1947 dauerte ein Flug von Paris nach New York noch etwa 20 Stunden. Im Januar 1947 trat auch Simone de Beauvoir endlich ihre Reise in die Neue Welt an. Sie sollte vier Monate lang kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten touren, um an allen möglichen Universitäten und Kulturinstituten Vorträge zu halten. Die Schriftstellerin ist gerade 39 Jahre alt geworden, hat einiges von der Welt gesehen und versteht überhaupt ihr Leben als ein Abenteuer, doch jetzt ist sie aufgeregt wie ein Backfisch. New York besetzt einen magischen Platz auf ihrer inneren Weltkarte.
Bereits im Landeanflug auf den Flughafen La Guardia, der ganz nahe an Manhattan liegt, ist sie geblendet von der Verheißung der Lichter. Und sie gibt sich dem Glanz hin, lässt sich mit Haut und Haaren auf die Erfahrung des Neuen ein. Sie führt ein Tagebuch, aus dem später das Buch: Amerika – Tag und Nacht entstehen wird, das 1948 erscheint und übrigens bis heute auf Deutsch erhältlich ist. Daraus hat Susanne Nadolny die Passagen ausgewählt, die ausschließlich von New York handeln und mit den großartigen Fotografien von Andreas Feininger illustriert.
Simone de Beauvoir lässt uns an ihren ganz alltäglichen Erfahrungen teilhaben, wie sie durch die Straßenschluchten von Manhattan trabt, die Auslagen der 5th Avenue anschaut, im Drugstore einkauft, ins Kino geht, Bekannte trifft oder sich in Szenekneipen tummelt. Schritt für Schritt, Tag und Nacht erschließt sie sich die Stadt. Überwältigt von der Kulisse, fragt sie sich, was dahinter stecken mag:
"In Wirklichkeit ist alles Fest für mich. Die drugstores zum Beispiel faszinieren mich: Jeder Vorwand ist mir recht, um hineinzugehen. Sie sind für mich die ganze amerikanische Exotik. ( ... ) In Wahrheit sind sie die Nachfahren der alten Basare der Kolonialstädte und Niederlassungen des Far West, wo die Pioniere vergangener Jahrhunderte Arzneien, Lebensmittel, Handwerkszeug und alles zum Leben Notwendige vorfanden. Sie sind gleichzeitig primitiv und modern, was ihnen jene spezifische amerikanische Poesie verleiht. Alle Gegenstände haben eine gewisse Familienähnlichkeit: den gleichen billigen Glanz, die gleiche bescheidene Heiterkeit. Die Bücher mit den Einbänden aus Cellophan, die Zahnpastatuben, die Bonbonschachteln – sie sind alle von der gleichen Farbe: Man hat den vagen Eindruck, dass die Lektüre nach Zucker schmecken wird und dass die Bonbons Geschichten erzählen werden."
Nicht erst, wenn sie allein durch Harlem streift, entdeckt sie den barbarischen Rassismus. Mit Schrecken erlebt sie, wie in Greenwich Village Schwarze nur als Musiker Zutritt zu den Bars haben. Ihr graut vor dem offenen Antisemitismus, dem sie selbst im Bekanntenkreis begegnet. Und die trainierte Freundlichkeit der Amerikaner nervt gelegentlich – bis sie dünkelhafte Franzosen trifft, die stets ihre zivilisatorische Überlegenheit zu verstehen geben.
1947 schwärmen nicht wenige Amerikaner vom nächsten großen Waffengang – diesmal gegen den Kommunismus. Und in jenen Jahren beginnt die große Hexenjagd gegen Linke, Künstler und Schwule. Die Tribunale des Senators McCarthy wüten gegen das große amerikanische Versprechen: die Freiheit. Zu dieser Zeit versuchen Simone de Beauvoir und ihr Lebensgefährte Jean-Paul Sartre in Frankreich, einen dritten Weg – jenseits der Blockkonfrontation - zu bahnen und werden dafür in Ost und West gleichermaßen gehasst. Umso erstaunlicher, dass die französische Schriftstellerin von Anfang an auf alle gängigen Systemzuschreibungen verzichtet. Sie wirft sich einfach mit Leib und Seele und viel Verstand in den Tumult dieser schwer entzifferbaren Welt: New York.
"Paris hat seine Hegemonie verloren. Ich bin nicht nur in einer anderen Welt gelandet, in einer selbstständigen, abgesonderten Welt; ich berühre diese Welt – sie ist da. ( ... ) Sie existiert in einer so blendenden Evidenz, dass es mir nicht in den Sinn kommt, sie in meine Netze zu verstricken – es wird eine Offenbarung sein, die ihre Vollendung jenseits der Grenzen meiner eigenen Existenz finden wird. Mit einem Schlag bin ich befreit von der Sorge um jenes monotone Unternehmen, das ich mein Leben nenne. Ich bin nur noch das bezauberte Bewusstsein, durch welches hindurch das souveräne Objekt sich entschleiern wird."
Warum sollte man dieses über 60 Jahre alte Reisetagebuch heute noch lesen? Das New York, von dem Simone de Beauvoir erzählt, gibt es heute nicht mehr. Doch allein das lohnt der Lektüre: die Erinnerung an ein Manhattan, bevor es sich zum Schaufenster seiner selbst trivialisiert hat.
Wer sich für die Simone de Beauvoir interessiert, kann hier ein Buch wiederentdecken, das vielleicht in den 60er-Jahren nebensächlich erschien – neben ihren berühmten autobiografischen Texten, ihren Romanen und natürlich ihrer Studie über Das andere Geschlecht. Doch heute werden sie und Sartre in Frankreich als eine Art kultureller Unfall gehandelt. Kein Wunder in einem Land, in dem Intellektuelle wie Bernhard-Henri Lévy ihrem wirren Präsidenten als Souffleure dienen. Lange her, dass Frankreich als Republik des Geistes auftreten konnte – das waren eben die Zeiten einer de Beauvoir, eines Sartre. Dieser Auszug aus den Reisetagebüchern erinnert daran, was diesen Ruhm einst begründete – und was uns seitdem fehlt.
Es ist das hellwache Bewusstsein und die mitreißende Art, mit der de Beauvoir sich der Komplexität einer Gegenwart aussetzt, um sie sich anzueignen. Sie bringt keine Theorie mit, die sie über New York stülpen könnte. Sie gibt sich ihren verwirrenden Beobachtungen hin und entfaltet dabei eine Kunst des Sehens. Die Realität liest man nicht wie eine Gebrauchsanweisung. Sie enthüllt sich erst durch den Gebrauch. Und New York ist wie geschaffen, um zu verstehen, dass Realitäten nicht ordentlich sind und logisch schon gar nicht. Simone de Beauvoir ist betört von der Offenheit und Großzügigkeit der New Yorker und verschließt doch die Augen nicht vor dem alltäglichen Rassismus. Sie bewundert den amerikanischen Glauben an die Freiheit und erlebt zugleich den dramatisch steigenden Druck staatlicher Repression. In New York liegen das Leuchten der Moderne und die Apokalypse dicht beieinander. Es wäre leicht, das eine gegen das andere auszuspielen. Simone de Beauvoir wagt einen Blick auf das ganze Panorama. Sie entdeckt in New York das Labor der Moderne, in dem Probleme und ihre Lösungen gezüchtet werden. Unverhohlen gesteht sie dabei, vom amerikanischen Optimismus infiziert zu sein. Andererseits ist ihr vollkommen klar: Wie und ob die Vereinigten Staaten ihre Probleme lösen werden, wird für den Rest der Welt von entscheidender Bedeutung sein. Das durften wir in den letzten sechzig Jahren erleben.
Simone de Beauvoir: New York - mon amour. Reisetagebuch. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Susanne Nadolny. Mit Fotos von Andreas Feininger. Editions Ebersbach. Berlin 2011. 19,80 Euro.
Bereits im Landeanflug auf den Flughafen La Guardia, der ganz nahe an Manhattan liegt, ist sie geblendet von der Verheißung der Lichter. Und sie gibt sich dem Glanz hin, lässt sich mit Haut und Haaren auf die Erfahrung des Neuen ein. Sie führt ein Tagebuch, aus dem später das Buch: Amerika – Tag und Nacht entstehen wird, das 1948 erscheint und übrigens bis heute auf Deutsch erhältlich ist. Daraus hat Susanne Nadolny die Passagen ausgewählt, die ausschließlich von New York handeln und mit den großartigen Fotografien von Andreas Feininger illustriert.
Simone de Beauvoir lässt uns an ihren ganz alltäglichen Erfahrungen teilhaben, wie sie durch die Straßenschluchten von Manhattan trabt, die Auslagen der 5th Avenue anschaut, im Drugstore einkauft, ins Kino geht, Bekannte trifft oder sich in Szenekneipen tummelt. Schritt für Schritt, Tag und Nacht erschließt sie sich die Stadt. Überwältigt von der Kulisse, fragt sie sich, was dahinter stecken mag:
"In Wirklichkeit ist alles Fest für mich. Die drugstores zum Beispiel faszinieren mich: Jeder Vorwand ist mir recht, um hineinzugehen. Sie sind für mich die ganze amerikanische Exotik. ( ... ) In Wahrheit sind sie die Nachfahren der alten Basare der Kolonialstädte und Niederlassungen des Far West, wo die Pioniere vergangener Jahrhunderte Arzneien, Lebensmittel, Handwerkszeug und alles zum Leben Notwendige vorfanden. Sie sind gleichzeitig primitiv und modern, was ihnen jene spezifische amerikanische Poesie verleiht. Alle Gegenstände haben eine gewisse Familienähnlichkeit: den gleichen billigen Glanz, die gleiche bescheidene Heiterkeit. Die Bücher mit den Einbänden aus Cellophan, die Zahnpastatuben, die Bonbonschachteln – sie sind alle von der gleichen Farbe: Man hat den vagen Eindruck, dass die Lektüre nach Zucker schmecken wird und dass die Bonbons Geschichten erzählen werden."
Nicht erst, wenn sie allein durch Harlem streift, entdeckt sie den barbarischen Rassismus. Mit Schrecken erlebt sie, wie in Greenwich Village Schwarze nur als Musiker Zutritt zu den Bars haben. Ihr graut vor dem offenen Antisemitismus, dem sie selbst im Bekanntenkreis begegnet. Und die trainierte Freundlichkeit der Amerikaner nervt gelegentlich – bis sie dünkelhafte Franzosen trifft, die stets ihre zivilisatorische Überlegenheit zu verstehen geben.
1947 schwärmen nicht wenige Amerikaner vom nächsten großen Waffengang – diesmal gegen den Kommunismus. Und in jenen Jahren beginnt die große Hexenjagd gegen Linke, Künstler und Schwule. Die Tribunale des Senators McCarthy wüten gegen das große amerikanische Versprechen: die Freiheit. Zu dieser Zeit versuchen Simone de Beauvoir und ihr Lebensgefährte Jean-Paul Sartre in Frankreich, einen dritten Weg – jenseits der Blockkonfrontation - zu bahnen und werden dafür in Ost und West gleichermaßen gehasst. Umso erstaunlicher, dass die französische Schriftstellerin von Anfang an auf alle gängigen Systemzuschreibungen verzichtet. Sie wirft sich einfach mit Leib und Seele und viel Verstand in den Tumult dieser schwer entzifferbaren Welt: New York.
"Paris hat seine Hegemonie verloren. Ich bin nicht nur in einer anderen Welt gelandet, in einer selbstständigen, abgesonderten Welt; ich berühre diese Welt – sie ist da. ( ... ) Sie existiert in einer so blendenden Evidenz, dass es mir nicht in den Sinn kommt, sie in meine Netze zu verstricken – es wird eine Offenbarung sein, die ihre Vollendung jenseits der Grenzen meiner eigenen Existenz finden wird. Mit einem Schlag bin ich befreit von der Sorge um jenes monotone Unternehmen, das ich mein Leben nenne. Ich bin nur noch das bezauberte Bewusstsein, durch welches hindurch das souveräne Objekt sich entschleiern wird."
Warum sollte man dieses über 60 Jahre alte Reisetagebuch heute noch lesen? Das New York, von dem Simone de Beauvoir erzählt, gibt es heute nicht mehr. Doch allein das lohnt der Lektüre: die Erinnerung an ein Manhattan, bevor es sich zum Schaufenster seiner selbst trivialisiert hat.
Wer sich für die Simone de Beauvoir interessiert, kann hier ein Buch wiederentdecken, das vielleicht in den 60er-Jahren nebensächlich erschien – neben ihren berühmten autobiografischen Texten, ihren Romanen und natürlich ihrer Studie über Das andere Geschlecht. Doch heute werden sie und Sartre in Frankreich als eine Art kultureller Unfall gehandelt. Kein Wunder in einem Land, in dem Intellektuelle wie Bernhard-Henri Lévy ihrem wirren Präsidenten als Souffleure dienen. Lange her, dass Frankreich als Republik des Geistes auftreten konnte – das waren eben die Zeiten einer de Beauvoir, eines Sartre. Dieser Auszug aus den Reisetagebüchern erinnert daran, was diesen Ruhm einst begründete – und was uns seitdem fehlt.
Es ist das hellwache Bewusstsein und die mitreißende Art, mit der de Beauvoir sich der Komplexität einer Gegenwart aussetzt, um sie sich anzueignen. Sie bringt keine Theorie mit, die sie über New York stülpen könnte. Sie gibt sich ihren verwirrenden Beobachtungen hin und entfaltet dabei eine Kunst des Sehens. Die Realität liest man nicht wie eine Gebrauchsanweisung. Sie enthüllt sich erst durch den Gebrauch. Und New York ist wie geschaffen, um zu verstehen, dass Realitäten nicht ordentlich sind und logisch schon gar nicht. Simone de Beauvoir ist betört von der Offenheit und Großzügigkeit der New Yorker und verschließt doch die Augen nicht vor dem alltäglichen Rassismus. Sie bewundert den amerikanischen Glauben an die Freiheit und erlebt zugleich den dramatisch steigenden Druck staatlicher Repression. In New York liegen das Leuchten der Moderne und die Apokalypse dicht beieinander. Es wäre leicht, das eine gegen das andere auszuspielen. Simone de Beauvoir wagt einen Blick auf das ganze Panorama. Sie entdeckt in New York das Labor der Moderne, in dem Probleme und ihre Lösungen gezüchtet werden. Unverhohlen gesteht sie dabei, vom amerikanischen Optimismus infiziert zu sein. Andererseits ist ihr vollkommen klar: Wie und ob die Vereinigten Staaten ihre Probleme lösen werden, wird für den Rest der Welt von entscheidender Bedeutung sein. Das durften wir in den letzten sechzig Jahren erleben.
Simone de Beauvoir: New York - mon amour. Reisetagebuch. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Susanne Nadolny. Mit Fotos von Andreas Feininger. Editions Ebersbach. Berlin 2011. 19,80 Euro.