Archiv

Alzheimer-Forschung
Betrugsverdacht bei grundlegender Studie zu Amyloid-ß

Ein Forschungsskandal überschattet die internationale Alzheimer-Konferenz in San Diego. Ein französischer Forscher soll über Jahre Ergebnisse manipuliert haben, so der Vorwurf. Doch welchen Einfluss hatte seine Arbeit auf die Alzheimer-Forschung? Sind deshalb bisherige Therapieansätze gescheitert?

Von Lukas Kohlenbach |
Amyloid-Ablagerungen in krankem Gewebe unter dem Mikroskop.
Es mehren sich die Zweifel, dass Amyloid-ß-Ablagerungen die Hauptursache von Alzheimer sind (IMAGO/YAY Images)
Christian Haass forscht am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen in München an den Ursachen für Alzheimer. Seit den Betrugsvorwürfen gegenüber einem französischen Wissenschaftler aus seinem Arbeitsgebiet macht er sich Sorgen um das Forschungsfeld: "Das trifft das ganze Arbeitsgebiet heftig. Die Berichterstattung selber natürlich. Und auch dass - diese Fake-Geschichte ist natürlich völlig unakzeptabel, natürlich - aber die Darstellung, welche Folgen das für die Amyloid-Forschung hat, also das hätte nicht sein müssen. Ganz klar."

Manipulierte Fotos

Doch, was war passiert? Am 21. Juli erschien ein Bericht im Fachmagazin "Science". Der investigative Journalist Charles Piller trägt darin die Ergebnisse monatelanger Detektivarbeit des Neurowissenschaftlers und Arztes Matthew Schrag zusammen. Eher zufällig war er bei Untersuchungen anderer Studien, die im Verdacht standen, gefälscht zu sein, auf Unregelmäßigkeiten in den Veröffentlichungen seines Kollegen Sylvain Lesné gestoßen. Dieser soll Fotos, die seine Forschungsergebnisse dokumentieren, manipuliert haben.
Das Magazin "Science" ließ zwei weitere Expertinnen die Bilder überprüfen. Sie bestätigen Matthew Schrags Verdacht und fanden sogar noch weitere Unregelmäßigkeiten. Das Brisante: Sylvain Lesné hat einige vielzitierte Fachartikel veröffentlicht. Besonders ein Paper 2006 im Magazin "Nature" galt als wegweisend: Es wurde mehr als 2.300-mal zitiert. Sehr häufig, für eine Veröffentlichung in dem Forschungsgebiet.

Existiert das Eiweißmolekül überhaupt?

"Aber wenn Sie die Literatur mal genauer angucken: Es wird zwar überall zitiert, das Ding, ja, aber gearbeitet hat daran niemand außer der eigenen Arbeitsgruppe, die es gefaked hat." Christian Haass möchte, wie auch die meisten anderen seiner Kolleg:innen, die Bedeutung der Forschung von Sylvain Lesné für sein Arbeitsgebiet nicht so hoch hängen. In der nun umstrittenen Veröffentlichung von 2006 zeigte Sylvain Lesné, dass ein bestimmtes Eiweißmolekül im Gehirn von Mäusen zu Gedächtnisverlust führte. Doch sollten sich die Manipulationsvorwürfe gegenüber dem Forscher bestätigen, stellt sich die Frage, ob dieses Eiweißmolekül überhaupt existiert. Und ob die Alzheimer-Forschung der letzten 16 Jahre dadurch vielleicht fehlgeleitet und zig Millionen Euro an Fördermitteln in den Sand gesetzt wurden.

Einige Medikamente enttäuschten

Die Vorwürfe treffen das Forschungsfeld zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Denn zuletzt hatten einige Medikamente, auf die die Wissenschaftler:innen große Hoffnungen gesetzt hatten, in klinischen Studien enttäuscht. Sie entfernen zwar die Eiweiß-Ablagerungen im Gehirn, das sogenannte Amyloid-ß, das lange als einer der Hauptschuldigen für die Entstehung von Alzheimer galt. Doch den schleichenden Gedächtnisverlust bremsen die neuen Wirkstoffe kaum. Immer mehr Wissenschaftler:innen bezweifeln deshalb, dass Amyloid-ß-Ablagerungen die Hauptursache von Alzheimer sind.

Kam die Forschung auf eine falsche Fährte?

Während Forschende in den 1990er-Jahren zunächst nur die Ablagerungen von Amyloid-ß als Ursache der Erkrankung ansahen, untersuchten Anfang des Jahrtausends immer mehr Forschungsgruppen lösliche Molekülketten des Eiweißes. Sie könnten vor den Ablagerungen auftreten oder sich aus ihnen lösen. Manche Wissenschaftler:innen sind der Überzeugung, dass sie noch schädlicher sind als die Ablagerungen selbst. 
Das umstrittene "Nature"-Paper von 2006 bestätigte genau das: Eine solche lösliche Molekülkette von Amyloid führte angeblich im Gehirn von zuvor gesunden Mäusen zu Gedächtnisverlust. Setzte Sylvain Lesné die scientific community damit auf eine falsche Fährte? Und trägt er die Verantwortung für den Misserfolg von Therapien auf Basis der Amyloid-Forschung?

Fortschritte bei Manipulationserkennung

"Also wenn, wenn man jetzt kritisch dieser Amyloid-Geschichte gegenübersteht, dann kann man sich, könnte man sich rechthaberisch hinstellen, sagen: Ja, da schau her, da, gerade in dem Feld, das eh umstritten ist, gibt es ein Problem, aber das möchte ich gar nicht!" 
Der Neurobiologe Christian Behl arbeitet an der Universität Mainz und beschäftigt sich schon länger kritisch mit dem Arbeitsgebiet. Als Herausgeber eines Fachjournals kennt er die Herausforderungen, Abbildungen in Papern auf Manipulationen hin zu überprüfen. In den letzten Jahren sieht er hier Fortschritte. Doch die mutmaßlich gefälschten Studienarbeiten von Sylvain Lesné liegen Jahre zurück. Damals konnten die Manipulationen möglicherweise schlechter erkannt werden, sagt Christian Behl.

Forschung muss Erfolge liefern

Zwar nahm die Forschung an löslichen Formen des Amyloid-Eiweißes in den vergangenen Jahren stark zu. Doch das Forschungsfeld hätte sich vermutlich auch ohne Sylvain Lesnés Veröffentlichungen entwickelt. Inzwischen ist eine Vielzahl verschiedener löslicher Amyloid-Formen beschrieben. Das spezifische Molekül aus dem umstrittenen "Nature"-Paper von 2006 hat aber tatsächlich vor allem nur Sylvain Lesnés eigenes Forschungsteam untersucht. Seine Forschung führte nicht direkt zu klinischen Studien mit Medikamenten. Die enttäuschenden Präparate der letzten Jahre haben Firmen unabhängig davon entwickelt.
Dennoch: Die Forschung rund um das Amyloid-Eiweiß muss nun Erfolge liefern, sonst gerät die sogenannte Amyloid-Kaskaden-Hypothese als Erklärung für die Entstehung der Alzheimer-Erkrankung endgültig ins Wanken. Christian Haass aus München trug in den 1990er-Jahren entscheidend zur Entstehung der Hypothese bei – und ist bis heute fest davon überzeugt: "Der Druck ist so gewaltig aufs Arbeitsgebiet, dass wenn da jetzt nicht ein Erfolg kommt, wird es schwierig werden, auch wenn man auf der richtigen Spur ist."

Nächste Ergebnisse erwartet

Im Herbst könnten Pharmafirmen die nächsten Ergebnisse der noch laufenden Studien mit Medikamenten gegen Amyloid-Plaques veröffentlichen. Sollten sie nicht überzeugen, könnten sich viele Wissenschaftler:innen von dem Forschungsfeld abwenden. "Ich glaube, wir machen uns alle viel zu großen Druck und das ist keine gute Idee. Ja, mehr Geduld und mehr Offenheit und mehr Austausch untereinander und weniger Feindlichkeit Ich glaube, das wäre die wichtigste Take-Home-Message."