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Alterswerk mit doppeltem Boden

Sein ständiger Blick über den Tellerrand machte Rudolf Fries in der DDR suspekt. Noch heute wird das in seinen Romanen deutlich. Sein Alterswerk "Last Exit to El Paso" ist eine Abrechnung mit Opportunisten und Machthabern, von denen er sich immer abgrenzte.

Von Helmut Böttiger |
    Fritz Rudolf Fries ist ein Autor, der immer auch andere Welten im Blick hatte. Das machte ihn in der DDR suspekt. 1935 in Bilbao geboren, lebte er ständig in spanischen und lateinamerikanischen Sphären. Nachdem er als Sechsjähriger im Krieg nach Leipzig übergesiedelt war, blieb die Familiensprache Spanisch, denn die Großmutter verstand kein Deutsch. Der Wechsel zwischen den Sprachen förderte auch einen Wechsel der Gefühle, der Betrachtungsweisen, der Identitäten. Deshalb war Fries bereits in den sechziger Jahren jemand, der vieles von dem wusste und vorausahnte, was im Westen gedacht und geschrieben werden würde – und das unterschied sich sehr stark von dem, was ihn in der DDR umgab. Immer gab es Fluchtwege, Ausweichmanöver, unsichtbare Pfade im Dschungel, oder es schien zumindest so.

    Sein fulminanter erster Roman "Der Weg nach Oobliadooh", der 1966 bei Suhrkamp veröffentlicht wurde und in der DDR nicht den Hauch einer Chance hatte, einen Verlag zu finden, ist eine spielerische und sarkastische Antwort auf den "Bitterfelder Weg". Diese Abbreviatur eines sozialistischen Realismus war soeben von den Kulturpolitikern in waschechtem Proletarier-Imitat ausgerufen worden. In all seinen Büchern führte Fries den DDR-Lesern vor, dass es da noch etwas anderes gab, sich ins Unübersehbare ausweitende Assoziationsnetze etwa, fantastische Sphären, überrumpelnde Wörter, Sätze und Tonlagen. Und nun, als 78-Jähriger, legt Fries ein Alterswerk vor, das alles Vorangegangene aufnimmt und in schwindelerregender Weise, auf einem hochgespannten Seil, auf die andere Seite balanciert. "Last Exit to El Paso" ist ein Bravourstück.

    Man kann vermuten, dass die Hauptfigur des Romans ebenfalls 78 Jahre alt ist. Fries hat schon immer eine Vorliebe für Doppelgängerfiguren und autobiografische Finten gehabt, er griff dabei in die Trickkiste von Jean Paul genauso wie in diejenige von Miguel de Cervantes, und dass er seine aktuelle Ich- und Welt-Spielfigur "Pierre Arronax" nennt, legt eine neue – und wie immer auch halb falsche – Fährte: der Professor in Jules Vernes Abenteuerklassiker "20000 Meilen unter den Meeren" heißt Pierre Aronnax. Die dabei heimlich durchgeführte Konsonantenverschiebung verweist sanft auf das Changieren der Bedeutung, das Verschwimmen der Ebenen, auf das Traumwandlerische des Geschehens. Bei Jules Verne ist Aronnax Autor eines Werkes über "Die Geheimnisse der Meerestiefen", bei Fries widmet sich Arronax den Geheimnissen der Tiefe überhaupt: Er ist ein Schriftsteller, der sich vor allem als Drehbuchschreiber durchschlägt und wie nebenbei die Erfahrungen zwischen Mann und Frau sowie Mensch und Gesellschaft auslotet.

    Die Ausgangslage wirkt noch relativ eindeutig: Der Schriftsteller hält sich nur noch in seinem eigenen Haus auf, wird von abwechselnden weiblichen Pflegekräften versorgt, wobei die aktuelle, Kathleen mit Namen, durchaus erotisch heraussticht. Seinem sechsjährigen Enkel Fabius erzählt er vor dem Einschlafen das Märchen der Bremer Stadtmusikanten, mit dem leitmotivisch eingesetzten Slogan: "Etwas Besseres als den Tod findest du überall." Dieses Bessere, das ist schon mit den ersten Sätzen klar, ist die Geschichte selbst, und damit auch all die Geschichten, die sich daraus erst entspinnen. Denn plötzlich wird aus der Tiefe des literarischen Raumes der Faden mit Jules Verne aufgenommen, und eine unerwartete Abenteuerreise kündigt sich an. Bei einem Preisausschreiben gewinnt Arronax eine Weltreise, auf die er sofort seinen alten Weggefährten und Drehbuchkombattanten Archie mitnimmt, und bei näherem Hinsehen gibt es dabei gewisse Bedingungen, die die Romanhandlung befeuern: Es geht darum, wer von beiden als Erster in El Paso ankommt, an der Grenze zu Mexiko, der eine über die Westküste, der andere über die Ostküste, und den Hintergrund bildet eine aberwitzige Kriminal-Kunst-Affäre, nämlich die Suche nach gestohlenen Gemälden in New York.

    Die Anleihen an den klassischen Krimi, an die Spannungs- und Suspense-Literatur sind natürlich nur ein augenzwinkerndes Spiel. Sie sind genauso labyrinthisch wie in manchen Filmen der Schwarzen Serie, bei denen noch während des Drehens am Drehbuch weitergeschrieben wurde. Die Figuren und die Situationen, in die Fries‘ Arronax hineingerät, entwickeln eine ähnlich verwirrende Suggestionskraft wie etwa in "The Big Sleep", wo Humphrey Bogart auch oft nicht mehr weiß, mit wem er eigentlich gerade spricht. Aber Arronax hat immerhin seine Kathleen als Fahrerin dabei, an die kann er sich halten, und das, worum es in diesem Buch in allererster Linie geht, ist das Kunstgeflecht, in das es einen fortwährend hineinzieht. Die gestohlenen Bilder, vom Pop-Art-Veteranen Andy Warhol und vom belgischen Surrealisten Paul Delvaux, entfalten sofort ein Eigenleben. Vor allem die schlüpfrigen Arrangements Delvauxs haben es dem Schreiber angetan, immer wieder trifft Arronax unterwegs oder gleich in Hotelzimmern auf Posen, die Delvaux entworfen hat und die auf gewisse Archetypen insbesondere weiblichen Verhaltens zielen. Der Geist der belgischen Fin-de-siècle-Metropole Brügge hat Fritz Rudolf Fries schon in seinen ersten subversiven Reiseerzählungen angezogen, und auf derlei Bahnen gehen die Fahrt und das Romangeschehen weiter. Fries schmuggelt Motive aus etlichen seiner früheren Texte hinein. Vor allem der Jazz der fünfziger Jahre, sein Lebenselixier seit der Pubertät, feiert in "Last Exit to El Paso" immer wieder Triumphe.

    Dies ist also, und dazu bedarf es keiner näheren Ausführung, kein Roman für das von Julio Cortázar in der Übersetzung von Fries karikierte "Leserweibchen" (in dessen Hauptwerk "Rayuela"). Es geht um die Lust am Text und um den Nachweis, dass die Literatur sich in ihren elaborierten Fällen in erster Linie aus der Literatur selbst speist. Ein Anspielungsnetz dazu hat Fries ganz dezidiert über den Text gebreitet: Die drei Kritikerfiguren aus Roberto Bolanos epochalem Werk "2666", ebenfalls aus der lateinamerikanischen Brutstätte der Fantasien, treten auch in Fries‘ Roman auf und begleiten die Krimihandlung in kennerischer, wenn auch meist nur pantomimischerweise. Und das alles ist beileibe nicht überinstrumentiert. Gerade in der Überfülle der Ideen und Gedankenblitze liegt der Genuss, den "Last Exit to El Paso" zu bereiten in der Lage ist.

    Zu guter Letzt ist der Roman natürlich auch eine gute alte Agentengeschichte. Der doppelte Boden, die doppelte Moral spielten im Spionagewesen seit jeher die Hauptrolle, und Fries‘ Romanfiguren waren schon immer Doppelagenten, Doppelgängerfiguren aus einem sich entgrenzenden literarischen Kosmos. Dass der Autor Fries glaubte, das Staatssicherheits-Unwesen der DDR in seine literarischen und biografischen Stoffe hineinnehmen zu können und dadurch zu neutralisieren, zeigt Grenzen auf, die er niemals wahrhaben wollte. Aber auch daraus zieht er literarische Konsequenzen. So ist sein neuestes Alterswerk unter anderem eine sarkastische Abrechnung mit den spießigen und kleinkarierten Verhältnissen in der DDR, ihren Machthabern und ihren Opportunisten. Zu diesen Spezies gehörte Fries nie. Dass er zurecht immer suspekt blieb, beweist er mit diesem neuesten Streich.

    Fritz Rudolf Fries: "Last Exit to El Paso"
    Roman. Wallstein Verlag, Göttingen. 192 Seiten, 19,90 €