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"América" an den Münchener Kammerspielen
Karikaturen des American Dream

In T.C. Boyles Roman "América" verändert ein Autounfall das Leben von Menschen, die bisher in sauber getrennten Welten lebten. Weiße Mittelschicht trifft auf Einwanderer. Regisseur Stefan Pucher hat den Roman in München inszeniert und zeigt Parallelen zur aktuellen Flüchtlingskrise.

Von Cornelie Ueding |
    Der US-Schriftsteller T.C. Boyle
    Der Regisseur Stefan Pucher hat T.C. Boyles "América" in München auf die Bühne gebracht. (imago/Horst Galuschka)
    Der Spielraum auf der Bühne ist schmal. Davor: Stufen, die geradewegs in den Zuschauerraum führen. Dahinter, bühnenbreit und –hoch: eine Doppelreihe von sechs riesigen quadratischen Schaukästen, die wechselnde Einblicke in immer wieder neu arrangierte Szenarien bieten. Ein Supermarkt, ein verkehrsreicher Highway, dazwischen ein Pfad in einen Canyon; ein Verletzter neben einem Riesenkaktus, ein ängstliches Mädchen; dann Projektionen oder Videos, die einzelne Aufnahmen in Bewegung setzen und auch die Nachgeschichte beleuchten. Ein Autounfall, verbeultes Blech, ein schwer verletzter Mensch. Überblendungen, schnelle Bildwechsel, manchmal Szenen, die schmerzhaft lange auf uns einwirken. Und immer wieder schiebt jemand riesige bunte Werbeflächen vor unliebsame Szenen: protzige Villen von außen und innen, Swimmingpool-Idylle mit aufgereihten Quietsche-Entchen.
    Dazu sachliche oder auch beschönigende Erzähler, Kommentatoren, die gespielte Szenen mit immer wieder veränderten Projektionen in Verbindung bringen. Eine sehr überzeugende Methode, T.C. Boyles vor 20 Jahren erschienenen Roman América in der von Stefan Pucher gerafften Form auf die Bühne zu bringen: Von einem Moment zum anderen verändert ein Autounfall das Leben von Menschen, die bisher in sauber getrennten Welten lebten. Der schwer verletzte illegale mexikanische Flüchtling Candido, der, abgerissen und struppenmähnig wie er ist, den braven Bürgern als Bedrohung erscheint. Und an dieser Auffassung ändert es nichts, dass seine Freundin América schwanger ist und beide unter unmenschlichen Bedingungen in selbstgebastelten Verschlägen hausen. Auf der anderen Seite der idealistische Naturschwärmer Delaney aus einer Wohnsiedlung in nobler Halbhöhenlage, dessen Frau, blond und tough, als Immobilienmaklerin über die Bühne stöckelt und auf ihre Art auch leidet.
    Abschottung gegen Eindringlinge
    Schließlich haben die in die Städte vordringenden Kojoten ihre Lieblingshunde auf dem Gewissen – und schnieke Häuser lassen sich immer schlechter verkaufen. Gegen Eindringlinge – und schon ist die Verbindung zwischen Kojoten und Immigranten hergestellt - gibt’s nur eins: Abschottung. Erst geht es nur um ein bewachtes Tor. Dann um Zäune. Schließlich um Mauern. Allesamt wirkungslos gegen Kojoten. Anlässlich von Grillabenden artikuliert sich die Stimme der Biedermänner als Meinung des Volkes: Jede Wohnanlage soll eine Festung werden. Auch Delany, der eigentlich dagegen ist, knickt immer wieder ein. Nein, es geht nicht ohne Klischees und das soll es auch nicht. Denn nicht nur diese personifizierten Karikaturen des American Dream sinnen auf Sicherheitszäune und Mauern. Unterstützt werden sie – heute mehr denn je - von Donald Trumps Wahlkampfreden.
    Es geht im weitesten Sinn um Übergriffe – das ist das Hauptthema von Stefan Puchers Romanverdichtung. Übergriffe auf die Menschen, auf die Natur, auf Freiheit, Selbstbestimmung und Kommunikationsformen. Dazu gehört Américas Vergewaltigung durch zwei brutale Schläger in Spiderman-artigen Kostümen: Immigranten als Frei-Wild. Eine bestürzende, gekonnt ballettartig überformte Gewaltszene.
    Aufführung verliert an Spannung
    Dazu gehört auch die gewaltsame Veränderung des Theaterraums. Pucher zeigt wie aus Worten Taten werden: Die meisten der am Mittelgang sitzenden Zuschauer müssen eiligst den Platz räumen, werden vertrieben, fliehen auf die Bühne. Sind gezwungen, sich in eine Art Lager zurückzuziehen und den Rest der Geschichte von dort aus zu verfolgen, während bei laufender Vorstellung ein massiver Sperrgürtel aus breiten Bohlen ins Parkett und damit zwischen die dort verbliebenen Besucher gerammt wird. Es mag Absicht sein, ist aber dennoch zu bedauern, dass die Aufführung damit zerfasert und an Spannung verliert. Es wird nur noch erzählt – zuweilen zeitgleich, gelegentlich abwechselnd nach hinten zur Bühne, dann wieder zum Zuschauerraum gerichtet: Nach einem – nur äußerlich befriedeten - Thanksgiving-Dinner kommt es zu einem Großbrand - natürlich ausgelöst von den Immigranten. Das Feuer vertreibt auch die Bürger aus ihrem angestammten Territorium und löst eine Schlammflut aus, die alles wegzuschwemmen droht. Die Überlebenden: vereinzelt, verstört. Das Baby - verloren. Die jungen Mexikaner – gerettet, von Delaney, dem verhinderten Naturschützer.
    Bleibt das Unbehagen an dem gefährlich biologistischen Bild einer Überflutung von Kojoten und Flüchtlingen, so als wären notleidende Menschen anpassungsfähige, aggressive Mutationen, die sich instinktgetrieben auf die Zivilisation stürzen und ihr das Genick brechen!