniveau - das Verhältnis zwischen Arbeits- und Renteneinkommen - von 48,1 Prozent 2014 auf 43 Prozent 2030. Im Jahr der Reform 2001 waren es 52,6 Prozent.
Die Federführer der Reform sorgten zugleich mit der Rieser-Rente für eine Teilprivatisierung der Altersversorgung in der Bundesrepublik, die 2002 eingeführt wurde. Die Riester-Rente sollte die durch die Absenkung des Rentenniveaus entstandene Lücke schließen. Doch heute steht die nach dem damaligen Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD) benannte Privatvorsorge aus mehreren Gründen in der Kritik:
- Die meisten Angebote stammen von privatwirtschaftlichen Versicherungskonzernen, die an der Riester-Rente verdienen wollen und die Rendite durch ihre erhobenen Kosten teilweise deutlich schmälern. Auch wird den Konzernen vorgeworfen, dass sie mit hohen Lebenserwartungen arbeiten und die Versicherten dadurch nur einen Teil ihres Geldes in ihrer Zeit als Bezieher der Riester-Rente wiedersehen. Kostengünstige Angebote gibt es meist nur über Bank- und Fondssparpläne ohne "Versicherungsmantel".
- Die Riester-Rente ist freiwillig und für Geringverdiener nur schwer erschwinglich. Wer sich die Beiträge trotzdem zusammenspart und am Ende wie nun prognostiziert in der Grundsicherung landet, muss seine ersparte Riester-Rente - wie alle anderen Einkünfte beispielsweise aus Rürup-Rente oder Lebensversicherungen - auf die Grundsicherung anrechnen lassen. Damit steht der Sparer keinen Cent besser als jemand, der nicht gespart hat.
- Der Staat finanziert dieses Konstrukt mit Steuervorteilen und Zulagen für die Sparer, um Anreize für den Abschluss einer Riester-Rente zu schaffen. Seither hat die Förderung den Staat laut "Spiegel" rund 25 Milliarden Euro gekostet. Alle Versicherten in der gesetzlichen Rente finanzieren die Riester-Rente zudem mit dem sogenannten "Riester-Faktor". Der unterstellt, dass die private Vorsorge durch Riester die Versorgungslücke schließt und mindert Rentenerhöhungen in der gesetzlichen Rente.
- Als kapitalgedeckte Altersvorsorge werden die Riester-Produkte durch die derzeit niedrigen Zinsen zusätzlich unattraktiver.
Nach einer Statistik des Bundesarbeitsministeriums belief sich die Zahl der Riester-Verträge im dritten Quartal 2015 auf mehr als 16 Millionen, fast elf Millionen davon sind Versicherungsverträge. Schätzungsweise jeder fünfte Riester-Vertrag ruht und wird nicht weiter angespart.
Als zentrales Argument für die Riester-Rente und allgemein mehr private Vorsorge galt 2001 wie heute der demographische Wandel, immer mehr geburtenstarke Jahrgänge gehen in den Ruhestand. Verkürzt wiedergegeben hieß es damals: Dem könne man nur mit der Rentenreform oder steigenden Beiträgen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer entgegengewirken. Der Bundestag entschied sich für die erste Möglichkeit.
Seehofer will Riester-Rente abwickeln
CSU-Chef Horst Seehofer sagt 15 Jahre später: "Die Riester-Rente ist gescheitert." Er bewertet die Situation ähnlich wie die Recherchen des WDR. Die Anfang des vergangenen Jahrzehnts beschlossene Kürzung des Rentenniveaus wird nach seiner Einschätzung dazu führen, "dass etwa die Hälfte der Bevölkerung in der Sozialhilfe landen würde". Die Neoliberalisierung sei gescheitert, sagte Seehofer in einer Rede, er forderte höhere Altersbezüge für alle: "Wir brauchen beide Lungenflügel, den marktwirtschaftlichen und den sozialen."
Mit einer Rentenreform will Seehofer offenbar verlorenes Vertrauen und verlorene Wähler für die Union zurückgewinnen. In der Union könnte es darüber allerdings Diskussionen geben, denn Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt laut eines Berichts des "Spiegel" weiter auf private Vorsorge.
Ungeahnte Zustimmung für den CSU-Chef
Doch auch viele politische Gegenspieler stimmen Seehofer grundsätzlich zu, das Thema könnte in mehreren Parteien ein großes werden. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner wandte sich ebenfalls gegen die weitere Absenkung des Rentenniveaus. Dessen drastischen Rückgang "können wir nicht zulassen", sagte er dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Die Riester-Rente sei nicht die Lösung gewesen. "Wer die Riester-Rente bräuchte, kann sie sich nicht leisten, und wer sie sich leisten kann, braucht sie nicht."
Linken-Chef Bernd Riexinger erklärte in diesem Zusammenhang, die SPD müsse den Mut haben, die von ihr mitbeschlossene Absenkung des Rentenniveaus zurückzunehmen. "Denn ohne eine ambitionierte Anhebung des Rentenniveaus lässt sich eine epidemische Ausweitung der Altersarmut nicht aufhalten."
(nch/jcs)