Archiv


Am Rande des estnischen Wirtschaftswunders

Viele sehen in Estland die europäische Zukunft. Nach der Unabhängigkeit hat das Land Staat und Wirtschaft konsequent reformiert. Ein transparentes Steuersystem mit einheitlichem Satz à la Kirchhoff wurde eingeführt. Nur was sich am Markt halten konnte, blieb bestehen. Doch der estnische Musterschüler zahlt einen hohen Preis für seine neoliberalen Reformen. Die Geburtenrate ging in den neunziger Jahren stark zurück, viele ländliche Gegenden sind schon heute vom Aussterben bedroht und der Abstand zwischen arm und reich könnte größer kaum sein. Marc-Christoph Wagner hat in Tallinn eine Suppenküche besucht und dort die Schattenseiten des estnischen Reformwunders beobachtet.

Von Marc-Christoph Wagner |
    Ein wenig erinnert der Raum an ein Leichenschauhaus. Die weißen Fliesen an den Wänden wirken steril, das helle Neonlicht lässt die Gesichter der Wartenden noch blasser erscheinen als sie eh schon sind. In der Mitte des Raums lediglich zwei alte Holztische. Darauf zwei große Töpfe mit dampfender Suppe und ein Tablett mit trockenem Brot.

    " Ich bin eine alte, kranke Frau, was soll ich da tagsüber groß machen? Ich gehe spazieren, aber meine Füße tun mir schnell weh und was sollte ich mir auch anschauen? Natürlich komme ich jeden Tag hier her in diese Suppenküche. "

    Vor den beiden Holztischen stehen etwa zwei Dutzend Menschen, die Schlange reicht durch das Treppenhaus hinaus bis auf den kleinen Hinterhof. Es sind vor allem Alte in verlotterten Kleidern, die sich hier ihre tägliche warme Mahlzeit abholen. Aus alten, etwas speckigen Plastiktüten und Taschen reichen sie der Köchin auf der anderen Seite des Tisches ihre Teller und Schüsseln. Die Menschen stehen an, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Gut 2000 Kronen Rente bekommt er, erzählt ein unrasierter Mann mit weißem, vom Wind zerzauselten Haar – umgerechnet etwa 150 Euro.
    " Die Politiker bekommen zehn Mal mehr als ich – natürlich ist dann kein Geld für uns Alte übrig. Ich verstehe, dass man unseren Beamten in Brüssel ein hohes Gehalt zahlt, dort ist das Leben ja auch teuer. Hier in Estland aber dürften die Gehälter nicht so hoch sein. "

    Seit zehn Jahren arbeitet Luba Lobov als Köchin hier in der Suppenküche. Auch sie ist kein Mensch der vielen Worte. In weißer Schürze und mit Plastikhaube im Haar steht die übergewichtige Mitfünfzigerin mit den roten Wangen hinter ihren beiden Töpfen und schenkt aus – nahezu stoisch. Hier und dort nickt sie einem der Alten zu:

    " Ich bin seit sieben Uhr heute morgen hier. Als erstes schäle ich die Kartoffeln und putze die Möhren. Die Suppe muss um 9:00 Uhr fertig sein – Sie sehen ja, wie ungeduldig die Menschen hier warten, und die Suppe darf ja auch nicht sehr heiß sein, wenn ich sie verteile. Jeden Tag gibt es eine andere Suppe, mal mit Gemüse, mal mit Fleisch oder Reis. "
    Luba Lobov selbst ist russischer Herkunft und hat die estnische Sprache bis heute nicht gelernt. Für sie sei das kein Problem, sagt sie. Etwa die Hälfte der Alten, die in die Suppenküche kommen, seien Russen, und die Esten würden sie ja ebenfalls verstehen. Probleme und Streit zwischen diesen beiden Volksgruppen gebe es nie, so Lobov. Die Leute stellten sich leise an, bekämen ihre Suppe und gingen wieder nach Hause.

    Einige, erzählt Luba Lobov, kämen täglich, andere nur ab und zu. Ein wenig stolz zeigt sie ein kleines Heft – darin eine Handvoll Briefe, die Lubas Kockkunst und ihr freundliches Wesen loben.

    Eine Etage höher liegt das Büro von Riina Kabi, der Leiterin des estnischen Roten Kreuzes, das auch die Suppenküche betreibt. Die sozialen Probleme, sagt die dynamische Frau Mitte Vierzig, hätten in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Vor allem in Tallinn seien die Gegensätze besonders groß, Armut und Aufbruch, sagt Riina Kabi, stehen sich hier gegenüber. Die estnische Gesellschaft könne nicht zaubern. Dennoch sei das Bewußtsein vieler Menschen für die Schwachen, für diejenigen, die ihr Dasein am Rande der Gesellschaft fristeten, viel zu klein:

    " Gegensätze gibt es natürlich überall. Doch sollten wir uns bemühen, diese Gegensätze nicht zu groß werden zu lassen. Je weniger Leute es gibt, die sich ausgestoßen fühlen, desto stärker ist unser Staat. Wir haben ein historisches Geschenk erhalten – nämlich ein unabhängiges, demokratisches Estland aufzubauen. Dabei sollten wir uns an den anderen europäischen Staaten orientieren, so dass auch sie uns als ein Teil von ihnen anerkennen. "