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Am Ende steht ein Doppelpunkt

"Tellkamp ist ein äußerst genauer Protokollant des Gewesenen. Wer wissen will, was die DDR war - und wie viele wissen es nicht oder wollen es nicht mehr wissen -, der erfährt es hier. Aber Tellkamp will mehr und anderes als die Vergangenheit protokollieren, und so ist sein Roman auch kein Protokoll, keine Chronik, sondern ein Kunstwerk, das auf Verzauberung, Verführung und Überwältigung setzt."

Von Martin Ebel |
    Vor vier Jahren gewann Uwe Tellkamp in Klagenfurt das Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis. "Ecce poeta"! jubelten erst die Juroren und dann die Feuilletons. Da war ein Dichter erschienen wie aus dem Nichts, ausgestattet mit Detailversessenheit und Sprachfuror, der sein Material gleichwohl mit souveräner Hand führte. Kurz darauf erschien sein Roman "Der Eisvogel", und Tellkamp wurde von der Kritik gezaust; wegen seines konservativen Outfits schloss man auch auf entsprechend rechte Ansichten, die allerdings eher seinen Figuren zuzuschreiben waren. Dann hörte man nichts mehr, Tellkamp arbeite an einem monumentalen Langgedicht, "Nautilus", hieß es. Bis Suhrkamp für diesen Herbst einen fast tausendseitigen Roman ankündigte, einen Dresden-Roman, der an den tollen Klagenfurter Siegertext "Der Schlaf in den Uhren" anzuknüpfen schien. Entsprechend groß waren die Erwartungen.

    Jetzt ist "Der Turm" da und kann gelesen werden. Es ist ein Buch, das die Kritik vermutlich spalten wird, ein Buch, das sich einem einhelligen Urteil entzieht, das zu maßlos ist für die üblichen Maßstäbe der Beurteilungsinstanzen.

    Hier schlafen die Uhren nicht, sie ticken, was zu schlafen scheint, ist ein System, das die Zeit anhalten will, obwohl es den "Fortschritt" zu verkörpern behauptet. Ein DDR-Roman ist dies, der enorme Versuch, die letzten sieben Jahre einer Gesellschaft zu erfassen, zu bewahren und zu gestalten, die mit dem Fall der Mauer 1989 auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. "Geschichte aus einem versunkenen Land" heißt der Untertitel, und der Haupttitel, "Der Turm", liefert schon eine Interpretation. Damit ist ein Villenviertel in Dresden-Loschwitz gemeint, in dem die Häuser romantische Namen tragen wie

    " Tausendaugenhaus, Karavelle, Delphinenort, Abendstern, Spinnweghaus."

    Häuser mit schmiedeeisernen Gittern und Jugendstilfenstern. Dort leben Akademiker, die ihrem System nur gerade so viel geben wollen, als nötig ist, und sich ihm so weit entziehen wie möglich. Der Chirurg Richard Hoffmann etwa, Vater der Hauptfigur Christian (welcher dem Autor in manchem biographischen Detail sehr ähnelt), sein Schwager Meno, ein Zoologe, der wegen seiner Verbindung zur evangelischen Gemeinde nicht doktorieren durfte und jetzt als Lektor die "Dresdner Edition" betreut, luxuriöse Klassiker- Ausgaben; Meno schreibt auch selbst, die von ihm verfassten Passagen sind im Roman kursiv gedruckt. Dann dessen Bruder Ulrich, Direktor eines Volkseigenen Betriebes, und Niklas Tietze, auch ein Arzt.

    "Er schien in dieser Welt, wo es die "1000 kleinen Dinge" und den Fluch des Treppensteigens in Behörden gab, nur zu Besuch zu sein."

    Und weiter:

    "Für ihn schien die Gegenwart eine Möglichkeit unter anderen zu sein, in der man leben konnte, und nicht die angenehmste, weshalb er sie mied."

    Niklas´ Fluchtort ist die klassische Musik; er führt Christian in die große Vergangenheit der Dresdner Oper ein. Wenn sie gemeinsam vor dem Plattenspieler sitzen,

    "dann, so empfand Christian, geschah etwas mit dem Zimmer: Die grüne Tapete mit den Urnensternen und Strahlentieren schien sich zu öffnen; die Wiener Uhr bekam ein Gesicht, die gelbe Kunst-Rose unter dem Glassturz auf dem Sekretär in der Ecke, an dem Niklas seine Korrespondenz mit Tinte auf Spechthausener Bütten schrieb, schien zu wuchern und sich zu verzweigen, wie es in Silhouettenfilmen in den Tannhäuser-Lichtspielen geschah, wo Schattenpflanzen (Rosen? Disteln? weder Muriel noch Christian, noch Fabian wussten es) ein Schloss umrankten; die Fotografien der Sänger an den Wänden waren nicht mehr nah, wirkten wie heraufgetrieben aus den Kajüten versunkener Schiffe; das Wetzgeräusch der Abtastnadel klang wie Meeresdünung."

    Sie alle verachten die graue Gegenwart mit ihren hohlen Politikerphrasen, den lästigen Behördengängen, dem Schlangestehen, den Mangelerscheinungen und der allgemeinen Hässlichkeit, und pflegen das Gute und Schöne, also Kultur und Vergangenheit. Meno beschreibt es so:

    "Der gelbe Nebel zog durch ihre Zimmer, laugte an den Häusern, machte den Dresdner Sandstein porös, überkrustete die Dächer, fraß an den Schornsteinen, ließ die Kittfassungen der Fenster brüchig werden, aber die Türmer hörten Tannhäuser in sieben verschiedenen Aufnahmen und vergleichen sie miteinander, um sich über "die beste, die höchste, die schönste, die Standardaufnahme" zu streiten; sie maßen das zerstörte Kurländer Palais nach, in Gedanken und auf dem Papier, während ihre Wohnungen mürbe wurden und das Holz der Dachstühle zundrig, und so kannte ich es aus der ganzen Stadt, diesem zerschossenen Barockschiff im Waschzuber des Elbtals, dieser schimmernden Frucht gefangen im Uterus seiner eigenen, der parallelen Zeit; überall, wo ich hinkam, war es das gleiche: Kaffeetafeln, Eierschecke, DAS ALTE DRESDEN."

    Die "Türmer" nennt Tellkamp diese Bildungsbürger, für die "Banause" das denkbar schlimmste Schimpfwort ist. Sie bilden eine Enklave im "realexistierenden Sozialismus". Die Bezeichnung ist nicht ohne leise, aber freundliche Ironie gewählt und spielt nicht nur auf die Turmgesellschaft in Goethes "Wilhelm Meister" an, sondern auch auf das Verb "türmen" = flüchten. Die Türmer leben bürgerliche Werte in einem Staat, der Arbeiter und Bauern auf seine Fahne geschrieben hat. Sie betreiben Kammermusik, gehen in Konzerte oder in einen Vortrag über die mesopotamische Kultur, rezitieren Gedichte von Majakowski und Jessenin, auswendig natürlich. Einkaufen müssen sie aber trotzdem, und da stößt die Vergangenheit - "in den Musennestern / wohnt die süsse Krankheit Gestern" skandiert der Autor immer wieder - auf eine Gegenwart, die sich eben nicht verdrängen lässt.

    Der Streit um die Waschmaschine, die Demütigungen eines "Behördentages", das fünfstündige Schlangestehen für einen Mantel (oder auch nur auf Verdacht für irgendwas), die Unzahl von Vorschriften, die jede Lebensregung umzäunen, unfreundliche Verkäuferinnen, leere Regale, intrigante Kollegen, denen man nicht beikommt, weil sie in der "Partei" sind; die Lüge, die das öffentliche Sprechen prägt und das Lügen, zu dem man selbst gezwungen wird, um nicht in böse Konflikte mit der Staatsmacht zu geraten: Tellkamp hat das alles aufgeschrieben, mal nüchtern und kalt, mal beißend satirisch, mal wütend und verzweifelt, wie es seine Figuren eben gerade empfinden.

    Er geht mit Richards Frau Anne einkaufen.

    "Jetzt schau Dir mal diese idiotischen Rührgeräte an. Ein Skandal, ein richtiger Skandal ist das. Hören Sie", rief sie der Verkäuferin zu, die durchgefroren hinter einem Haufen bunter Plasterzeugnisse "für die moderne Hausfrau" stand, "jetzt werde ich Ihnen mal was zeigen!" Sie nahm ein Gerät, das aus drei ineinandergreifenden Rührbesen auf einem Drehteller und einer seitlich angebrachten Kurbel bestand, liess die Rührbesen surren. Anne drehte schneller, die Rührbesen verhakten sich, und kein Vor oder Zurück konnte an diesem Zustand etwas ändern. Schliesslich brach einer der Rührbesen ab. Anne warf die Überreste auf den Tisch. "Diesen Mist verkaufen Sie?" Die umstehenden modernen Hausfrauen brummten gefährlich. "Sie haben das kaputtgemacht, nun müssen Sie es auch bezahlen", rief die Verkäuferin. "He, Sie, unterstehen Sie sich, abzuhauen, Hilfe, Polizei!"

    Ein Abschnittsbevollmächtigter kam. "Was ist hier los, Bürgerinnen?"

    "Genosse ABV, die Frau hat da diesen Rührbesen zermurkst, und jetzt will sie nicht bezahlen."
    "Ich denke ja gar nicht daran, für diesen Pfusch auch nur eine müde Mark auszugeben, eine Unverschämtheit ist das, ich habe mir nur erlaubt, Ihre Ware auch mal zu testen, damit Sie sehen, womit Ihre modernen Hausfrauen auskommen müssen, Rührbesen, pah, fünf Umdrehungen, und es hat sich ausgerührt."

    "Bürgerin, Sie haben die Ware beschädigt, also hat die Bürgerin Verkäuferin Anspruch auf Schadensersatz."

    "Na, so was!" empörten sich ringsum moderne Hausfrauen. "Der Quark kostet einen Haufen Geld - und taugt nicht mal für'n Ollen übern Deez..."

    "Aber das ist ja Aufruhr!" Der ABV zückte sein Notizheft. "Andererseits... Zeigen Sie mal her!" Er liess sich einen Rührbesen geben. Dann den nächsten. Einer nach dem anderen ging kaputt. Die Verkäuferin geriet in Wut, begann den Ordnungshüter zu beschimpfen. Der geriet ebenfalls in Wut, schrie, dass auch seine Frau auf einwandfreie Kurbelrührerzeugnisse zur Herstellung vorweihnachtlicher Backwaren angewiesen sei; Meno zog Anne weg."

    Tellkamp folgt seinen Figuren auch nach "Ostrom" - so heißt das Viertel, in dem die Nomenklatura lebt -, oder zum geheimnisvollen Baron von Arbogast, der über einen Reichtum verfügt, den es im Sozialismus eigentlich gar nicht geben darf. Er begleitet sie auf verschiedene Partys und zeichnet im O-Ton auf, was so geredet wird. Er verfolgt den Weg eines Romanmanuskripts einer jungen Autorin, die bis dahin Unerhörtes auszusprechen wagt, durch die verschiedenen Stadien der Zensur (und natürlich wird es nicht veröffentlicht). Dabei erfahren wir einiges über den Umgang mit sogenannten "schwierigen" Werken, deren Druck zwar erlaubt wird, aber nur in einer verschwindend kleinen Auflage, die man eben dann auch verschwinden lassen kann. Tellkamp geht mit Christian zur Armee, der dort den Tod eines Kameraden bei einem Manöver erlebt und so ausrastet, dass er ein Jahr ins Militärgefängnis kommt. Auch Tellkamp hat den Strafvollzug der DDR kennengelernt, allerdings nur zwei Wochen, als er sich kurz vor der Wende weigerte, an einem Einsatz gegen Dresdner Demonstranten teilzunehmen; er nahm mit gutem Grund an, dass sein Bruder und andere Familienmitglieder dabei sein würden. Gegen die wollte er nicht mit dem Schlagstock vorgehen. Die Seiten über die Haftzeit von Christian gehören zu den bedrückendsten in diesem Buch, auch weil sie sich diesmal ohne alles poetische Beiwerk auf die nackten Vorgänge beschränken.

    Auf vielen Seiten des "Turm" wohnt der Leser auch einer Versammlung eines "Verbandes der Geistestätigen" bei, der zum Tribunal über einige Mitglieder wird und mit Ausschlüssen endet - genau so hat man es in Protokollen des wirklichen Schriftstellerverbandes gelesen. Tellkamp ist ein äußerst genauer Protokollant des Gewesenen. Wer wissen will, was die DDR war - und wie viele wissen es nicht oder wollen es nicht mehr wissen -, der erfährt es hier.
    Aber Tellkamp will mehr und anderes als die Vergangenheit protokollieren, und so ist sein Roman auch kein Protokoll, keine Chronik, sondern ein Kunstwerk, das auf Verzauberung, Verführung und Überwältigung setzt. Das, was an Handlung überhaupt festzumachen ist, wird nämlich überwuchert von Gedanken und Empfindungen, von Eindrücken und Assoziationen. Es ist Tellkamps Absicht, die DDR über Duft, Farben und Geschmack zu konservieren, durch Atmosphäre und Originalton der Gespräche.

    " "Beschwörungen eher als Begriffe"

    ... heißt es einmal, und damit wäre das Schreibprogramm Uwe Tellkamps umschrieben, der sogar einem Satz Schraubenzieher Poesie abzulauschen vermag. Begriffe nageln fest, Beschwörungen lassen der Erinnerung freien Raum, sich zu entfalten, und im "Turm" entfalten sie sich potenziell bis zur Unendlichkeit.

    Die Erinnerung macht sich an Sinneseindrücken fest und überfällt das Ich dann überwältigend intensiv: So ist schon Marcel Proust verfahren, eine der großen Leseeindrücke Tellkamps - aber ästhetisch nicht unbedingt sein Vorbild. Während Prousts ausufernde Sätze immer von einer cartesianischen Klarheit sind, lässt Tellkamp die seinen mal barock auftrumpfen und mal impressionistisch ausfransen. Er liebt die summierende Reihung von Satzgliedern, holt die Einzelheiten zusammen wie der Rechen das Laub, dann wieder schichtet er Nebensätze übereinander wie ein Kartenhaus, das wunderbarerweise nicht einstürzt. Er will alles erfassen, alles sagen, und die Totalität des Anspruchs soll der Genauigkeit im Detail nicht im Wege stehen.
    Tellkamp notiert nicht nur akribisch, sondern verwandelt auch unentwegt (auch das ist sehr proustisch). Die Sprache kennt dafür die Mittel des Vergleichs und der Metapher. Üppig, ja verschwenderisch werden sie hier verwendet, unmöglich, mehr als eine Ahnung davon in einer Besprechung zu geben. Zwei Beispiel mögen deshalb genügen. Die Augen eines Mädchens ähneln nicht etwa nur Kirschen, sondern sie sind

    "glänzend dunkel wie die Kirschen von dem knorrigen Baum im Garten des Uhren-Großvaters in Glashütte, wenn sie schon überreif geworden waren und ihre prall gespannte Haut im nächsten Regen aufplatzen würde."

    Einmal betrachtet Christian die Schmetterlingssammlung seines Onkels Meno, und dieser führt ihn in die Bedeutung der feinen Unterschiede ein, die er zugleich mit einem gewagten und breit ausgeführten Vergleich anschaulich macht; eine Passage, die sehr schön die Tellkampsche Ästhetik beleuchtet:

    "Meno wies auf die Maserung der papierdünnen Flügel, die Christian an die Wellenringe nach einem Steinwurf in einen stillen Teich erinnerte. Sie schienen sich über die einzelnen Schmetterlinge fortzusetzen und sie in ein größeres Bild zu fügen, von dem sie nur Teile waren, als gehörten sie zu einem Puzzle. Sie sahen einander sehr ähnlich, nur wenn man genau beobachtete, traten die winzigen Differenzen zwischen den einzelnen Faltern hervor. "Das sind die Orchesterpartien, an die der Komponist die größte Sorgfalt verwendet hat, obwohl sie vom Publikum kaum gehört werden; aber gerade sie sind ihm wichtig, und man könnte ihm kein größeres Kompliment machen, als gut zuzuhören, denn wozu sonst ist Musik da, wenn nicht zum Zuhören. Diese Flecken von Purpur, Rostgrün und Flieder, dieses Blau, das so intensiv ist, dass es auf einer Zitrone erscheinen könnte: das sind Effektstellen, wie sie italienische Belcanto-Komponisten mögen und das durchschnittliche Opernpublikum liebt, das ins Theater nicht geht, um zuzuhören, sondern um zu sehen, in der Pause zu flanieren, sich über die Preise der Schnittchen und Cocktails zu erregen, und gesehen zu werden; das schon von vornherein die 'berühmte Stelle' kennt, wo der Tenor alle Kräfte zusammenreißt, um das Hohe C und das, was danach folgt, zu stemmen; mich aber interessieren die unscheinbaren Gewebe, die Tarnungen, Übergänge; Camouflagen und Mimikry; die Bauart der Betten, in denen die Motive liegen, diese 'schönen', manchmal eben allzu schönen Prinzessinnen. Mich interessiert nicht nur die Beletage, sondern auch Kohlenkeller, Küche, und, um im Bild zu bleiben, Dienerschaft in der Komposition." So Meno."

    Die Vergangenheit nicht über den Intellekt, sondern über die Sinne zu bewahren; sie zugleich metaphorisch zu poetisieren, bis sie selbst aufzuplatzen droht: Das ist ein ehrgeiziges Projekt, und es birgt zwei Gefahren. Die eine liegt darin, dass Tellkamp epische Totalität mit lyrischen Mitteln herstellen will - die aber gelegentlich ins Rhetorische verrutschen. Die zweite liegt darin, Haupt- und Nebensachen zu vermengen, beziehungsweise gar keine Hauptsachen mehr erkennbar zu machen. Das Relief, die Anordnung nach Vorder- und Hintergrund sind seine Sache nicht. Dem Leser aber, dem jeder Spaziergang zu Epiphanie und Apotheose wird, dem andauernd und noch in Klammern Nebenpersonen überaus plastisch vorgestellt werden, die nie wieder auftauchen (oder dann nicht wiedererkannt werden), dem Leser droht der Wald vor lauter Bäumen verloren zu gehen. Alles ist wesentlich - und wird zu einem wesentlichen Rauschen. Beiden Gefährdungen entgeht das Buch nicht immer, was nichts daran ändert, dass wir es hier nicht nur mit einem gewaltigen, sondern auch mit einem imponierend gelungenen Unternehmen zu tun haben. Auch wenn der Leser viel Zeit und Geduld für ein dickes Buch braucht: Er wird reich belohnt.

    " Mit 500 Seiten begannen die wirklichen Romane. Mit 500 Seiten begann der Ozean, darunter war Bachpaddeln."

    ... bemerkt Christian einmal in einer exzessiven Lesephase. Mit Tellkamps Roman käme er auf seine Kosten, und das tut der Leser auch. Nicht zuletzt ist "Der Turm" von einer ätzenden Komik, deren Spannweite von DDR-Witzen bis zur knochentrocken reportierten Szene auf der Schätzstelle reicht und für manche Beschreibungslängen entschädigt. Zum Schreien auch der "Weihnachtsbaumkrieg" um die schönste Tanne, der zwischen den verschiedenen Abteilungen von Richards Krankenhaus geführt wird und zu einer grotesken Situation führt: Richard schleicht sich mit zwei Kollegen auf eine Tannenschonung, wo viele Bäume mit Zetteln für Parteibonzen reserviert sind und auch bereits Konkurrenten am Werk sind, es ist der Pfarrer mit seinem Sohn, der seine Kirche auch nicht mit einem Krüppelbaum bestücken will, wie sie auf offiziellem Wege nur zu erhalten sind.
    Was ist nun der Wald, den man vor lauter Bäumen nicht leicht sieht? Das ist - um viele Beschwörungen mal auf einen Begriff zu bringen - zum einen die Parallelgesellschaft, die sich neben, unter und um die offizielle DDR längst gebildet hatte, in der offen gestohlen, getauscht und bestochen wurde, in der Richard für sein Krankenhaus nur dann Medikamente aus dem Arzneimittelwerk erhält - außer der Reihe, versteht sich -, wenn er zwanzig Dresdner Stollen besorgt, von einem bestimmten Bäcker natürlich, der wiederum Medikamente für seine Mutter braucht, aber solche aus dem Westen; in der dem einzigen Vulkanisateur von Dresden-Süd von zwei Ärzten mit einem falschen Gutachten ein verkürztes Bein bescheinigt wird, damit er nicht zum Militär muss; in der die Mutter eines gequälten Soldaten mit 500 Mark in der Kaserne auftauchte; ein System also, das durch ein unendliches Netzwerk von Geschäften und Gegengeschäften, sprich: von Korruption in Gang gehalten wurde. Ein sozialistischer Kreislauf, der zum Leerlauf wird und schließlich auch ins Leere läuft. Denn zum zweiten ist "Der Turm", und das wird westliche Leser überraschen, die Dokumentation eines Verfalls, dessen unausweichliche Konsequenz vor Ort sehr viel eher bemerkt wurde als hierzulande. Der VEB-Direktor berichtet über katastrophale Zustände in der Produktion, die drohende Pleite des ganzen Systems, seine Verwandten überlegen, Lebensmittel zu horten und Fahrräder zu kaufen, Wertgegenstände zu sichern, mit denen man zum Bauern tauschen gehen könne.

    Gegen Ende des Buches vermehren sich die Anzeichen des Untergangs rapide. Ein Stromausfall in Dresden und Umgebung, infolge dessen die Wasserrohre brechen und die Kraftwerke nicht mehr laufen, erscheint wie ein Vorbote der Katastrophe. Das Tempo beschleunigt sich, die Uhren ticken lauter, und schließlich schlägt es dreizehn. Beim Mauerfall endet das Buch, und hier setzt Tellkamp keinen Punkt, sondern einen Doppelpunkt, der alles offen lässt. Eine brillante Idee. Der Roman ist zu Ende, weil jedes Buch einmal zugeklappt werden muss. Die Geschichte aber geht weiter.