Als Bennet Omalu im Herbst 2002 erstmals den Leichnam jenes Mannes sah, der sein Leben komplett verändern sollte, wusste er noch nicht, um wen es sich da eigentlich auf seinem Untersuchungstisch handelt. Omalu stammt aus Nigeria, er hatte keine Ahnung von American Football und der Sport interessierte ihn auch acht Jahre nach seinem Umzug in die USA immer noch nicht. Der Gerichtsmediziner hatte nichts davon gehört, dass Mike Webster gestorben war, der Center der Pittsburgh Steelers und einer der bekanntesten Athleten der Stadt. Omalu war lediglich verwundert, warum so viele Journalisten vor seiner Arbeitsstelle warteten.
"Ich kam ins Büro und fragte, 'Was ist los?' Ein Kollege sagte mir, Mike Webster liegt auf dem Tisch. Ich meinte: 'Wer ist Mike Webster?' Und alle schauten mich an mit einem Blick: 'Wo kommt der denn her? Wer ist dieser Typ, der Mike Webster in Pittsburgh nicht kennt?"
Webster spielte 17 Jahre in der National Football League. Er war Center, also einer der Bodyguards des Quarterbacks. Mit den Steelers gewann Webster viermal den Super Bowl, er galt als einer der Härtesten Profis der Liga-Geschichte. Sein Spitzname: Iron Mike. In einem Video über ihn in der NFL Hall of fame heißt es, Webster sei der Innbegriff für Beständigkeit und Konstanz gewesen.
"Mike Webster, a four time Super Bowl champion, was the epitome of durability and consistency throughout his career. Webster started 177 consecutive games."
Es wird besonders hervorgehoben, dass Webster in 177 aufeinanderfolgenden Spielen auf dem Feld stand. Die Folgen von Websters vermeintlichen Heldentaten waren bereits zum Ende seiner Karriere hin sichtbar und vor allem, als er nach der Saison 1990 seine Laufbahn beendete. Er litt an Demenz, Depressionen und Gedächtnisschwund – wie unter anderem in diesem Interview deutlich wurde.
"I'm just saying ... the things we do to one another, ok? Ah, ... Hell, I don't know what I'm saying. I'm just tired and confused right now."
Webster war Medikamentenabhängig, hatte all sein Geld verloren, fand manchmal den Weg nach Hause nicht mehr, starb am 24. September 2002 im Alter von 50 Jahren – und wurde so ein Fall für Dr. Bennet Omalu. Seitens des Vereins wurde Herzversagen als Todesursache angegeben, Websters behandelnder Arzt hatte jedoch anhaltende Beschwerden nach Gehirnerschütterungen als mögliche Mitschuld am Tod in der Akte seines Patienten vermerkt.
Als Omalu anfing, Websters Schädeldecke zu öffnen, ging er davon aus, dass der Football-Star an Alzheimer litt. Dann erfuhr er jedoch, dass Webster erst 50 Jahre alt war – viel zu jung für Alzheimer – und auch seine Symptome passten nicht zu der Krankheit. Beim Anblick der Untersuchungsergebnisse von Websters Gehirn fiel Omalu etwas Außergewöhnliches aus.
"Ich habe Veränderungen gesehen, die nicht im Gehirn eines 50-Jährigen oder generell in keinem Gehirn sein sollten, das gesund aussieht. Da waren ungewöhnliche Eiweißablagerungen. Als ich mir das immer und immer wieder angeschaut habe, war ich überzeugt, dass dies etwas Besonderes ist."
Omalu war der Erste, der bei einem Football-Spieler nachweisen konnte, dass es einen Zusammenhang zwischen sich ständig wiederholenden Gehirnerschütterungen und neuralen Dysfunktionen im Gehirn gibt. Diese Krankheit war bis dato nur bei Boxern bekannt – als "Boxer-Syndrom". Omalu gab ihr einen neuen Namen: Chronisch traumatische Enzephalopathie, kurz CTE. Und er war guter Dinge, dass er in der Football-Industrie mit seiner Entdeckung Gehör finden würde. Doch das war, wie Omalu bald erfahren musste, ein naiver Gedanke.
"Einige meinten, ich würde die Amerikanische Lebensweise angreifen.'Was fällt dir ein? Ein Ausländer aus Nigeria. Wofür ist Nigeria bekannt? Nummer acht der bestechlichsten Länder der Welt. Was denkst du eigentlich, wer du bist? Hier herzukommen und uns zu sagen, wie wir unser Leben zu leben haben'"
Die NFL ging in die Offensive. Liga-Ärzte bezichtigten Omalu der Lüge, verlangten, dass er seine Veröffentlichungen widerrufen solle. Und sie behaupteten gar, Omalu praktiziere keine Medizin, sondern Voodoo. In den Folgejahren landeten weitere verstorbene NFL-Profis aus Omalus Tisch. Sie alle wiesen ähnliche Symptome auf wie Mike Webster – bei allen fand Omalu CTE.
So sehr die Liga lange Zeit auch versucht hat, das Thema klein zu reden, mittlerweile wird immer offener darüber gesprochen. Vor einigen Jahren reichten mehr als 5000 ehemalige Spieler eine Gemeinschaftsklage ein, in der sie die NFL beschuldigten, absichtlich die Gefahr von Gehirnerschütterungen verschwiegen zu haben. Im April einigte sich die Liga mit den Klägern auf eine Zahlung von bis zu fünf Millionen Dollar pro Person.
CTE und Gehirnerschütterungen sind auch bei den Spielern durchaus ein Gesprächsthema, wie Markus Kuhn von den New York Giants gegenüber dem Deutschlandfunk betont. Allerdings ändere das Wissen über mögliche Folgen nichts an der Einstellung zum Sport.
"Der Kopf ist das Wichtigste natürlich, was man hat. Und auf den muss man natürlich aufpassen. Aber, ich mein, ein Boxer fragt auch nicht, 'wie geht's mir jetzt, wenn ich 50, 60 Jahre alt bin?'. Und ich glaube, das sind einfach Risiken, die wir, die wir auf uns nehmen und dem ist sich jeder bewusst. Wenn ich jetzt zum Beispiel sage, 'och, ok, mir tut die Birne etwas weh, und ich verpasse zwei Wochen das Training, dann bin ich vielleicht weg vom Fenster.'"
Omalu, der im Film "Concussion" von Will Smith gespielt wird, ist mittlerweile ein anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin. Allerdings würde er die Zeit gerne zurückdrehen.