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Ambivalenzen eines scharfen Beobachters

Die grotesken Wendungen in Jean Pauls Romanen sind nicht nur Produkte einer überbordenden Fantasie und eines satirischen Temperaments, sondern auch der präzisen Beobachtung. Das zeigt Beatrix Langner in ihrer Biografie, die Leben und Werk des Schriftstellers in den Blick nimmt.

Von Joachim Büthe |
    Johann Paul Friedrich Richter, der sich Jean Paul nannte, ist die Schriftstellerexistenz wahrlich nicht an der Wiege gesungen worden. Geboren im Dörfchen Wunsiedel im bayrischen Vogtland als Sohn eines pietistischen Pfarrers hätte er eigentlich dessen Nachfolger werden sollen. Er ist eingezwängt in dieses Pfarrhaus, dessen Hof er nur selten verlassen durfte, einen "Häftling des Himmels" nennt Beatrix Langner den kleinen Jean Paul in ihrer Biografie. Davon scheint sich der ebenso produktive wie reiselustige Schriftsteller Jean Paul gründlich befreit zu haben und doch ist er sein Dorf nie losgeworden.

    Auch ein Gefängnis kann zum Zuhause werden, überglänzt von Erinnerung, nach dem man sich lebenslang zurücksehnt. In der Stallwärme der Joditzer Jahre werden stabile Verhaltensmuster der Ambivalenz angelegt, die Friedrich Richters Charakter lebenslang zwischen antagonistische Pole spannen: Anschauung und Einfühlung, Ordnung und Freiheit, Gemeinsinn und Individualismus. Und so malt sich der alternde Dichter vierzig Jahre später gern in warmen Sepiatönen sein "Joditzer Herbstidyll" und "Nest des Winters" aus, dem er seine "eigne Vorneigung zum Häuslichen, zum Stillleben, zum geistigen Nestmachen" verdanke.

    So hat man ihn sich lange zurechtgestutzt, eingedampft in Auswahlbände mit mundgerechten Happen, die den Lesern das Unverdauliche, das Aufrührerische in seinem Werk ersparten und unterschlugen. Eine der Maßnahmen, die bereits der Schüler Jean Paul ergreift, um sich dagegen zu wehren, dass man ihm die Welt vorenthält, ist die breitgefächerte Lektüre, vor allem das Exzerpieren dieser Lesefrüchte in Merkheften, die Übungen im Denken und Materialsammlungen zugleich sind. Diese Methode wird er beibehalten und aus diesem Fundus wird er zeitlebens schöpfen.

    Aus dem Mutterboden pietistischer Selbstbeobachtung wächst so mit den Jahren ein Erzählwerk, das mit größerem Recht ein Denkwerk genannt werden müsste. Seine Architektur folgt einem klaren Bauplan. Sein logischer Grundriss ist die Ordnung der Sprache. Syntax, Lexik, Grammatik sind die Wände und Decken dieses Denkraums, dem kein Gegenstand zu klein oder zu groß ist. In Erfindungsbüchern schreibt Friedrich Richter seiner überschießenden Phantasie Gesetze vor. Wörter werden in Wörterbüchern zu logischen Klassen geordnet. Aus Merkblättern, in Tage- und Reisebüchern, Kalendern und autobiographischen Notizbüchern verordnet er sich ab 1784 strenge Regeln für Ernährung, Gesundheit, Arbeits- und Schlafzeiten. Um 1812 tritt an ihre Stelle dann das Vita recti-Heft, eine Art lebensphilosophisches Kursbuch. Dagegen sind die Vita propria-Hefte der Jahre 1804 bis 1823 empirischer Rohstoff eines Seelenforschers in eigener Sache.

    Die fantastischen Wendungen in Jean Pauls Romanen sind nicht nur Produkte einer überschießenden Fantasie und eines humoristisch-satirischen Temperaments. Sie verdanken sich auch der präzisen Beobachtung der verworrenen politischen Verhältnisse, der Ver- und Bearbeitung zeitgenössischer philosophischer und literarischer Debatten. Wie dies alles in die jeweilige Romanarchitektur eingegangen ist, das beschreibt Beatrix Langner scharfsinnig und materialreich. Diese Biografie ist auch eine Werkbiografie. Wie sollte es anders sein bei einem, der sich seine Freiheit Wort für Wort erschrieben und der sich selbst in immer neuen Varianten als Figur in seine Romane eingeschrieben hat. Jean Paul gibt es nicht.

    Die höchste Lebenskunst liegt in der Möglichkeit, sich als empirisches Ich im Laufe seines Lebens immer wieder neu zu erfinden, mit Masken und Rollen zu spielen. In Jean Paul verkörpert sich demnach die "numerische Identität" der bürgerlichen Schriftstellerexistenz Friedrich Richter. Jean Paul ist insofern keine empirische Person, sondern die logische Idee eines Selbst unter der Bedingung unumschränkter Freiheit.

    Die reale Person Friedrich Richter hat es weit gebracht: nach beschwerlichen Anfängen bis zum Bestsellerautor, dem die Bewunderer zu Füßen liegen, besonders die weiblichen, gern auch solche von Adel. Die Häuslichkeit des Ehestandes hat er daher relativ spät erfahren und frei von Konflikten war sie nicht. Auch das gehört zu den so früh angelegten Verhaltensmustern der Ambivalenz. Dass der freiheitsliebende Jean Paul gelegentlich mit der Zensur zu kämpfen hatte, verwundert nicht, seine Nähe zu manchen Fürstenhöfen der deutschen Kleinstaaterei schon eher. Der scharfe Beobachter brauchte diese Nähe, um seiner Zeit den satirischen Zerrspiegel vorzuhalten, doch haben seine adeligen Leser sich nicht erkannt? Wollten sie sich nicht erkennen, geblendet von der Poesie? Was es mit ihr auf sich hat, das zeigt Beatrix Langner anhand der Prosaskizze "Was der Tod ist", gewidmet den letzten Gedanken eines Sterbenden.

    Es ist ein philosophisches Gedankenspiel, geboren aus dem Geist der Wissenschaft. Die Phantasie dringt in Regionen vor, aus denen noch nie ein Mensch zurückgekehrt ist. An den Rändern des Bewusstseins, im flackernden Erlöschen der physiologischen Gehirnfunktionen, spielen "Fantasiebilder" dem Sterbenden eine zweite Welt vor, eine gespenstisch verdichtete Wirklichkeit aus Farben und Tönen, "bis endlich hinter dem dicken Leichenschleier des Schlafes sich der Himmel nachäffende Traum mit einem zaubernden Kusse um ihn klammerte" und ein Engel erscheint. Doch dieser Engel der letzten Minute ist kein metaphysisches Wesen der christlichen Dämonologie, sondern ein literarischer Trick, ein Engel der Poesie.

    Diese Entdeckung der zweiten Welt, sie findet sich wieder im Untertitel dieser Biografie, ist eine gewaltige Aufmerksamkeitsverschiebung. Der Traum und das Unbewusste stehen erst viel später auf der Agenda von Schriftstellern und Wissenschaftlern. Jean Paul hat es bereits vorausgesehen.

    Was nach Kant jenseits der Grenzen der reinen Vernunft liegt, die jenseitige Welt, wird in das menschliche Gehirn selbst und dessen Projektionen verlegt und damit aus der Zuständigkeit der Philosophen, Astronomen und Metaphysiker in die von Medizinern, Psychologen und Dichtern.

    Einen Autor wie Jean Paul kann man nicht zuordnen, weder die Weimarer Klassik noch die romantische Schule konnte viel mit ihm anfangen. Das hat ihn lange dem Zentrum der Aufmerksamkeit entzogen. Beatrix Langner zitiert Georg Herwegh: "Hunderte von Kommentaren besitzen wir über Schiller und Goethe, auch nicht einen nur irgend erträglichen über Jean Paul." Inzwischen ließe sich eine Nebenlinie der Tradition ziehen, die von Jean Paul über Arno Schmidt bis in die Region des Henscheidischen reicht. Und der nun vorliegende Kommentar ist mehr als erträglich. Diese einfühlsame und genaue Biografie wird so schnell nicht zu übertreffen sein.

    Beatrix Langner: Jean Paul. Meister der zweiten Welt.
    Eine Biografie
    C.H. Beck Verlag, 608 Seiten, 27,95 Euro