In den letzten Jahrzehnten sind aus den Reihen des Leipziger Thomanerchores einige hervorragende Vokalensembles erwachsen. Die mit Abstand erfolgreichsten unter ihnen sind ohne Zweifel das Calmus Ensemble und Amarcord – ersteres in einer gemischten Besetzung mit einer Sopranistin in der Oberstimme, das zweite in einer reinen Männerbesetzung.
Beide Formationen haben sich auf internationalem Parkett schon lange einen Namen gemacht, gingen dabei aber strikt getrennte Weg. Das änderte sich im Jahr 2017, als sie erstmals zusammen ein Konzert in der Leipziger Thomaskirche gaben. Dieses Gemeinschaftsprogramm mit bis zu zwölfstimmiger Renaissancemusik ist unter dem Titel "Leipziger Disputation" gerade beim Label Carus auf CD erschienen.
Musik: Antoine Brumel: Kyrie II aus: Missa "Et ecce terrae motus"
"Leipziger Disputation" – ist ein durchaus mehrdeutiger Titel. Zum einen treten hier zwei etablierte Leipziger Ensembles – in aller Freundschaft – zum musikalischen Disput an. Zum anderen geht es um ein bedeutendes historisches Ereignis.
Das Programm nimmt jenes akademische Streitgespräch in den Blick, zu dem sich die Theologen Johannes Eck aus Ingolstadt sowie sein Gegenspieler Martin Luther und dessen Doktorvater Andreas Bodenstein aus Wittenberg Ende Juni 1519 in Leipzig einfanden, also vor 500 Jahren.
Katholiken und Reformatoren streiten sich auf hohem Niveau
Dabei ging es – grob gesagt – um einen theologischen Schlagabtausch zwischen katholischen und reformatorischen Standpunkten, um die Autorität des Papstamtes und der Konzilien, um den Ablasshandel sowie um die Bedeutung der Bibel gegenüber anderen theologischen Schriften. Diese fast drei Wochen dauernde "Leipziger Disputation" führte letztlich zum Bruch Luthers mit der römisch-katholischen Kirche, förderte andererseits aber seiner Popularität.
Das Calmus Ensemble und Amarcord nehmen das musikalische Rahmenprogramm in den Blick, das das Ereignis in jenem Frühsommer in Leipzig begleitete. Welche Werke genau dabei erklangen, ist nicht überlieft. Aber vor allem der Festgottesdienst zur Eröffnung des Treffens war offensichtlich sehr klangprächtig gestaltet.
Ein Zeitgenosse berichtete fasziniert, dass Thomaskantor Georg Rhau bei der Gelegenheit eine zwölfstimmige Messe aufführte, was damals eine kleine Sensation war.
Eine Sensation: Zwölfstimmigkeit im Eröffnungsgottesdienst
Von wem diese Messe stammte, ist nicht überliefert. Es könnte sich aber um die Missa "Et Ecce terrae motus" von Antoine Brumel handeln, schon weil sie eines der wenigen so groß besetzten Werke ist, die wir aus dieser Zeit kennen. Calmus und Amarcord haben sie zum Herzstück ihres Programms gemacht.
Musik: Antoine Brumel: Sanctus aus: Missa "Et ecce terrae motus"
Die Missa "Et ecce terrae motus", die so genannte "Erdbebenmesse" von Antoine Brumel beruht auf dem gleichnamigen gregorianischen Gesang, der das Erdbeben beschreibt, als am Ostermorgen ein Engel erscheint und den Fels vom Grab Christi wegwälzt.
Aufgenommen haben Calmus Ensemble und Amarcord dieses eindrucksvolle Werk sozusagen am Originalschauplatz: in der Leipziger Thomaskirche. Für die Sängerinnen und Sänger ist das ein Heimspiel. Sie lassen sich also entspannt von der Akustik der Kirche tragen, die sich in der Aufnahme deutlich widerspiegelt.
Seit ihrer Gründung in den 1990er Jahren haben beide Ensembles das Publikum in einer Fülle an Konzerten und mit vielen CD-Produktionen in den Bann gezogen. Wohlklang wird dabei großgeschrieben und doch haben beide Gruppen ein individuelles Timbre: Calmus klingt ein wenig weicher, Amarcord kerniger.
Die Ensembles kennen das Repertoire der Renaissance
Gelingt es Ihnen aber, zu einem großen Ganzen zusammen zu finden? Die Antwort lautet eindeutig: "Ja!". Die Sängerinnen und Sänger fühlen sich hörbar im Repertoire der Renaissance zuhause. Die dichten Linien dieser Musik gestalten sie mit schlankem, rundem Ton. Dazu kommt eine differenzierte, präzise artikulierte, lebendige und intelligente Gestaltung. Das verleiht selbst der opulenten Brumel-Messe eine erstaunliche Transparenz, die man in älteren Aufnahmen mit großbesetzter Renaissancemusik oft vermisst. In den eher flotten Tempi kommt das gesprochene Wort gut zur Geltung – wenn das in der Renaissancemusik überhaupt eine nennenswerte Kategorie ist.
In ihrer Stammbesetzung sind sowohl das Calmus Ensemble als auch Amarcord fünfstimmig. Um also Brumels Zwölfstimmigkeit zu realisieren, haben sie als Gäste die beiden Sopranistinnen Anna Kellnhofer und Isabel Schicketanz eingeladen.
Die einzelnen Sätze der Missa "Et ecce terrae motus" sind in Werke eingebettet, die im Umfeld der Reformation eine Rolle spielten. Da darf natürlich Josquin Desprez nicht fehlen, den Martin Luther als den Meister der Noten verehrte. In diesen kleiner besetzten Werken kommt dann auch einmal jede Gruppe für sich zu Wort, das Calmus Ensemble zum Beispiel mit Josquins "De profundis", einer Motette über den 130. Psalm.
Musik: Josquin Desprez, De profundis
Dem Calmus Ensemble mit seiner lateinischen Motette des päpstlichen Sängers Josquin Desprez setzt Amarcord eine Motette des sächsischen Kantors Johann Walter entgegen. Dieser langjährige musikalische Verbündete von Martin Luther hat ebenfalls den 130. Psalm vertont – aber ganz im Sinne der Reformation, in deutscher Sprache.
Gelungene Gegenüberstellung verschiedener musikalischer Stile
Solche musikalischen Gegenüberstellungen von Komponisten und Konfessionen, aber auch der beiden Ensembles sind reizvoll und verleihen der CD tatsächlich ein wenig den Charakter einer Disputation.
Musik: Johann Walter, Aus tiefer Not
Neben Brumels Erdbebenmesse und Werken von Johann Walter und Josquin Desprez haben das Calmus Ensemble und Amarcord noch je eine Motette von Cipriano de Rore und eine von Thomas Stoltzer eingespielt, dazu einige gregorianische Gesänge. Die bilden mit ihrem homogenen Klangfluss, der ausschließlich von den Männerstimmen gestaltet wird, willkommene Ruhepunkte im Programm.
Insgesamt spielen die Sängerinnen und Sänger geschickt mit den unterschiedlichen Besetzungsmöglichkeiten, die sich durch ihren temporären Zusammenschluss auftun. So ist ein inhaltlich wie klanglich abwechslungsreiches Programm entstanden: mal vielstimmig, mal filigran, mal mit Frauen in den Oberstimmen, mal im reinen Männerklang.
Dass alle eingespielten Werke aber tatsächlich 1519 in Leipzig zu hören waren, ist eher unwahrscheinlich. Manches ist zumindest erst sehr viel später gedruckt worden. Das gilt auch für Johann Walters Motette "Beati immaculati in via", die 1544 bei der Einweihung der Schlosskapelle in Torgau erklang. Mit ihrer bemerkenswerten Motorik ist sie gleichwohl eines der Highlights auf dieser CD.
Das Calmus Ensemble hat das Werk 2016 schon einmal zusammen mit Instrumentalisten der Lautten Compagney Berlin unter Wolfgang Katschner aufgenommen. Hier ist es jetzt in einer a-cappella-Fassung zu hören, in der die reizvolle Mehrtextigkeit des Werks vielleicht noch besser zur Geltung kommt: Der Bass preist darin mit einem immer wiederkehrenden, glockenartigen Motiv die beiden Reformatoren Luther und Melanchton, die Altstimme singt ein Vivat auf Luthers großen Gönner, Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen. Und die übrigen Stimmen entfalten darüber einen ausgeklügelten Kanon über Verse aus Psalm 119.
Musik: Johann Walter, Beati immaculati in via / Vive Luthere
Leipziger Disputation
Antoine Brumel (1460-1520), Gombert, Desprez, Walter u.a.
Anna Kellnhofer, Isabel Schicketanz, Amarcord und Calmus Ensemble
Label: Carus
Antoine Brumel (1460-1520), Gombert, Desprez, Walter u.a.
Anna Kellnhofer, Isabel Schicketanz, Amarcord und Calmus Ensemble
Label: Carus