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Alvito in Portugal 
Ein Dorf sehnt sich nach Migranten

Flüchtlinge, die nach Europa kommen, wollen nicht unbedingt in die strukturschwache portugiesische Provinz. Dabei sind sie hier willkommen. Denn Portugals Regierung und Kommunen werben gegen den europäischen Trend für mehr Migranten. Die wenigen, die dort angekommen sind, wissen das zu schätzen.

Von Tilo Wagner |
Eine Gasse im Dorf Alvito in Portugal, im Hintergrund ist das Kastell zu sehen
Eine Gasse im Dorf Alvito in Portugal (picture alliance/DUMONT Bildarchiv/Thomas P. Widmann)
In Alvito, einer 1.200-Seelen-Gemeinde im südlichen Alentejo, kratzt ein Straßenfeger Papierschnitzel aus dem Kopfsteinpflaster. Die engen Gassen mit den flachen weiß getünchten Häusern fallen auf eine Ebene ab. Ackerland erstreckt sich bis zum Horizont. In der Ortsmitte stehen neben dem Rathaus drei ältere Portugiesen im Schatten der Morgensonne.
Alle drei haben, als sie jung waren, als Gastarbeiter im Ausland gelebt – in Deutschland, England und Saudi-Arabien. Sie sind sich einig: Flüchtlinge würden in Alvito nett empfangen werden. Schließlich seien viele Einheimische ebenfalls ausgewandert, zumindest vorübergehend. Damals, als es in Portugal noch eine Diktatur gab und gerade im Süden des Landes große Armut herrschte.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Portugal - Warum das Land den Rechten trotzt.
"Die Syrer sind jetzt vor dem Krieg geflohen. Und wir sind damals weg, weil wir arm waren und hungerten", sagt ein stämmiger Mann, der in den 1970er-Jahren in Münster in einer Fabrik gearbeitet hat.
"Wir hatten alles dafür getan, drei Flüchtlinge aufzunehmen"
Auch David Serra hat jahrelang im Ausland gelebt. Der Mann, der sich in Alvito um die Flüchtlinge kümmert, wurde 1982 in Frankreich geboren und kam mit 15 Jahren in den kleinen Geburtsort seiner Mutter im Süden Portugals. Er hat Psychologie studiert und leitet nun den städtischen Sozialbereich – mit einem Büro in der öffentlichen Bibliothek.
Im Frühjahr 2016, so Serra, habe der Bürgermeister von Alvito der Regierung in Lissabon mitgeteilt, dass er Flüchtlinge aufnehmen würde, die über das europäische Umverteilungssystem aus Griechenland und der Türkei nach Portugal geflogen werden sollten. Doch das war zunächst gar nicht so einfach, erzählt Serra:
"Wir waren bereit. Wir hatten alles dafür getan, drei afrikanische Flüchtlinge aufzunehmen. Zwei meiner Kollegen sind dann mit dem Auto nach Lissabon an den Flughafen gefahren. Aber es kamen keine Flüchtlinge. Sie saßen einfach nicht im Flieger. Und wir wissen bis heute nicht, warum das so war."
Zwischen 2016 und 2018 wollte die portugiesische Regierung insgesamt 3.000 Flüchtlinge aufnehmen; 1.500 sind schließlich gekommen, und rund die Hälfte war bald wieder weg, weil sie auf der Suche nach Verwandten oder attraktiveren Wirtschaftsstandorten ins nördlichere Europa aufgebrochen waren.
David Serra leitet den städtischen Sozialbereich im portugiesischen Alvito und kümmert sich um die Flüchtlinge im Ort
David Serra kümmert sich um die Flüchtlinge in Alvito (Deutschlandradio/ Tilo Wagner)
Portugal - für viele Migranten eher ein Zwischenstopp
In den Alentejo kamen schließlich doch noch drei minderjährige Syrer. Aber für sie war dieser kleine Ort mitten in der dünn besiedelten portugiesischen Provinz zunächst ein Kulturschock.
"Als sie herkamen, dachten sie, Portugal wäre nur ein Trampolin, um in wirtschaftsstärkere Regionen nach Deutschland oder Frankreich zu kommen. Sie waren etwas verängstigt, weil das alles hier so klein und weit weg von allem ist."
Doch schon nach kurzer Zeit, so Serra, hätten die Flüchtlinge die Vorteile zu spüren bekommen:
"Das ist eine ländliche Region hier mit wenigen Einwohnern. Dadurch sind die Ämter auch nicht so überlastet. Wir von der Stadtverwaltung können uns viel intensiver um die Flüchtlinge kümmern. Und auch die Nachbarn merken sofort, dass jemand Neues im Ort lebt, der vielleicht Hilfe braucht. Das haben auch die syrischen Jugendlichen gemerkt, und heute sind sie froh, dass sie zu uns gekommen sind. Zwei von ihnen arbeiten in der Landwirtschaft und einer machte eine Ausbildung zum Hotelkaufmann."
18 Monate lang haben die Jungs aus Syrien unter einem besonderen Flüchtlingsstatus in Alvito gelebt. In dieser Zeit unterstützt die Zentralregierung die Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen, finanziell. Danach sollen sich die neuen Bürger so gut wie möglich alleine zurechtfinden, und das, so Serra, hätten die Jugendlichen geschafft. In Alvito, erzählt der 36-Jährige, sei daraufhin die Idee entstanden, mehr Flüchtlinge in den Ort zu holen.
In der Bibliothek sitzt eine vierköpfige syrische Familie an einem Tisch und lernt mit einer Lehrerin Portugiesisch. Die Eltern und ihre beiden Söhne kamen im Oktober aus Kairo nach Portugal. Die portugiesische Regierung hat aus den Problemen beim EU-Umverteilungsprogramm gelernt. Sie schickt nun Expertenteams aus portugiesischen Zollbeamten und Sozialarbeitern in die Türkei und nach Ägypten, um direkt vor Ort Flüchtlinge für einen Aufenthalt in Portugal zu gewinnen.
Die Familie wirkt eingeschüchtert. David Serra vermutet, die Eltern möchten gerade gegenüber Journalisten nichts über sich preisgeben, weil sie ihren Verwandten in Syrien nicht zeigen wollen, wie gut es ihnen jetzt geht.
Sicher weiß er das nicht. Denn: Serra spricht kein Arabisch, die Syrer noch kein Portugiesisch. Er benutzt ein Übersetzungsprogramm auf seinem Smartphone, um die wichtigsten Informationen weiterzugeben.
Die Kommune wünscht sich mehr Zuwanderung
"Wir hatten im vergangenen Sommer der Regierung in Lissabon mitgeteilt, dass wir weitere Flüchtlinge aufnehmen können. Es hat vier bis fünf Monate gedauert, aber das war gut: Wir konnten alles vorbereiten. Wir hatten eine Wohnung frei, die musste renoviert werden. Und dann brauchten wir die ganze Inneneinrichtung. Sozialvereine, Institutionen und Mitbürger haben gespendet: Von der Nachttischlampe über die Steckdose bis hin zu den Betten und dem Kühlschrank. Das war eine gemeinschaftliche Aktion hier im Ort – und wir haben alles rechtzeitig fertig bekommen."
Während in vielen anderen EU-Staaten das Thema Flüchtlinge zum Spielball rechtspopulistischer Parteien geworden ist, scheint die Solidarität mit den Neuankömmlingen in Portugal weiterhin ungebrochen. Es mag den Portugiesen einfacher fallen, weil der große Druck auf die Gesellschaft bisher ausbleibt. In ländlichen Regionen wie im Alentejo können sich die Portugiesen nun mit viel Engagement um ein paar wenige Flüchtlinge kümmern – und dabei auch ein Stück ihrer eigenen Geschichte erzählen, als sie selbst auf der Suche nach einer besseren Zukunft in den Norden Europas aufgebrochen sind.