Dirk Müller: Es sind die Argumente der vergangenen Monate: Massenverhaftungen, Massenentlassungen, eine nicht endende Prozesswelle, darunter auch gegen deutsche Staatsbürger. Die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan, ein neues Präsidialsystem, was Kritiker als Ende der türkischen Demokratie bezeichnen, als neue Autokratie. Die Verwerfungen mit Deutschland, die Beleidigungen, die Nazi-Vergleiche, der umstrittene Besuch Erdogans vor ein paar Wochen in Berlin und dann in Köln der Islamistengruß des Präsidenten zum Abschied. Was gehört noch alles in diese Reihe?
Dann der Tod von Jamal Khashoggi. Auf einmal agiert Erdogan als Aufklärer, als Ermittler, als scharfer Kritiker Saudi-Arabiens.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ist seit gestern mit zahlreichen deutschen Unternehmern in der Türkei. Es geht um die wirtschaftlichen Beziehungen. Doch das alles geht nicht ohne Politik. Wir erreichen den Minister jetzt in Ankara. Guten Morgen!
Peter Altmaier: Guten Morgen, Herr Müller.
Müller: Herr Altmaier, gehört Erdogan wieder zu den Guten?
"Damit Menschenrechte wieder einen festeren Grund bekommen"
Altmaier: Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass wir mit der Türkei schwierige Beziehungen hatten in den letzten Jahren, dass wir vieles zurecht, finde ich, auch beklagt haben im Hinblick auf Menschenrechte und Pressefreiheit, und dass wir trotzdem ein gemeinsames Interesse daran haben, dass dieser wichtige Teil an der Grenze der Europäischen Union zum Mittleren und Nahen Osten, dass dieses Land nicht instabil wird, dass wir auch die Interessen deutscher Unternehmen, die dort seit Jahren und Jahrzehnten tätig sind, als Bundesrepublik Deutschland unterstützen und wahrnehmen, sowohl gegenüber der Regierung als auch gemeinsam mit der Regierung dort. Es gibt vielfältige Kontakte zwischen der Türkei und Deutschland. Außenminister Heiko Maas war vor wenigen Wochen dort. Sie haben darauf hingewiesen, dass Herr Erdogan in Deutschland war. Und mein Besuch hat das Ziel, zur Stabilität beizutragen und damit auch dazu, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wieder auf einen festeren Grund kommen.
Müller: Also ist das nicht ganz egal, was Erdogan im Inneren wie im Äußeren macht?
Altmaier: Nein. Wir haben längst keine Situation wie im 19. Jahrhundert mehr, wo das, was im Inneren oder im Äußeren geschehen ist, völlig egal war. Aber wir müssen auch sehen, wenn wir unsere Wirtschaftsbeziehungen gestalten, dass sehr viele Länder, ob es China ist, ob es Russland ist, ob es die Türkei ist, ob es Länder in Afrika oder in Asien sind, dass sie vielleicht nicht ganz dem Standard entsprechen, den wir uns wünschen würden und der nach dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgegeben ist. Das bringen wir auch zum Ausdruck.
Müller: Herr Altmaier, jetzt sind Sie uns ein bisschen aus der Telefonleitung entschwunden. Ich möchte Sie bitten,…
Altmaier: Das ist eine moderne, neumodische Leitung mit Funkkontakt. Ich versuche, mal etwas näher heranzugehen.
Müller: Jetzt ist es wieder gut.
Altmaier: Wir sind, wenn wir die Welt betrachten, nicht nur umzingelt von Ländern, die ganz ähnlich wie Deutschland oder Frankreich Musterländer sind im Hinblick auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das sollten wir nicht hinnehmen.
Müller: Aber jetzt geht es ja um die Türkei, Herr Altmaier.
"Stabilität ist abhängig von Handel und Wachstum"
Altmaier: Gleichzeitig ist es aber auch so, dass die Stabilität dieser Welt auch davon abhängig ist, dass Handel und Wachstum überall möglich sind. Das war die Politik übrigens aller Bundesregierungen. Insofern ist das überhaupt keine neue Entwicklung.
Müller: Das heißt, Handel geht dann vor Wandel?
Altmaier: Nein. Willy Brandt hat einmal gesagt, Wandel durch Annäherung. In all dem, was wir tun, haben wir ein ganz klares Prinzip. Die deutsche Bundesregierung macht nichts, was ihren Überzeugungen in puncto Menschenrechte widerspricht. Im Gegenteil! Wir setzen uns für Menschenrechte aktiv ein. Aber noch einmal…
Müller: Aber Geschäfte sind möglich mit jemandem, der die Menschenrechte mit Füßen tritt?
Altmaier: Aber selbstverständlich! Wir machen Geschäfte mit China. Es sind deutsche Unternehmen in großer Zahl in Russland. Es hängen davon Millionen von Arbeitsplätzen auch in Deutschland ab.
Müller: Ist Ihnen wohl dabei, Herr Altmaier?
Altmaier: In der Türkei sind 7.500 deutsche Unternehmer aktiv, zum Teil seit vielen Jahren. Auch davon hängen viele Arbeitsplätze in Deutschland ab. Das muss der Wirtschaftsminister ansprechen und seine Aufgabe ist es, dazu beizutragen, dass wir Menschenrechte und wirtschaftlichen Austausch gemeinsam entwickeln, weil ich glaube, dass es auch leichter wird, in dem einen Bereich Fortschritte zu erzielen, wenn man in dem anderen Bereich seine eigenen Interessen wahrnimmt.
Müller: Das heißt, gefüllte Auftragsbücher erleichtern die Situation für die Gepeinigten?
"Dass wir deutsche Unternehmen im Ausland unterstützen"
Altmaier: Mir gefällt, Herr Müller, ehrlich gesagt, diese Verbindung nicht. Es wird der Eindruck erweckt, dass man Menschenrechte relativiert, um Geschäfte machen zu können. Aber ich habe hier beispielsweise die Interessen deutscher Unternehmen vertreten, die sagen, wir brauchen in der Türkei stabile rechtsstaatliche Rahmenbedingungen. Das muss möglich sein für einen Wirtschaftsminister. Ich habe die Interessen vertreten von Unternehmen, die sagen, wir fühlen uns in unseren Aktivitäten unsicher. Und es ist eine gemeinsame Politik der Bundesregierung, dass wir deutsche Unternehmen im Ausland unterstützen. Darauf haben sie einen Anspruch.
Müller: Das bestreitet, glaube ich, auch niemand. Sie sind ja auch nicht für die Karitas dort unterwegs, das ist auch klar. Sie sind Bundeswirtschaftsminister und haben ein klares Aufgabenprofil in dieser Form. Wenn ich mich ein paar Jahre zurückerinnere: Sie waren auch im Europaparlament vor Ihrer Berliner Zeit tätig.
Altmaier: Das ist nicht ganz richtig. Ich war Beamter der Europäischen Kommission.
Müller: Verzeihung, bei der Europäischen Kommission, also auch ein überzeugter Europäer. Da auch Ihr Thema immer wieder Menschenrechte, haben Sie nachher im Bundestag ja auch weiter verfolgt. Ist Ihnen wohl dabei, in ein Land zu reisen, die Türkei – Sie haben auch viele andere jetzt genannt beziehungsweise den Horizont so groß gemacht -, wenn Sie immer wieder diesen Spagat eingehen müssen?
Altmaier: Ich bin hier in der Türkei zusammengekommen auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft. Ich habe hier in der Türkei auch Gespräche geführt mit Personen, die der Regierung nicht unbedingt nur nahestehen. Trotzdem wäre es mir wohler, wir hätten weltweit weniger Probleme im Bereich der Menschenrechte. Aber noch einmal: Die Türkei ist Mitglied der NATO. Die Türkei ist ein stabilisierender Faktor in der Region. Und die Türkei hat beispielsweise dazu beigetragen, dass Tausende von Menschenleben gerettet wurden, weil sie einen Waffenstillstand in der Region um Idlib vermittelt hat. All das sind Fragen, die auch für einen Wirtschaftsminister nicht irrelevant sind. Und es ist immer eine Gratwanderung. Diese Gratwanderung ist schwierig, aber wir können in der Politik nicht die Tatsachen negieren, sondern müssen versuchen, zwischen verschiedenen Alternativen, die allesamt auch ihre Probleme haben, das zu tun, was aufgrund unseres Wertefundamentes richtig ist.
Müller: Viele Kritiker auch in der Opposition sagen ja, solange das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei besteht und die Bundesregierung dieses Abkommen als so wichtig und so gravierend betrachtet und beachtet, gibt es ohnehin kein Druckmittel, keine Änderung gegenüber der Politik in Ankara und gegenüber Ankara. Wie wichtig ist das für Sie?
"Das Flüchtlingsabkommen ist nach wie vor notwendig"
Altmaier: Ich halte dieses Argument, ehrlich gesagt, für überhaupt nicht konstruktiv. Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir von niemandem abhängig sind und dass wir die Politik vertreten, die wir für gerechtfertigt halten. Es ist aber richtig, dass in der Türkei vier Millionen Flüchtlinge leben, und durch dieses Abkommen ist es gelungen, den Kindern dieser Flüchtlinge Schulausbildung zuteil kommen zu lassen, medizinische Versorgung. Die Flüchtlinge dürfen in der Türkei arbeiten. Dafür hat die Europäische Union und die Europäische Kommission gesorgt. Das halte ich in der Sache für richtig und deshalb halte ich dieses Flüchtlingsabkommen nach wie vor für notwendig, wenn wir unseren humanitären Verantwortungen auch außerhalb von Deutschland gerecht werden wollen.
Müller: Noch ein Punkt: Mindestens fünf inhaftierte Deutsche in der Türkei. Beobachter sagen, das sind politische Gefangene. Wie gehen Sie vor Ort in Ankara damit um? Sprechen Sie das direkt an?
Altmaier: Das habe ich ja vor Beginn der Reise gesagt, ich habe es auch gestern noch einmal wiederholt. Selbstverständlich kümmern wir uns um diese Fälle. Das sind Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit und wir fühlen uns verantwortlich auch für ihr Schicksal, und deshalb sprechen wir darüber.
Müller: Haben Sie das gestern dem Schwiegersohn von Erdogan auch gesagt?
Altmaier: Es stimmt aber auch, was Heiko Maas gesagt hat, dass man, wenn man den Menschen helfen will, nicht alle Diskussionen an die große Glocke hängt, sondern dass man beharrlich dafür arbeitet. Wir haben ja in der Vergangenheit gesehen, dass es immer wieder möglich war, solche Fälle zu lösen, und das ist unser Ziel auch für die Zukunft.
Müller: Sie haben ja gestern den Schwiegersohn von Erdogan getroffen, Ihr Amtskollege. Haben Sie ihm gesagt, lass die Deutschen frei, dann können wir über Wirtschaft reden?
"Im Augenblick gibt es keine Grundlage für Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien"
Altmaier: Herr Müller, noch mal: Wir haben in dieser Frage zwischen verantwortlichen Politikern früherer Bundesregierungen und der heutigen Bundesregierung in den letzten Monaten einiges erreicht und bewegt. Das gilt für den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ich war als Kanzleramtsminister in diese Dinge mit eingebunden. Und ich sage noch einmal: Wenn wir den Menschen helfen wollen, so wie es möglich war, dass heute Deniz Yücel wieder frei ist, dass Herr Steudtner wieder frei ist, dass andere freigekommen sind, dann eignet sich die Frage, mit wem man worüber spricht, in vertraulichen Gesprächen, die nicht öffentlich sind, nicht für eine Diskussion im Deutschlandfunk, so sehr ich den Deutschlandfunk schätze und bereit bin, über alles zu diskutieren.
Müller: Herr Altmaier, 7:24 Uhr, wir müssen ein bisschen auf die Uhr schauen. Ich muss das vor allem tun. Noch eine Nachricht heute aus Wien, die wir auch in den Nachrichten hier im DLF gemeldet haben, wonach die österreichische Regierung (im Moment Vorsitz in der Europäischen Union) ganz klar gefordert hat ein EU-weites Waffenembargo gegen Saudi-Arabien – passt ein bisschen in unser Thema. Den Fall Khashoggi hatten wir auch schon angesprochen. Die Bundesregierung zieht da mit, ohne Wenn und Aber?
Altmaier: Die Bundesregierung hat sich darauf verständigt. Die Bundeskanzlerin, der Bundesaußenminister, der Bundesfinanzminister, der Bundeswirtschaftsminister, wir haben uns darauf verständigt, dass wir im Augenblick keine Grundlage sehen für Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien, und dass wir darauf bestehen, dass dieser Fall aufgeklärt wird. Dann wird auch über Konsequenzen zu reden und zu entscheiden sein.
Müller: Aber Sie haben gesagt, alleine macht das keinen Sinn, dann müssen alle mitmachen. Jetzt sind wir ja fast soweit.
"Die deutsche Waffenexportpolitik war in den letzten Jahren bereits restriktiv"
Altmaier: Deshalb habe ich doch diese europäische Lösung eingefordert und ich freue mich sehr, dass die österreichische Präsidentschaft genau diesen Gedanken aufgreift und sagt, lasst uns in Europa gemeinsam darüber reden, weil es selbstverständlich zwar ehrenhaft ist, wenn dann ein Land sagt, wir exportieren keine Waffen – wir haben das früh gesagt als Deutschland -, aber wenn andere dann diese Lücke füllen. Dann ist der Eindruck in Saudi-Arabien beispielsweise ein sehr begrenzter und deshalb ist es gut, wenn wir in der Europäischen Union über eine gemeinsame Haltung reden. Deshalb unterstütze ich diesen Vorschlag von Österreich.
Müller: Das heißt, ab jetzt gibt es keine Waffen mehr? Es gibt auch keinen Jeep mehr, keinen Panzer, gar nichts, keine Panzerkette, gar nichts ab heute?
Altmaier: Herr Müller, noch einmal: Wir haben gesagt, dass wir keine Waffen liefern und dass wir verlangen, dass dieser Fall aufgeklärt wird. Das ist die Position der Bundesregierung. Im Übrigen müssen alle Exportentscheidungen im Bundessicherheitsrat getroffen werden. Dort sitzen alle zuständigen Minister von allen drei Koalitionspartnern und die Diskussionen dort sind wahrscheinlich mit die skrupulösesten, die es in Industrieländern, wo auch Waffen hergestellt werden, gibt. Wir haben überhaupt keinen Nachholbedarf, sondern die deutsche Waffenexportpolitik auch gegenüber Saudi-Arabien war auch in den letzten Jahren bereits restriktiv. Und wir haben gesagt: Solange dieses Thema nicht aufgeklärt ist, wird es keine Waffenlieferungen geben.
Müller: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier bei uns hier heute Morgen im Interview im Deutschlandfunk. Wir haben ihn erreicht in Ankara. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch eine gute Reise vor Ort.
Altmaier: Vielen Dank.
Müller: Auf Wiederhören!
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