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Amerika, du hast es besser!

Die Vereinigten Staaten waren im 19. Jahrhundert das Einwanderungsland schlechthin: Allein zwischen 1800 und 1900 bauten sich 44 Millionen Europäer zwischen New York und Los Angeles ein neues Leben auf. Ein großer Teil der neuen Amerikaner kam aus Deutschland. Die Geschichte der vielen deutschen Emigranten erzählt nun Simone Eick.

Von Niels Beintker |
    Im Frühsommer des Jahres 1709 erfanden Londoner Bürger eine eigenwillige reizeitbeschäftigung: Deutsche angucken. Es gab mehr als genug davon, insgesamt 13tausend. Sie lebten größtenteils in fünf Zeltlagern außerhalb der City, zusammengepfercht auf engstem Raum, ohne jegliche Privatsphäre und unter erbärmlichen hygienischen Verhältnissen.

    Diese provisorischen Flüchtlingslager entwickelten sich aber nicht nur zu einem beliebten Ziel der Sonntagsspaziergänger. Sondern auch zu Orten des Aufruhrs. Einmal stürmten mehr als zweitausend Arme die Zeltstädte, erzählt die Historikerin Simone Eick in ihrem Buch über die deutschen Auswanderer. Ein verzweifelter Ausbruch von Gewalt. Dabei warteten die Deutschen nur auf die Fortsetzung einer langen Reise und das Ende aller Ungewissheit.

    "Es kamen über mehrere Monate Tausende Menschen mit Dutzenden Schiffen von Rotterdam. Es waren Deutsche, vor allem aus Süddeutschland, die den Rhein hoch gereist waren, schon Wochen in Rotterdam campiert hatten und die nach London kamen und von der Königin forderten: Wo ist denn jetzt unsere Passage in die neue Welt? Und das löste großes Erstaunen aus. Denn niemand wusste etwas von solchen Versprechungen."

    Die aber glaubten die vielen deutschen Emigranten im Buch eines angehenden Pfarrers aus dem badischen Eschelbronn gelesen zu haben: dem "ausführlich- und umständlichen Bericht von der berühmten Landschaft Carolina in dem Engeländischen Amerika". Die vielen Konjunktive in der Reiseerzählung des Gottesmannes überlasen die vom Fernweh getriebenen Deutschen geflissentlich und glaubten lieber an die Macht der Gerüchte. Ihr Traum ging schließlich in Erfüllung. Der größte Teil der Deutschen reiste tatsächlich mit dem Schiff in die britischen Kolonien, zunächst nach New York. Das humanitäre Chaos aber setzte sich fort: Die Einwanderer waren völlig unvorbereitet auf das Leben in der Wildnis, hatten nicht einmal Arbeitsgeräte für die Landwirtschaft. Die Deutschen fühlten sich eher in die Steinzeit zurückversetzt als in die neue Welt.

    "Man versuchte, mit Ästen und Steinen den Boden zu bearbeiten, um eine erste Ernte einzufahren. Und das Problem war, dass die Deutschen ihre Schulden zurückbezahlen sollten, die sie ja angehäuft hatten, für diese Überfahrt. Die Überfahrt von London war keineswegs so kostenfrei gewesen, wie sich das manche erträumt hatten. Sondern das wurde als Kredit angesehen von den Briten, der dann abgearbeitet werden sollte mit der Harzgewinnung, die dann aber gar nicht zustande kam. Insofern war das eine sehr schwierige Lage vor Ort für diese Deutschen."

    Zum Zeitpunkt dieser großen Massenauswanderung gab es längst eine deutsche Siedlung in der neuen Welt: Germantown in Pennsylvania, heute ein Stadtteil von Philadelphia. Franz Daniel Pastorius, ein Frankfurter Jurist und Pietist, hatte das bescheidene Dorf im Jahr 1683 gegründet. Dieses Ereignis steht denn auch am Anfang von Simone Eicks chronologisch und anekdotenreich erzählter Geschichte der deutschen Auswanderungsbewegungen in drei Jahrhunderten. Die Direktorin des Deutschen Auswanderhauses in Bremerhaven erwähnt, dass vor allem die Sehnsucht nach religiöser Toleranz die ersten Deutschen über den Atlantik trieb. Eine wichtige Rolle dabei spielte William Penn, der Gründervater und Namensgeber der späteren Kolonie.

    "Der Brite, vom Glauben ein Quäker, hatte den Traum, in Amerika eine Gemeinschaft zu gründen, die Glaubensfreiheit garantierte und die auch erste demokratische Strukturen tragen sollte. Und er war mit dieser Idee durch Deutschland gereist, Ende der 1670er-Jahre, und ist auch in Frankfurt gewesen und den umliegenden Gebieten und hat für seine Idee geworben. Und er ist auf offene Ohren gestoßen bei den Frankfurter Pietisten, die sagten, das wäre eine Möglichkeit, unseren Glauben endlich frei zu leben."

    Die Idee einer freien Welt wurde, auch das zeigt Simone Eick, vor allem zu Lasten der amerikanischen Ureinwohner verwirklicht. Sie waren die eigentlichen Leidtragenden der deutschen wie überhaupt der europäischen Emigration, starben bei gewaltsamen Konflikten und mehr noch an Krankheiten, die die Siedler aus Europa mitbrachten. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg – eine große Zäsur in der Geschichte der modernen Welt – wurde auch zu einem wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der Auswanderung. Mit der Loslösung vom englischen Mutterland standen die USA prinzipiell allen Menschen offen und wurden immer mehr zum wichtigsten Einwanderungsland für die Deutschen. Vor allem in den großen Agrar- und Wirtschaftskrisen des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Emigranten sprunghaft an, so etwa in den Jahren nach 1840 und 1870. Exemplarisch schildert Simone Eick in ihrem Buch das Schicksal der Familie von Christoph und Louise Winkelhake. Sie lebte in der Nähe des Steinhuder Meers, in der Grafschaft Schaumburg-Lippe, betrieb eine kleine Landwirtschaft und war in der Leinenweberei tätig.

    "Die Leinenweberei war, das war absehbar, durch die Maschinenproduktion aus Großbritannien, ein absterbender Berufszweig. Und das war auch Menschen wie den Winkelhakes klar. Und gerade in Reinsdorf, einem winzigen kleinen Dorf – 300 Leute haben dort gewohnt – man war dann abhängig von Tagelöhnerarbeiten auf den größeren Gütern. Und eigentlich war man besseres gewohnt. Denn die Eltern waren aufgewachsen in einer Zeit, in der es Schaumburg wirklich gut ging. Die Leinenweberei hatte eine große Blüte."

    Die bald ein für alle mal vorüber war. Also ließen Christoph und Louise Winkelhake alles hinter sich und brachen 1845 mit ihren Kindern von Bremerhaven auf in die neue Welt, in Richtung Illinois. Am 15. Januar des folgenden Jahres kaufte der deutsche Auswanderer, nun unter dem Namen Christoph Winkelhook, 16 Hektar Land von der amerikanischen Regierung. Er wurde Farmer, baute Mais und Weizen an, züchtete Milchkühe und vergrößerte seinen Landbesitz immer mehr. Eine Erfolgsgeschichte, eine von vielen Millionen.

    Simone Eick hat einige von ihnen ausgewählt und kann damit an individuellen Schicksalen deutlich machen, was die Deutschen nach Amerika trieb und welche Möglichkeiten sich für die Wanderer in die neue Welt boten. Ihr Buch über die deutschen Migranten ist dennoch eher überblickend-enzyklopädisch geschrieben und erinnert mit vielen Abbildungen und Quellenauszügen an einen Begleitband für die Dauerausstellung im Deutschen Auswandererhaus. Das neue Standardwerk, wie vom Verlag vollmundig angekündigt, ist diese kurzweilig zu lesende Geschichte der deutschen Auswanderungsbewegungen allerdings nicht. Dazu fehlt es vor allem an analytischer Schärfe und Systematik, ganz zu schweigen vom Raum für eine breite, quellengestützte Darstellung einer mehr als 300 Jahre währenden Geschichte.

    Simone Blaschka-Eick: In die Neue Welt! Deutsche Auswanderer in drei Jahrhunderten.
    Rowohlt Verlag, 224 Seiten, Euro 24,95
    ISBN: 978-3-498-01673-9