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Am Anfang war der Kuss

Der fatale Kuss zwischen Amfortas und Kundry ist Auslöser der Parsifal-Handlung, wird aber meist nur als Vorgeschichte erzählt. Bei Tatjana Gürbaca steht er sichtbar am Anfang ihrer Inszenierung an der Oper Antwerpen. Die differenzierte Personenregie ist ihre Qualität.

Von Ulrike Gondorf |
    Die Geschichte beginnt schon während des Vorspiels. Aus einer Gruppe von Figuren, die nach und nach auf der leeren Bühne auftauchen, finden sich ein Mann und eine Frau und küssen sich. Und an der weißen Rückwand der Szene sickern dünne Rinnsale von Blut aus dem Bühnenhimmel.

    Der fatale Kuss zwischen Amfortas und Kundry ist Auslöser der Parsifal-Handlung, wird aber meist nur als Vorgeschichte erzählt. Bei Tatjana Gürbaca steht er sichtbar am Anfang des Geschehens. Das Leiden des Gralskönigs, die unaufhörlich blutende Wunde, der Niedergang des Ritterbundes, die Sehnsucht nach dem Retter Parsifal und die Erlösung von der Schuld, die in diesem Kuss lag – das sind die Motive, die Wagner in seiner Dichtung aus diesem Sündenfall entwickelt. Tatjana Gürbaca setzt sie in ein überraschendes Licht.

    Dass in der Spiritualität des Grals das Heil liegt und in der Sinnlichkeit Kundrys das Verderben – diesen Dualismus lässt die Antwerpener Inszenierung nicht gelten. Erlösung kann folgerichtig nicht stattfinden. Das Ende ist ein Liebestod. Amfortas rammt sich den Speer in den Leib, den Parsifal den Gralsrittern als Zeichen der Gnade zurückbringt. Kundry schneidet sich die Pulsadern auf. Gurnemanz, so lange Sprachrohr der reinen Lehre, legt erschüttert die Hände der Sterbenden ineinander. Die anderen haben sich längst von dieser Realität abgewendet, schauen in den leeren Himmel in Erwartung eines Wunders, das sich wohl nie ereignen wird.

    Große Gewinnerin dieser Lesart des Stücks ist Kundry. Und auch wenn die veränderten Vorzeichen, die Tatjana Gürbaca mit ihrer Interpretation setzt, nicht immer schlüssig aufgehen, so wird man diese Figur doch in Erinnerung behalten aus der Antwerpener Aufführung.

    Die differenzierte Personenregie ist insgesamt sicherlich die stärkste Qualität dieser Inszenierung. Susan MacLean spielt und singt die Kundry sehr überzeugend: als unangepasste, spontane, manchmal kindlich trotzige Person; verzweifelt, wenn sie sieht, dass immer das Ritual die Oberhand über das Leben behält, als einzige fähig zu Empathie und Zuwendung. Die Stimmfarben, die Susan MacLean einsetzt, sind so vielfältig wie die Facetten dieses Charakterbilds. Und natürlich entspricht es der Dialektik des Konzepts, dass die Stimme der teuflischen Verführerin Kundry zugleich als engelgleiche "Stimme aus der Höhe" im Gralsbild erklingt.

    Der Titelheld Parsifal verblasst in der Perspektive dieser Inszenierung, denn seine dramaturgische Funktion als Heilsbringer kommt ja nicht zum Zuge. Der serbische Tenor Zoran Todorovich hat in Antwerpen und anderswo mit Mozartrollen und Partien des italienischen Fachs auf sich aufmerksam gemacht. Sein Rollendebut als Parsifal gelingt, aber es zeigt doch, dass er hier eine Grenzpartie in Angriff genommen hat.

    Kein Wunsch bleibt offen beim Gurnemanz von Georg Zeppenfeld. Souverän, außerordentlich klangschön und dabei mit perfekter Wortverständlichkeit gestaltet er die Rolle und spielt anrührend eine scheiternde Figur. Regisseurin Tatjana Gürbaca hat ihn als den Repräsentanten eines untergehenden Systems in den Rollstuhl gebannt, und Zeppenfeld zeigt einen spannenden Konflikt: wie ausgerechnet er als Hüter der alten Ordnung deren Fragwürdigkeit erkennen muss.

    Chor und Kinderchor der Antwerpener Oper lassen die Gralswelt erklingen – hier findet die Inszenierung einige interessante Zuspitzungen, die sich auch auf die musikalische Interpretation auswirken: In der Konfrontation mit Amfortas gewinnen die Chöre eine bedrohliche Eindringlichkeit. Dirigent Eliahu Inbal am Pult des Orchesters der Antwerpener Oper ist also offensichtlich den Weg dieser Inszenierung überzeugt mitgegangen. Unter seiner Leitung, die insgesamt breit strömende, romantische Tempi favorisiert, entfaltet das Orchester einen warmen, dunkel timbrierten, man möchte fast sagen: deutschen Wagnerklang.